Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Wie man die Krise in der WG überlebt

Die Steigerung von Kontaktbeschränkung lautet Studenten-WG. Gerade in der Corona-Krise treibt die kollektive Isolation junger Menschen sonderbare Verhaltensweisen hervor. Eine Dokumentation.

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Wenigstens an Toilettenpapier mangelt es nicht.

Die ganze Stadt ist stiller als sonst, die Straßen sind leer gefegt, die Cafés haben geschlossen, die Stimmung ist angespannt. Einige Supermärkte limitieren die Anzahl der Besucher. Man könnte meinen, es habe eine Apokalypse stattgefunden und ausgerechnet Supermarktketten und Lieferservices hätten diese absurderweise überstanden.

Covid-19 hat uns zu Hause eingesperrt, unsre Welt geschrumpft auf vier öde Wände. Auf einmal sind wir wie aus dem Leben gefallen und mit unseren Gedanken allein. Oder noch schlimmer – mit unseren Mitbewohnern.

Inmitten der vielen guten Ratschläge von Zimmernachbarn in der Küche drängt sich eine unangenehme Frage auf: Wie überlebt man die Isolation, ohne seine Mitbewohner zu erwürgen?

Dies ist ein Erfahrungsbericht, der absolut niemandem bei dieser Frage helfen wird, aber vielleicht wenigstens zur Rekonstruktion der Ereignisse beiträgt, wenn man selbst irgendwo erwürgt aufgefunden wird.

Alle sozialen Interaktionen sind mit einem Sicherheitsabstand von mindestens 1,5 Metern geschehen und darüber hinaus völlig frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit echten Personen und Begebenheiten sind selbstverständlich reiner Zufall und haben rein gar nichts damit zu tun, dass hier nie jemand seinen Abwasch macht, auch dann nicht, wenn der Schimmel bereits anfängt, namentlich nach dem Wohlbefinden meiner Großmutter zu fragen. (Oder war das doch mein Mitbewohner?)

Tag 1 in der Isolation: allgemeine Ratlosigkeit.

Es ist ungefähr neun Uhr morgens. Nichts geschieht, da sowohl ich als auch meine Mitbewohner schlafen. Eine bewusst uneindeutig gelassene Zeit später stehe ich auf. Einer meiner Mitbewohner hat gerade angefangen, zu duschen, der andere kocht Frühstück. Alle Löffel sind dreckig. Er rührt mit einer ungekochten Makkaroni in seinem Kaffee. „Draußen scheint mir schon jetzt wie ein trüber Traum von gestern“, seufze ich in meine Tasse. „Ach was“, antwortet mein Mitbewohner, „da ist nur Dreck am Fenster.“ Meine feine Melancholie kann seinem Pragmatismus nicht standhalten. Mit einem Seufzen, tiefer als der Marianengraben, stelle ich meine dreckige Tasse zu den anderen. Man darf nicht mehr raus, um auf den menschenleeren Straßen herumzulungern. Das war unser einziges Hobby.

Ob vor dem PC oder in der Küche – die Tristesse hat sich schon jetzt breitgemacht. Da hat man zehn Minuten lang keine andere Wahl, als vorm Computer zu hängen, und schon hat man exakt darauf keine Lust mehr. Wie viel durch Klopapier gefilterten Tee muss man trinken, damit die Langeweile darin ersäuft? Was, wenn man den Tee durch Wodka ersetzt? Meine Mitbewohner scheinen genauso ratlos wie ich. Einer duscht zur Sicherheit zum zweiten Mal, soll ja zum Schluss keiner behaupten können, er habe in der Isolation gestunken. Der andere spielt fortlaufend ein und denselben Akkord auf seiner Gitarre und das schon seit einer ganzen Weile: Schon vier Makkaroni sind in meiner Teetasse weich geworden.

Tag 2 in der Isolation: One may smile, and smile, and be a villain

Ich stehe auf und gehe in die Küche. Die Uhr lügt durch ihre bloße Existenz. Einer meiner Mitbewohner kocht Frühstück, der andere duscht. Ich lege mich auf das dort befindliche Chaiselongue aus Klopapier und seufze. „Was tun, wenn die Isolation die Stunden am Vergehen zu hindern scheint?“, frage ich und lege mir in einer dramatischen Geste die Hand über die Augen. „Wohin mit sich selbst, wenn man sich an allen Plätzen und in allen Winkeln der Wohnung bereits bis zum Exzess gelangweilt hat, wenn die Wohnung schon vom Echo des eigenen Gejammers summt?“, klagt mein Mitbewohner zurück und nimmt auf einer Chaise aus Nudelpackungen die Pose des Denkers ein. Man könnte zum Fenster rausjammern. Oder man greift zum Äußersten.

Wir putzen gegen Trübsinn an, bis die Dunkelheit den Schmutz vor dem hungrigen Mopp versteckt. Der Küchentisch ist jetzt matt und etwas heller, könnte sein, dass wir die Politur runtergescheuert haben. Das Bad riecht jetzt nach hoch konzentriertem Chlor, könnte sein, dass es da gebrannt hat. Mein Mitbewohner hat jetzt Angst vor mir, könnte sein, dass ich gebissen habe, als ich das Bad zum Putzen annektierte. Das Küchenfenster ist sauber, Draußen ist jetzt HD.

Nach der erfolgreichen Putzaktion sitzen wir gemeinsam in der Wohnung und ignorieren angestrengt, dass wir diese nicht verlassen können. Es tut gut, dass die Witze auch jetzt noch funktionieren, trotz der Isolation. Ich tupfe meine heißgelachten Wangen mit einer Lasagneplatte. Unser Frohsinn versickert langsam in den Winkeln unserer kleinen Küche, als meinem Mitbewohner in der entstehenden Stille ein seltsames Geräusch entweicht. Er presst angestrengt seine Lippen zusammen, seine Augen scheinen aus seinem Schädel hervorzutreten und dann passiert es: Er hustet.

Tag 3 in der Isolation: weit und breit keine Regenbögen

Ich stehe auf. Mein Mitbewohner duscht. Ich trete durch den neuen Vorhang aus geflochtenem Klopapier in die Küche, als es plötzlich klingelt. Ein Überlebenszeichen der Außenwelt, vor Schreck geht im Badezimmer die Dusche aus. Doch als ich die Tür öffne, kommt mir keine Taube mit Olivenzweig entgegen, da steht nur ein Paketzulieferer, der mindestens zwei Meter Abstand hält. „Hast du dir was von Amazon bestellt?“, frage ich abschätzig. „Nein, muss für jemand anderen sein.“, antwortet es aus der Mülltonne neben mir. „Seit ich hier wohne, habe ich irdischen Besitztümern entsagt und bin frei.“ Große Worte für einen Mülltonnenbewohner. Mein ehemaliger Zimmernachbar öffnet den Deckel seiner Tonne einen Spalt breit, um mir einen alten Becher aus Blech an den Kopf zu werfen. Den Rest des Tages bringe ich damit zu, das neue Gerüst für Klimmzüge meines Mitbewohners mittels einiger Fusilli an die Wand zu schrauben.

Mindestens Tag 100 in der Isolation: Wer bin ich, und wenn ja, warum?

Ich stehe auf. Einer meiner Mitbewohner macht Klimmzüge in der Dusche. Mein anderer Mitbewohner bellt aus seiner Mülltonne heraus vorbeilaufende Jogger an. Ich kämme mir mit einigen Spaghetti gedankenverloren das Haar. Wie lange es wohl dauern wird, bis auch ich die Kontrolle verliere? Wie lange sind wir alle isoliert, obwohl draußen der Frühling lockt. Die Antwort weiß niemand so genau. Bis dahin heißt es, solidarisch sein und drinnen bleiben, damit draußen, in der Welt, nach der wir uns so sehnen, die Kurve der Infektionen klein bleibt. Damit wir uns alle unversehrt wiedersehen.

Bis dahin ein Gruß von unserer Festung aus Klopapier an alle anderen Wohngemeinschaften. Bleibt stark, haltet zusammen und ruft regelmäßig eure Freunde an, die alleine wohnen. Außerdem: Hat jemand Lagerfeuergeschichten fürs Bad oder Gesellschaftsspielideen, mit denen ich meine Mitbewohner bewerfen könnte?