Mehr als zehn Prozent der Studierenden geben an, eine körperliche, geistige oder seelische Beeinträchtigung zu haben. Aber kaum jemand kümmert sich um inklusives Wohnen. Das will Tobias Polsfuß ändern.
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Falsche Waffen und falsche Fünfhundert-Euro-Scheine werden in die Kamera gehalten. Eine Handvoll Männer zwischen zwanzig und dreißig Jahren steht um einen 3er-BMW herum, sie tragen Sonnenbrillen, Tattoos und die obligatorisch schweren Silberketten um den Hals. Die Freunde kommen aus Salzburg, haben sich aber im Internet kennengelernt. Ihre Tracks heißen “1 Berg Money”, “Fußballstar” oder “Millionen Euro”. In ihrer Mitte sitzt Young Krillin: Brille, Mütze, rötlicher Bart. Auch er rappt und raucht wie die anderen, doch er ist der einzige von ihnen, der sitzt. In einem Elektrorollstuhl.
Weder in Interviews noch in seinen Rapsongs geht es vordergründig um Behinderung oder Diskriminierung. Dabei könnte der Österreicher sich zu einem Botschafter aufspielen für eine Inklusionsbewegung, die an Fahrt aufnimmt, aber im Grunde noch längst keine Bewegung ist. 2009, vor bald einem Jahrzehnt, hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben. Darin steht, dass allen Menschen ein Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben haben.
In der Praxis ist die Konvention allerdings längst noch nicht umfassend umgesetzt. Zwar gibt es zahllose vor allem kulturelle Initiativen, etwa für professionelles Theater mit Menschen mit Behinderung, doch inklusiv sind die wenigsten. Die zwei zentralen Bereiche, in denen sich viele Beteiligte besonders schwertun, sind jedoch der Arbeitsmarkt sowie die schulische und weiterführende Bildung. Sowohl Arbeitgebern als auch Lehrerinnen und Eltern fehlt oft das Wissen, aber auch der Wille dazu, inklusive Modelle anzugehen. Und das, obwohl wissenschaftlich erwiesen sei, so der Inklusionsaktivist Raul Krauthausen kürzlich im Deutschlandfunk, dass auch Kinder ohne Beeinträchtigung von vielfältigen Klassen profitieren – vorausgesetzt, die Pädagogen seien entsprechend ausgebildet. Die staatliche Förderpolitik ist hingegen in entscheidenden Bereichen zweigleisig. Zunächst mit separaten Förderschulen statt gemeinsamem Lernen mit individueller Unterstützung, später mit Behindertenwerkstätten, in denen Menschen mit Beeinträchtigung weit unter Mindestlohn beschäftigt werden.

Einer, der Inklusion durch die Hintertür möglich machen will, ist Tobias Polsfuß. Der Fünfundzwanzigjährige lebt in München in einer Wohngemeinschaft mit acht anderen Menschen zwischen 22 und 45 Jahren. Vier davon haben eine sogenannte geistige Behinderung. Polsfuß, gebürtiger Landshuter, studiert im Masterstudiengang “Gesellschaftlicher Wandel und Teilhabe”. Seine Großstadtmiete finanziert er sich mit fünf Unterstützungsdiensten pro Monat.
Sein Tag beginnt dann mit dem Wecken derer, die geweckt werden wollen. Anschließend hilft er beim Waschen und Ankleiden. Abends kocht für die gesamte WG, gemeinsam mit einer Fachkraft und jedem, der mitmachen möchte. Einen Nachteil darin, einen Beruf mit festen Schichten nach Hause geholt zu haben, sieht er nicht: “Der Aufwand und meine Ersparnis halten sich die Waage. Und am meisten gewinne ich dadurch, dass wir eine große, gute Gemeinschaft sind.”
Barrierefreier Wohnraum wird immer knapper
Als er im Freundeskreis von seiner ungewöhnlichen Wohnsituation erzählte, waren die Reaktionen so begeistert, dass Polsfuß einen Schritt weiterging: Er gründete WOHN:SINN, die erste inklusive Wohnungsbörse Deutschlands. Was zunächst als Blog begann, auf dem er und seine Mitbewohnerinnen von ihrer inklusiven WG erzählen, ist mittlerweile eine ausgezeichnete Initiative geworden, sowie ein berufliches Standbein. “Behinderung hat immer auch eine soziale Komponente, da viele einfach nicht den Zugang zu allen gesellschaftlichen Bereichen haben” so der Niederbayer, “aber wohnen müssen alle.” Menschen mit und ohne Beeinträchtigung in gemeinsame WGs zu vermitteln, ist für den Studenten deshalb nicht nur eine Behelfslösung, sondern ein ideales Instrument, künftige Arbeitgeberinnen, Lehrer und Eltern frühzeitig zu sensibilisieren: “Das Wohnen ist einfach ein guter Hebel, um Gesellschaft inklusiv zu gestalten, auch weil es ein Bereich ist, in dem es nicht um Leistung geht.”

Inklusion bedeutet Enthaltensein. Im Gegensatz zur Integration besteht der Ansatz nicht darin, eine Minderheit in eine vorhandene Mehrheit einzugliedern. Vielmehr sollen alle nicht nur Gleichberechtigung, sondern auch Chancengleichheit erfahren. Der Begriff “Inklusion” wird zwar meist in Bezug auf Menschen mit Beeinträchtigungen verwendet, schließt aber auch andere Gruppen ein: In einer heterogenen Gesellschaft dürfen auch sexuelle Orientierung, Geschlecht, Alter, Herkunft und Religion keine Rolle spielen. Weder bei der Vergabe von Arbeits-, Studien- oder Ausbildungsplätzen, noch bei der Zugänglichkeit von Arztpraxen oder Webseiten.
Wie viele WG-Zimmer bereits über WOHN:SINN vermittelt wurden, kann Tobias Polsfuß noch nicht sagen. Seit Januar 2018 läuft die Plattform in Kooperation mit wg-suche.de. Dort, hofft Polsfuß, kann er mit dem Feld “Ja, Menschen mit Behinderung sind hier willkommen” noch mehr Menschen erreichen als bisher. Das sei wichtig, da insbesondere barrierefreier Wohnraum immer knapper wird, vor allem in Großstädten wie München, Berlin oder Hamburg. Die Idee, inklusiv zu wohnen, hat er aber natürlich nicht erfunden. Die erste WG, von der Polsfuß weiß, dass sie sich als inklusiv verstand, gründete sich bereits 1989. Darüber hinaus dürfte – bei elf Prozent aller in Deutschland Studierenden, die eine langfristig körperliche, geistige, oder seelische Sinnesbeeinträchtigung angeben – auch etwa jede zehnte Wohngemeinschaft inklusiv sein, in den meisten Fällen wohl, ohne sich explizit als solche zu verstehen, zumal nicht alle Beeinträchtigungen öffentlich ausgesprochen werden.
Die meisten wohnen noch bei den Eltern
Bis heute tun sich Trägervereine oft schwer, inklusive Wohnkonzepte anzubieten, da sie dann zugleich Vermieter und Leistungsanbieter wären. Hier soll die Masterarbeit von Tobias Polsfuß ansetzen. “Was muss sich ändern in Deutschland, um inklusives Wohnen zu ermöglichen?”, lautet seine Leitfrage. Neben rechtlichen Rahmenbedingungen, die große regionale Unterschiede aufweisen, sei ein großer Hemmschuh auch die fehlende staatliche Förderung von Beratung für Menschen mit Beeinträchtigung, die ihr Wohnumfeld selbstbestimmt gestalten wollen. Darum lebt, so der WOHN:SINN-Gründer, etwa die Hälfte der Menschen mit sogenannter geistiger Beeinträchtigung auch im fortgeschrittenen Alter noch im Elternhaus. Die einzigen Alternativmöglichkeiten sind oft stationäre Wohngruppen oder Heime, in denen Begegnungen zur Außenwelt nicht selbstverständlich sind. Dabei seien die Wohnkosten für inklusive Modelle nicht unbedingt höher: “Unterstützung brauchen meine behinderten Mitbewohnenden sowieso, egal wie sie wohnen”, sagt Polsfuß, “Da sie in Werkstätten arbeiten, werden ihre Wohnkosten von der staatlichen Grundsicherung übernommen. Meine Miete und das Gehalt der Fachkräfte wird über die staatliche Eingliederungshilfe sowie die Pflegeversicherungen finanziert.”

Tobias Polsfuß selbst hat keine Beeinträchtigung. Mit Menschen, die nicht den körperlichen und geistigen Normen entsprechen, kam der Landshuter erst durch einen Freiwilligendienst in Athen in Kontakt. Weltweit leben rund eine Milliarde, in Deutschland 10,2 Millionen Menschen mit einer oder mehreren Beeinträchtigungen. “Mir ist wichtig, dass ich nicht im Namen Anderer spreche”, betont Polsfuß. Für seinen professionellen Einsatz hat er sich entschieden, da eine neue inklusive Wohnform die Selbstbestimmung der Betroffenen immens erhöhe.
Nach seinem Studium will Polsfuß sich mit seinem Start-Up selbst finanzieren können. Wichtiger als die Wohnungsbörse wird dann das Bündnis für inklusives Wohnen sein, das er gerade zu gründen beginnt. Schon heute wird er von regionalen Vereinen und großen Trägern für Vorträge und Workshops gebucht. Seine zentralen Ziele sind, bestehende Akteure, insbesondere die Trägerorganisationen, zu vernetzen, Knowhow in der Breite zu vermitteln und damit systemisch Barrieren abzubauen.
Bis heute wollte Tobias Polsfuß nie aus seiner Neuner-WG in München ausziehen, zu gut sind seine Erfahrungen aus den letzten fünf Jahren, zu überzeugend die Wohnverhältnisse. “Die Abstände, in denen ich mir Urlaub wünsche, werden kleiner”, gibt er aber zu. Für ihn wird das Leben in der WG kein Modell auf Lebenszeit sein. Aber auch, wenn er bald mit seiner Freundin zusammenziehen sollte, wird ihn das inklusive Wohnen noch lange begleiten: “Im Optimalfall gehe ich eines Tages in Frührente und löse meine Organisation auf, weil sich das Problem erledigt hat.”
Vielen Dank für den tollen Artikel
Lieber Kornelius, vielen Dank für den tollen und ausführlichen Artikel.
An Peter Slater, es geht ja nicht nur um große WGs wie meine. Inklusive WGs gibt es ja auch als 2er WGs oder Hausgemeinschaften, wo man in seiner eigenen Wohnung Rückzug hat.
Zu München: Hier hat Gemeinsam Leben Lernen e.V. schon 8 inklusive WGs gegründet. Auch wenn ich Deine Vorbehalte gegenüber München verstehen kann, muss ich sagen, dass es in dieser Stadt wohl bisher am besten läuft.
Und zum Geschäftsmodell: Ich selbst will ja garkeine WGs eröffnen, sondern nur Leuten helfen, selbst eine zu gründen. In der Tat ist aber eine zentrale Herausforderung, inklusives Wohnen jedem Menschen – auch mit sehr hohem Unterstützungsbedarf – zu ermöglichen. Aber auch da gibt es zum Glück schon Modellprojekte, die zeigen, dass es möglich ist. Inklusiv Wohnen Köln e.V. zum Beispiel.
Viele Grüße
Tobias
Inklusives Wohnen
Prima Artikel, frische Perspektive, Danke
Eine tolle Sache ...
… aber nicht jede Person ( mit oder ohne Behinderung ) ist geeignet, in einer Gross-WG zu wohnen. Es wird suggeriert, das die Probleme sehr klein sind, wie in diesem Falle, aber ich denke schon, das viele Kompromisse geschlossen werden müssen, dann kommt noch die Privatsphäre mit einer Freundin oder Freund. München ist sehr konservativ, streng katholisch, auch das birgt Schwierigkeiten mit der Öffentlichkeit, genug Verständnis zu bekommen, während Hamburg als Stadt deutlich einfacher wäre … Der junge Landshuter macht das klasse, wenn daraus aber eine Geschäftsidee wird, dann wird es schwierig, zwischen sozialer Gestaltung und dem Geldmachen, die richtige Balanz zu finden x