Literaturblog

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Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 2019

29. Jun. 2019
von Jan Wiele
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Diese Tiere sind sich nie begegnet

© Johannes Puch / ORFMartin Beyer

Der letzte Lesetag beim Bachmannpreis begann mit einem Text auf der Spur von Trilobiten, Pfeilschwanzkrebsen und Gliederfüßern, genauer gesagt: auf der Kotspur. In Ines Birkhans Romanauszug “abspenstig” verschwindet eine Frau von der Erdoberfläche, um sich unter Wasser von einem Skorpion tätowieren zu lassen – kein Problem in Klagenfurt. Aber so recht einen Reim machen konnte sich dann doch niemand darauf. Juror Klaus Kastberger immerhin hatte geologische Hausaufgaben zum Text gemacht und konnte vermelden, dieser vermische munter die Erdzeitalter: “Diese Tiere sind sich nie begegnet.”

Fast einhellig begeistert hingegen zeigte sich die Jury dann von einem Zusammentreffen zwischen Fliege und Fisch. In einer merklich österreichischen, sprachspielerischen Suada lässt Leander Fischer einen Erzähler zu Wort kommen, der Lehrling und Lehrer zugleich ist, und gerade darin liegt der Reiz: Als Musiklehrer ist er einer, der cholerisch “talentierte Kinder mit zweitklassigen Instrumenten traktiert” und für seine Ausbrüche, so erfährt man en passant, bereits eine Abmahnung erhalten hat. Als Fliegenfisch-Schüler eines Mannes namens Ernstl ist der Erzähler dagegen selbst der Dumme, und aus dieser Diskrepanz macht der Text eine Art Parabel über das Expertentum mit weitem Deutungsraum. Hubert Winkels etwa sah darin den “brutalen Opferprozess” verbildlicht, der “der Bildung von Kunst vorausgeht”, Hildegard Keller einen gelungenen “Text über Miniaturkunstwerke” (also vielleicht auch die Erzählung selbst), und Kastberger gar ein “Capriccio über Klagenfurt”.

Auf eine solche Höhe von Text und Diskussion war danach kaum noch einmal zu gelangen, und Lukas Meschiks “Mein Vater ist ein Baum”, der von einem hinterbliebenen Sohn erzählt wird, der merkwürdigerweise behauptet, alle Väter seien gleich, provozierte von Juryseite harte Kritik. Nicht mehr als eine klischeebeladene Traueranzeige (Winkels) mochte man darin sehen, die alles wirklich Interessante ausspare (so Juror Michael Wiederstein).

So einig die beiden Kritiker sich hier schienen, so maximal uneins waren sie dann bei der Diskussion des letzten Tagestextes. Martin Beyers “Und ich war da” setzt eine erfundene Erzählerfigur in den historischen Kontext der Hinrichtung von Widerstandskämpfern der “Weißen Rose” – und handelte sich damit von mehreren Juroren den moralischen Vorwurf ein, deren Geschichte strategisch auszuschlachten.

Der Erzähler, eine typische Mitläufer-Figur, wird Henkersgehilfe bei Johann Reichhart (1893 bis 1972), dem der Wirklichkeit entnommenen Scharfrichter der Nationalsozialisten, der neben vielen anderen auch Hans und Sophie Scholl mit dem Fallbeil hinrichtete.

Der Versuch des Autors Martin Beyer, die Mittäter-Perspektive literarisch zu gestalten, stieß bei einigen Juroren auf vehemente Ablehnung – und brachte dem diesjährigen Bachmannpreis-Wettbewerb  zum Schluss noch eine Art Takis-Würger-Klondebatte ein. Denn die fragwürdig klischierte Gestaltung von Takis Würgers Roman “Stella” über die jüdische Nazi-Kollaborateurin Stella Goldschlag, der Anfang dieses Jahres bei Hanser erschien, ist vielen im Literaturbetrieb offenbar noch sehr präsent und darüber hinaus exemplarisch geworden für die Frage: Darf man so vom Nationalsozialismus erzählen?

Dass man es nicht dürfe, bekräftigten in der Jurydebatte Insa Wilke, Hubert Winkels und Klaus Kastberger – und übertrugen diesen Schluss auch auf die Erzählung von Martin Beyer: Eben weil auch diese sich die Geschichte der historischen Opfer schamlos zunutze mache.

Dagegen protestierte der Juror Michael Wiederstein, der Beyer eingeladen hatte. Wiederstein sah in Beyers Hauptfigur August Unterseher ein “Denkmal für die Banalität des Bösen” und verteidigte dessen von Zweifeln und Reue geprägte Wahrnehmung der eigenen Mittäterschaft als gerade nicht nur klischeehaft, sondern literarisch besonders. Die anderen Juroren wollten Wiederstein aber nicht folgen. Auch insofern war die Klagenfurter Debatte also ein Spiegelbild oder eine Wiederholung der Würger-Debatte, bei der wenige Verteidiger einem Gros von Kritikern gegenüberstanden.

In beiden Fällen ist es allerdings fraglich, ob es der moralischen Empörung überhaupt bedarf, um die literarischen Texte zu kritisieren oder gar zu disqualifizieren. Denn bei “Stella” wie auch bei “Und ich war da” ist es einfach, die Klischeebeladenheit herauszustellen. Es genügt schon, festzustellen, was daran Kitsch ist (so auch Insa Wilke über Marin Beyers Text), nämlich dort ein Vater, der erst nach Verlust eines seiner Söhne im Krieg ausruft: “Das werde ich dem Hitler, diesem Sauhund, nie verzeihen”, wie in einem schlechten Fernsehfilm. Oder die plakative Zeichnung der Figur Johann Reichharts, über die es heißt, sie sei von “tiefgefrorener Gleichgültigkeit”.

Insofern war Michael Wiedersteins Aufbegehren in Bezug auf die moralische Kritik nachvollziehbar, nicht aber in Bezug auf die ästhetische.

29. Jun. 2019
von Jan Wiele
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28. Jun. 2019
von Jan Wiele

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Durch Peinigung zur Reinigung

© ORF/ORF K/Johannes PuchRonya Othmann liest.

Der temporäre Geschmacksverlust ist manchmal unerklärlich. Er kann auch mit schwerer Krankheit zusammenhängen, was nicht zu hoffen ist. Erklären aber, was die Klagenfurt-Jury dazu bringt, Belanglosigkeitsprosa wie die von Yannic Han Biao Federer oder verunglückten Manierismus wie den von Daniel Heitzler einigermaßen geschlossen für gut zu befinden, kann man nicht.

Federers selbtreflexive Trennungsgeschichte “Kenn ich nicht”, die den Autor selbst als Randfigur auftauchen lässt, wirkte im Vergleich zu den zahllosen paradigmatischen Vorbildtexten von Max Frisch bis Joshua Cohen wie ein sehr matter Abglanz. Die archivarische Wirklichkeitsbeschreibung des nach einem Beziehungsende heimatlosen Erzählers, der zwischen Köln und Kroatien durch die Gegend schlittert, erinntere Michael Wiederstein nicht zu Unrecht an Christian Krachts “Faserland”, aber, wie der Juror ebenfalls nicht zu Unrecht bemerkte, “sehr heruntergedimmt”. Warum derselbe Juror dann trotzdem noch einen Sonderpreis für den besten letzten Satz – “Am Hafen scheißt mir eine Möwe in die rechte Sandale, es stinkt und klebt” – ausloben wollte: Ebenfalls unerklärlich.

Was Daniel Heitzlers Text betrifft, eine mexikanische Rancho-Komödie mit dem Titel “Der Fluch”, die von einem Nachbarschaftsstreit handelt, ist immerhin zu erklären, warum sich Insa Wilke davon an “Lucky Luke” erinnert fühlte. Die Protagonisten heißen Pancho und Flaco und sind tatsächlich Comicfiguren. Leider hat der Autor seine Stilmittel aber nicht im Griff. Wo die Protagonisten einander mit “Amigo” anreden, der Erzähler aber geschwollen über die “kraniofzialen Muskelfasern dieses Kolosses” spricht oder über jemanden, der “in effctu abergläubisch” ist,  passt etwas nicht zusammen.  Gedehnt langsam vorgetragen vom Autor, war der Fortschritt “durch Peinigung zur Reinigung”, den in diesem Text am Ende ein Peyotl-Trip besorgen muss, leider nicht nachvollziehbar. Es blieb bei der Pein, die immerhin auch Juror Klaus Kastberger empfand und daher bekundete,  bei der Lobesparty seiner Kollegen nicht mitfeiern zu können.

Die typische Heterogenität eines Klagenfurt-Lesetages ermöglicht es aber meist, dass für jeden Geschmack etwas dabei ist und man im besten Fall auch provoziert, verstört oder beglückt wird. Der reportagehafte Text von Ronya Othmann, der, auf Erfahrungen der Autorin und ihrer Familie basierend, die Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Jesiden im Jahr 2014 durch den sogenannten Islamischen Staat beschreibt, verstörte und provozierte die Jury derart, dass einige meinten, ihn aus Respekt vor seinem Wirklichkeitshintergrund gar nicht kritisieren zu können (so Hildegard Keller). Insa Wilke plädierte vehement dagegen – gerade auch solche (nichtfiktionalen) Texte gehörten zur Literatur und müssten kritisiert werden.

Eine Qualität des Textes wurde dann in seiner markierten Zeugenschaft der Erzählerin ausgemacht, die gängige journalistische Narrative vom furchtbaren Geschehen in und um Shingal im August 2014 in Frage stelle und darüber hinaus Sprachkritik an Begriffen wie “Greueltaten” betreibe. Dem Schrecken von Othmanns (Nach-)Erzählungen konnte sich wohl niemand entziehen – und doch blieben die Kritiker es ein bisschen schuldig, auch genauer zu bestimmen, was an diesem Text besonders gut gemacht ist. Dass er wie Hofmannsthals “Chandosbrief” eine Art beredte Sprachkrise thematisiert, könnte ein Anfang sein. In diese Richtung ging jedenfalls Hubert Winkels’ Verweis auf den “Unsagbarkeitstopos” der Literaturgeschichte, den Othmann hier neu beschwöre.

Beglückt sein schließlich konnte man von dem im etwas engeren Sinne literarischen Text “Der Schrank” von Birgit Birnbacher, der mit soziologischer Kühle, vielleicht auch Sarkasmus, die Großstadteinsamkeit einer Frau und die Entfremdung von Arbeit und Mitmenschen beschreibt. Um das Leben dieser Frau zu schildern, stellt sich die Erzählerin einen namenlosen Beobachter vor, dem sie Rechenschaft über ihre bisherige Existenz ablegt – wenn auch nicht immer ehrlich: “Zur Vortäuschung eines Privatlebens erzähle ich vom Studium”, heißt es einmal. Ihrer Mutter erzählt die Frau, sie sei “Teilnehmerin einer Studie über Lebensverhältnisse”: ein hübsches, selbstreflexives Bild für die ganze Erzählung.

Der Lesetag endete mit der sonoren Stimm-Performance von Tom Kummer, die bereits im Vorstellungsvideo den mythischen Taxifahrer inszenierte, der dann den Text erzählt: Eine Art letzter Cowboy, so befand man, der nachts in der Schweiz VIP-Gäste in einer Limousine chauffiert und darauf wartet, von ihnen auf das Bild seiner verstorbenen Frau am Armaturenbrett angesprochen zu werden – oder auch nicht. Wie er darauf reagiert, löste in diesem “Retro-Text” mit der Ästhetik von Zigarettenwerbung der Neunziger (Kastberger) ein Gefühl des “gerade noch so möglich” aus, während Insa Wilke schon Befremden äußerte, auch von der Kontrollsucht, die die Erzählung nicht nur am Protagonisten vorführe, sondern auch auf die Leser übertrage.

Bei dieser Performance konnte man – freilich wieder Geschmackssache – die Erfahrung machen, vom Vortrag eines Textes eher abgestoßen zu sein, sich aber mittels einer anderen Stimme durchaus mit ihm anfreunden zu können. Die Verlorenheit und Trauer dieses “Taxi Driver”-Wiedergängers (Wiederstein) in einer Geschichte, die die Schweiz einmal nicht als Gefängnis (so Stefan Gmünder in Erinnerung an Friedrich Dürrenmatt), sonder eher als eine Art Abenteuerland zeige, das womöglich Tolkiens “Mittelerde” inspirierte, diese Verlorenheit jedenfalls inspirierte die Jury zur besten Diskussion des Tages: einer kritischen Würdigung.

28. Jun. 2019
von Jan Wiele

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27. Jun. 2019
von Jan Wiele

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Wer Gespenst werden will, muss den Dienstweg einhalten

 

© Picture AllianceDie deutsche Autorin Katharina Schultens liest am ersten Tag der Literaturtage ihren Text vor

Die gute Nachricht zuerst: Im Jahr 2184 wird noch Klavier gespielt, Bach und Schubert, wenn auch etwas verstimmt. Was sonst so mit den Menschen los ist, lässt sich schwer sagen. Erster Satz des ersten Vorlesetextes beim Bachmannpreis an diesem Donnerstag: “Die Mädchen sind keine richtigen.” Davon fühlte sich die Jury zurecht erinnert an einen wirkmächtigen Satz des Vorvorjahres von Eckhart Nickel: “Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht.” In dem Text von Katharina Schultens stimmt also etwas mit den Mädchen nicht. In beiden Fällen besteht der Reiz der Interpretation darin, herauszufinden, was es ist. In beiden Fällen folgen dystopische Zukunftserzählungen.

Ging es bei Nickel um die Manipulation von Nahrungsmitteln, so geht es in Schultens’ Romanauszug namens “Urmünder” um eine Welt, in der die menschliche Reproduktion gefährdet ist und der menschliche Körper starke Mutationen erfahren hat. Immerhin, es gibt noch “Menschen mit und ohne Schwanz”, aber sie sind offenbar nicht mit Männern und Frauen gleichzusetzen. Aus dem Tagebuch einer “Gärtnerin” jenes Jahres 2184 erfahren wir, dass in einem Moosteppich über einer riesigen Kloake “Chimären” gedeihen, die vielleicht früher einmal Menschen waren. Die Erzählerin selbst hat zahlreiche Fehlgeburten erlitten, sie denkt “über Dickblattvermehrung, Zelltypen und Genscheren nach” und betet in einer Gemeinschaft von “Amatae” den Rosenkranz.

Warum? So weit, so unklar. Die Jury hatte also gleich zu Beginn alle Hände voll zu tun mit dem Dechiffrieren, wobei Insa Wilke, die Katharina Schultens eingeladen hatte, nicht übertrieb, als sie sagte, deren Text gebe “der Imagination Freiheit”. Sie sah ihn in der Tradition spezifisch weiblicher Science Fiction wie jener von Ursula K. Le Guin, in der die bislang männlich dominierten Weltrettungs-Vorstellungen umkodiert werden. Jury-Kollege Klaus Kastberger sah Filmbezüge zu „Avatar“ und „The Handmaid’s Tale“, Hubert Winkels sich etwas überfordert von den vielen Motiven und Bezügen, Nora Gomringer fühlte sich ganz verloren.

Und doch markierte diese durch Losverfahren zur ersten von vierzehn gewordene Lesung samt Diskussion gleich auch die Fallhöhe des folgenden Tages, womöglich des ganzen diesjährigen Bewerbs: Denn rätselhafter oder umstrittener scheint es kaum noch werden zu können.

Ein Text wie Andrea Gersters “Das kann ich” wirkt im Vergleich dazu fast unglaublich banal – würde es allerdings auch ohne den Vergleich noch. Warum solcherlei schriftgewordene Telenovelas (an solche fühlte sich auch Juror Michael Wiederstein erinnert), die von irgendeinem Mathi, Tilli, einer Julia und einer Nanny erzählen, es doch immer wieder nach Klagenfurt schaffen – hier auf Einladung Hildegard Kellers -, bleibt seinerseits ein Rätsel.

Wenn die Texte schwächeln, sind dafür die Jurydiskussion oft umso witziger. Als man in Silvia Tschuis aus Kinderperspektive erzählter Fingerübung “Der Wod”, in deren Hintergrund undeutlich Krieg und Vertreibung stehen, schon allzuviel hineinlesen wollte, was gar nicht dasteht, etwa Bezüge zu Imre Kertesz, fragte Klaus Kastberger entgeistert: “Aber du willst das nicht ernsthaft mit dem ‘Roman eines Schicksallosen’ vergleichen”?

Wenn die Texte auf Anhieb ambivalente Eindrücke hinterlassen wie bei Sarah Wipauer oder Julia Jost, so dass man sie erst mal sacken lassen und in Ruhe nochmal lesen möchte, ist das wahrscheinlich ein gutes Zeichen. Bei Josts seltsamer Dorfgeschichte “Unweit vom Schakaltal” muss man das, zumindest als Nichtösterreicher, allein schon um zu recherchieren, ob ein “klunzendes Klagen” gängiger Sprachgebrauch oder ein hübscher Neologismus ist, und was man davon halten soll, wenn im Dörfchen namens Bruder Elend jemand ruft: „Woatats lei, mei Dirndle, schiaßt eich hiaz schon die Erpelschnecken vom Huat oba!“

Um überhaupt zu verstehen, wovon ein Text erzählt, sind die Jurydiskussionen manchmal auch nicht die beste Hilfe, weil sie selbst kryptisch bleiben oder sich gleich an Details verbeißen. Ganz anders aber bei der unübertrefflich prägnanten Zusammenfassung Michael Wiedersteins von Sarah Wipauers Erzählung “Raumstation Hirschstetten”: “Untote österreichische Blaublüter okkupieren die ISS.”

Deren erster Satz lautet: “Gespenster entstehen zufällig.” Das veranlasste den Kritiker Stefan Gmünder zu der schönen literaturgeschichtlichen Bemerkung, er habe immer gedacht, wer Gespenst werden will, müsse den Dienstweg einhalten.

27. Jun. 2019
von Jan Wiele

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27. Jun. 2019
von F.A.Z. - Feuilleton

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43. Tage der deutschsprachigen Literatur

© Gert Eggenberger/APA/dpaClemens J. Setz bei der Eröffnung

Einer hat noch gar nichts Literarisches veröffentlicht, einige andere reisen mit der Erfahrung von mehreren Romanen nach Klagenfurt. Das Wettlesen um den Bachmann-Preis bei den 43. Tagen der deutschsprachigen Literatur verspricht dieses Jahr eine große Bandbreite. 14 Autorinnen und Autoren treten von diesem Donnerstag an, darunter auch fünf Deutsche, die auf einen der fünf Preise hoffen. Eine weitere Besonderheit: Dieses Jahr sind erstmals mehr Frauen bei dem renommierten Wettbewerb dabei als Männer.

Eröffnet wurden die Literaturtage am Mittwochabend mit einer Rede des Schriftstellers Clemens J. Setz, der 2008 selbst beim Bachmann-Preis antrat und sich mit der Novelle „Die Waage“ den Ernst-Willner-Preis sichern konnte. In diesem Blog wird Jan Wiele von den Tagen der deutschsprachigen Literatur berichten.

27. Jun. 2019
von F.A.Z. - Feuilleton

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14. Okt. 2018
von Andrea Diener
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Das war die Messe

© DPALeserflut am Messesamstag

Die Messe ist, wie wir jedes Jahr an dieser Stelle zuverlässig kalauern, wieder einmal gelesen. Und im Gegensatz zu den meisten davor hatte sie ein bestimmendes Thema: Die Leserschwundstudie, die alarmierende Zahlen über die Buchbenutzung zumindest im deutschsprachigen Raum erkennen lässt und die Hilflosigkeit der Verlage angesichts eines augenscheinlich wegbrechenden Geschäftsmodells. Was tun? Man weiß es nicht, testet aber vorläufig alles, sogar dieses Internet.

Und sagt die Messeparty ab. Was die feierwütigen Massen nicht wirklich interessiert, denn die stellen sich einfach mit einem Getränk irgendwohin. Die Rowohlt-Party fehlte, aber dann wurde es zunehmend egal. Im Literaturhaus bekam man ohnehin immer und egal wann man auftauchte eine Flasche Bier, was wirklich nicht das Schlechteste ist, was man über eine Kulturinstitution sagen kann, die in einem etwas übertriebenen Marmorschlösschen haust.

Außerdem wurde ein Haufen Preise verliehen, und man bekam viele Bilder von glücklichen Autoren zu sehen. Dass der wichtigste Preis diesmal wegen Zank in der Jury nicht verliehen wurde, riss auch keine große Lücke. Man bastelte eine Zwischenlösung. Vielleicht war es überhaupt die Messe der gebastelten Zwischenlösungen, und die funktionierten ja alle ganz gut. Zeit also, sich darauf zu besinnen, dass es gar nicht viel braucht, keine großen Rahmen, keine Repräsentationen. Eine Flasche Bier wäre halt gut, aber zur Not geht eben jemand zum Kiosk.

Wir bedanken uns für Ihr Interesse, wünschen ein gutes Lektürejahr, was angesichts der vielen starken Neuerscheinungen kein Problem darstellen dürfte, und lesen uns im nächsten Jahr wieder!

14. Okt. 2018
von Andrea Diener
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13. Okt. 2018
von Julia Bähr
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Problemzone Frau

© Julia BährIm Gespräch: Julia Klöckner (links) mit Susanne Beyer

Es gibt sie noch, die guten Gespräche. Auch in einer überfüllten, viel zu lauten Halle 3.0, die nicht unbedingt inspirierend wirkt. Im Fall von Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner im Gespräch mit Susanne Beyer, der stellvertretenden Chefredakteurin des “Spiegel”, merkte man das vor allem daran, wo die Diskussion über Migration und Frauenrechte nicht landete: bei der nicht abschließend zu beantwortenden Frage, ob man Frauen zur Freiheit zwingen kann, indem man ihnen etwa verbietet, sich zu verschleiern.

Klöckner und Beyer setzten dagegen an einer ganz anderen Stelle an – der Frage nämlich, wie sich die Gesellschaft dieser neuen Thematik überhaupt widmen sollte. Und sie waren sich erfreulicherweise uneinig, was die Sache äußerst kurzweilig machte. Während Klöckner gerade ihr Buch “Nicht verhandelbar. Integration nur mit Frauenrechten” publiziert hat und findet, das Thema werde grob vernachlässigt, plädierte Beyer für mehr Ruhe in der Sache: Auch in Deutschland, wo vor fünfzig Jahren eine Frau noch nicht mal ein Konto eröffnen durfte, habe die Entwicklung schließlich Zeit gebraucht. Aber gerade das sah Klöckner als gutes Beispiel für eine Ungerechtigkeit, die auch nicht einfach hingenommen, sondern bekämpft wurde. “Warum haben wir dann hierfür plötzlich Verständnis?”

“Wir müssen darüber reden, was es bedeutet, wenn Menschen zu uns kommen, bei denen Mädchen und Frauen weniger wert sind”, beharrte die Ministerin. Gerade für Erzieherinnen und Lehrerinnen sei das fatal. Auch die Vollverschleierung verhindere die Integration und sei keine freie Entscheidung der Frau. “In Saudi-Arabien hat eine Frau überhaupt keine Wahl. Männer entscheiden, wann Frauen anständig sind – und die Männer können tragen, was sie wollen.”

Beyers leise Skepsis angesichts ihrer Themensetzung, die sich ausschließlich mit der mangelnden Gleichberechtigung bei Migranten beschäftigt, versuchte Klöckner zu zerstreuen. Ja, die alten weißen Männer seien tatsächlich auch ein wichtiges feministisches Thema. Aber über die werde ja schon genug geredet. Ein interessanter Standpunkt von einer Politikerin, die in ihrem ganzen Berufsleben mit alten weißen Männern par excellence zu tun hatte und hat. Später äußerte sie noch einen Satz, bei dem man sich nicht ganz sicher sein kann, ob er ihr nicht doch eher rausgerutscht ist: “Je älter ich werde, desto weniger ist es ein Problem, dass ich eine Frau bin.” Was eben auch bedeutet: Es war ein Problem, und es ist noch immer ein Problem.

Sich selbst bezeichnet Klöckner im Buch als “keine richtige Feministin”, was Beyer ihr nachvollziehbarerweise als Absicherung in alle Richtungen ankreidete. Doch Klöckner parierte lässig: Sie sei eben nie auf die Straße gegangen, um zu kämpfen. Das haben Frauen wie Alice Schwarzer, der sie ausgiebig Respekt zollte, vor ihr getan. “Mir ist da auch viel in den Schoß gefallen, ich bin dann durch offene Türen gegangen.” Heute sei der Feminismus für viele junge Frauen auch gar nicht mehr so wichtig, weil die festgestellt hätten, dass ihre Mütter sich zwischen Arbeit und Familie zerreißen mussten. Sie selbst wollten dann eben gar nicht mehr alles unter einen Hut bringen. Dass diese Entscheidungsfreiheit für das eine oder das andere gesellschaftlich auch noch nicht vollends etabliert ist, fehlt allerdings in diesem Gedankengang. Weil Frauen nämlich mit der Emanzipation auch die Garantie dazubekommen haben, für jeden Lebensentwurf von jemandem kritisiert zu werden, der andere Prioritäten setzt.

13. Okt. 2018
von Julia Bähr
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13. Okt. 2018
von Andrea Diener
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Liebe Lesende und Leserinnen

Liebe Gästinnen und Gäste, willkommen auf unserem Blog! Und bevor Sie sich jetzt echauffieren: das Wort „Gästinnen“ ist keine modische Entgleisung, sondern sehr alt und kommt schon in Grimms Wörterbuch vor. Man konnte das heute am Duden-Stand lernen, an dem das Für und Wider des Genderns debattiert wurde. In der ersten Dudenstandveranstaltung überhaupt und jemals. Das liegt daran, dass der Verlag neuerdings eine Reihe namens „Duden Debattenbücher“ herausgibt, in denen über Sprache gestritten werden darf. Und zwar konstruktiv und mit Argumenten.

Im neuesten Debattenbuch streiten die Aktivistin Anne Wizorek und Journalistin Hannah Lühmann darüber, ob sich die Geschlechtergerechtigkeit – die wir momentan anstreben, aber noch nicht so ganz erreicht haben – in der Sprache abbilden soll oder nicht. Und was das überhaupt ist, gendern. Die Doppelnennung, liebe Leserinnen und Leser, fällt für Hannah Lühmann nämlich eher unter Höflichkeit als unter Gerechtigkeit.

Anne Wizorek hingegen bemüht sich darum, auch im Alltag zu gendern, sie schreibt, liebe Leser_Innen, einen sogenannten Gender Gap, und bemüht sich auch darum, ihn mitzusprechen. Das tat sie nicht immer, über ihren ersten gegenderten Text stolperte sie noch, wurde dann aber nachdenklich. „Wir sind die männliche Norm so gewöhnt, dass wir sie als geschlechtsneutral wahrnehmen“, sagt sie, aber das sei sie eben nicht. Inzwischen fühlt sie sich von Texten, die im generischen Maskulinum geschrieben sind, nicht mehr angesprochen.

„Ich würde das Thema Geschlechtergerechtigkeit nicht an Sprache koppeln“, sagt dagegen Lühmann. Zwar gebe es derzeit viele Diskussionen, dass Sichtbarkeit und Repräsentation in den Künsten und in der Sprache geschaffen werden müsste, aber eine endgültige Antwort habe sie noch nicht gefunden. Ja, sagt auch Wizorek, das Geschlecht ist momentan einer der zentralen Kampfschauplätze. Sie könne die Abwehrhaltung in Sachen Sprache auch erst einmal verstehen, sei dann aber gerne die Erklärbärin. Denn gendergerechte Sprache sei sicher kein Allheilmittel, aber doch ein wichtiger Baustein.

Naja, und das sei dann doch problematisch, so wieder Lühmann, dass Wizorek denke, sie habe einen Punkt erreicht und andere seien einfach noch nicht soweit. Dabei gebe es durchaus hehre und gar nicht reaktionäre Gründe, warum man sich gegen das Gendern aussprechen könne. Zum Beispiel, dass das Kreisen um die richtige Sprache den Blick auf andere, größere Ungerechtigkeiten verstellen könne. Oder den, dass es eben eine präskriptive Grammatik sei, die vorschreibt. Und Sprache habe ja auch nicht die Aufgabe, korrekt zu sein. Ein spielerisches Verhältnis zur Sprache schließe auch die Möglichkeit ein, radikal zu entgleisen.

Merken Sie was? Unsere beiden Diskutierenden sind sehr zivilisiert und haben sich bislang noch kein einziges Mal angeschrien, was bei diesem Thema sonst schnell der Fall ist. Das musste auch der Duden-Verlag feststellen, der nach einem Haufen Anfragen zum Gendern einen Ratgeber veröffentlichte, der schlicht „richtig gendern“ hieß. Und mit einer, so Moderatorin und Redakteurin Kunkel-Razum, Beachimpfungskanonade teilweise sehr persönlicher Natur konfrontiert wurde, die bis hin zu Morddrohungen reichte. „Und wir waren durch die Rechtschreibreform schon einiges gewohnt.“

13. Okt. 2018
von Andrea Diener
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13. Okt. 2018
von Elena Witzeck

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Einmal Aura, bitte

© FAZCarlos Arana hilft an seinem Stand bei der Suche nach der reinen Seele.

Carlos Arana hat heute noch keine Pause gemacht. Zwischen weißen Stellwänden steht er auf vier Quadratmetern und hilft einem Mann namens Jochen dabei, seine Aura zu reinigen. „Sprichst du mit deinen Vorfahren?“, fragt Jochen hoffnungsvoll. „Hast du Zugang zum Universum?“ Arana hebt ein schwarzes Tongefäß und schwenkt es über Jochens Kopf. Dazu ertönen Laute, die für eine Messehalle das nötige Aufsehen erregen. Er drückt ihm eine Münze an die Stirn und murmelt auf Spanisch. Er betätigt auf einen Gong. Dann nickt er zufrieden und sagt: „Jochen, deine Seele war hier.“ Der nächste Gast wartet schon.

Seinen Messestand hat der Peruaner Carlos Arana kurzfristig bekommen, sein Buch „Ayakuna – Das Enigma der Fantasie“ gerade noch rechtzeitig gedruckt. Er sucht jetzt einen Verlag dafür. „Indem du dieses Buch liest, unterstützt du den wilden Widerstand der Mutter Erde“, steht auf dem Umschlag.

In Peru haben die Menschen einen emotionaleren Bezug zur Natur als in Europa. Es kann vorkommen, dass man in Cusco einem Stadtführer begegnet, der einem rät, hin und wieder einen Schluck Bier auf den Boden zu gießen, um seinem Land die Würde zu erweisen. Carlos Arana hat die Liebe seiner Landsleute zur Mutter Erde bei ausgedehnten Aufenthalten im Urwald noch vertieft. Als Schamane lässt er sich dennoch ungern bezeichnen. Das sei in Europa doch ein anderer Begriff für Scharlatan. Seine eigene Wissenschaft nennt er Ethnomagie.

Weil ihn höhere Mächte dazu aufgefordert haben, sagt Arana, sei das Buch entstanden. Er will den Menschen verständlich machen, dass in jedem von uns ein Teil der Erde steckt. Und dass es fremde Energien gibt, die uns beeinflussen. In seinem „Übungsbuch“ auf dem Weg zum besseren Leben hört sich das so an: „Du bist wichtig für das Universum. In unserer Abstammung befinden sich die Gebote des Himmels, seine Symbole und die Codes der Seele. Deine Aufgabe ist es, diese im Tempel deiner Stille zu entdecken.“ Die Gesten, die er im Gespräch benutzt, wenn er die tierförmigen Tonschalen über seinen Gästen kreisen lässt, hat er im Buch in Ausrufezeichen übersetzt. Sie verleihen seiner Botschaft noch mehr Nachdruck: „Eine vergiftete Seele kann das Leben nicht schätzen, weil man sterbend lebt. Aber es gibt immer das Gegengift: die Liebe!“

Man überlegt kurz: Würde es  nach drei Messetagen nicht der Reinigung der Aura dienen, mit ihm durch den Urwald zu streifen und mehr von den Geistern seiner Kindheit, vom Tempel des Jaguars, den Lichtwesen und dem Geheimnis des Waldes hören? Ganz sicher. Aber daraus wird leider nichts. Er wohnt in Salzburg, hat vorerst genug von seinem Land und will sein Buch in die Welt bringen. Und der nächste Patient wartet schon.

13. Okt. 2018
von Elena Witzeck

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12. Okt. 2018
von Andrea Diener und Elena Witzeck und Julia Bähr

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Was sonst noch geschah

 

Bei Dumont konnte man sich noch mal so richtig jung fühlen. So “Großtantes Geburtstag”-mäßig jung. So jung, wie man sich wirklich nur dann fühlt, wenn direkt an “I Will Survive” der “Macarena” anschließt, die Buchbranche jubelnd über die Tanzfläche hüpft und man selbst staunend zuguckt. Und es gab einiges zu gucken, denn alle waren da. Dumont kann stolz von sich behaupten, in diesem Jahr die einzige Tanzparty mit Rundumverpflegung gegeben zu haben, also versammelte sich das Partyvolk hier, während die Terrasse des Frankfurter Hofs leer blieb. (Wie hält sich der Frankfurter Hof eigentlich über Wasser, wenn keine Buchmesse ist? Gibt es ihn im restlichen Jahr überhaupt, oder bleibt nur die Kulisse stehen, und alle Angestellten fahren auf die Malediven? Fragen über Fragen.)

So sehr die Familientreffen, die diese Buchmesse-Partys ja sind, selbst ohne echte Großtante, von Traditionen leben, so angezeigt wäre jetzt mal eine Veränderung. Die Feiern von Dumont und Hanser im Mantis Roofgarden sind seit Jahrmillionen nahezu identisch, auch wenn die Drinks inzwischen ironische Namen bekommen haben. Ja, gute Location. Ja, total zentral. Aber wer nach Jahren zurückblickt und sich an diese Feiern wirklich noch im einzelnen erinnern, sie vielleicht sogar auseinanderhalten kann – der kann auch die Sahara nach einem Rundflug mit dem Hubschrauber kartographieren. (bähr)

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Alle fünf Jahre passiert auf der Titanic-Party etwas Besonderes. Es sind dies die Jahre, in denen die Fackel an einen neuen Chefredakteur übergeben wird, und der alte Chefredakteur gnadenlos aus der Redaktion exmatrikuliert wird. In diesem Fall winken wir traurig Tim Wolff hinterher, der die deutsche Satire tapfer durch polizeigeschützte Jahre voller Terrorgefahr geführt hat, ohne sich von den schnauzbärtigen Männern in Lederjacke beirren zu lassen, die zu seinem Schutze abgestellt wurden. Und begrüßen Moritz Hürtgen, den wir nun nie wieder den Moritzbub nennen werden, denn er hat es vor seiner Inthronisierung bereits auf die Titelseite der „Bild“-Zeitung geschafft. Applaus, Applaus, und dann noch einen für die scheidende Redaktionsassistentin Birgit Staniewski. Und haben wir schon Kristin Eilert für das Bufett applaudiert? Das war es allemal wert, in diesem Jahr zehn Euro Eintritt zu zahlen, der einem in Getränkechips gleich doppelt zurückgezahlt wurde. Ob jedoch einer der exilierten Autoren nichtfeiernder Verlage das großzügige Angebot annahm, für sagenhafte 29,90 Euro Partyasyl zu beantragen, konnte bis Redaktionsschluss nicht ermittelt werden. (dien.)

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Wenn sich die Gefühlsmomente der Party der Indieverlage am Messefreitag über die ganze Woche verteilen ließen, wäre diese Buchmesse ein weniger pragmatischeres, seligeres Ereignis. Am Ende des offiziellen Teils sind an diesem Abend im Literaturhaus, an dem es um die Neuerscheinungen unabhängiger Verlage geht, nicht nur praktisch alle glücklich, weil es für die zehn Verlage, die auf die Hotlist 2018 gekommen sind, elf Preise zu verleihen gab: Zwischen den Stuhlreihen wabern in stickiger Luft auch die Erleichterung der Organisatoren und die unendliche Dankbarkeit über Verlage, die abseits der Gesetze des Massenbetriebs dafür sorgen, dass gute Geschichten erzählt werden. Der Hotlistpreis ging dann passenderweise auch an die Liebe: Der Elfenbein Verlag bekam ihn für die Neuauflage von Marcel Schwobs Briefen an seine Frau, die Schauspielerin Marguerite Moreno, auf einer Reise nach Samoa. Hach! Die Gäste waren glücklich, weil es in diesem Jahr nicht so lange dauerte wie sonst. Und die Wartenden draußen waren glücklich, weil sie noch etwas vom Abend abbekamen. Und ein nicht unwesentlicher Teil der Tanzenden war sehr glücklich, wieder einmal System of a Down zu hören. (elwi.)

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© Daniel Vogl / F.A.Z.Geht doch: Eintritt frei, jeder kann Gastgeber sein, alle haben Spaß, alle haben Bier.

Fünfzig Euro für einen Bierkasten erscheinen auf den ersten Blick etwas teuer, aber immerhin bekommt man ein Schild, eine Dachlatte und ein Gebäude mit repräsentativem Marmortreppenhaus dazu. Das war das Konzept des Pop-up-Empfangs im Literaturhaus, bei dem jeder, auch noch der kleinste, pleiteste Verlag mit fast gar keinem Partybudget, zum Gastgeber werden konnte. In Zeiten, in denen der Betrieb sich verzweifelt fragt, wo man denn abends hingeht, weil die Party, die sonst immer stattfindet (Rowohlt, Fischer, Dings), diesmal ausfällt, sind Ideen gefragt. Denn man braucht doch eigentlich gar nicht viel, nur einen Raum, Bier, etwas Musik und etwas Literaturvolk, so dachte sich Literaturhauschef Hauke Hückstädt vor zwei Wochen. Vor einer Woche ging die Pressemeldung heraus, und dann kamen alle. Geht doch! Da muss man doch keinen Saal im Frankfurter Hof mieten und die Jahresbilanz ruinieren. Das sei ein bisschen „Garagenpunk meets Neoklassik“, so Meta-Gastgeber Hückstädt inmitten seiner Subgastgeber mit den Schildern an den Dachlatten. Rowohlt, Fischer, Dings, so steht es in Goldschrift, alle da. (dien.)

12. Okt. 2018
von Andrea Diener und Elena Witzeck und Julia Bähr

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12. Okt. 2018
von Elena Witzeck

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Nichts mehr los heute

© Thomas Robbin/picture allianceDer Frankfurter Hof war früher der Treffpunkt aller Buchmessen-Gäste, die nach Mitternacht noch Energie übrig hatten.

Es soll ja diese legendären Partys im Frankfurter Hof gegeben haben, dem einzigen Hotel Frankfurts, das Touristen beim Vorbeigehen fotografieren, weil sie es für ein Gebäude halten, in dem Bedeutsames diskutiert und nicht nur Whiskey Sour getrunken wird. „Im weitläufigen Hotel feiern so viele Verlage, dass es im Foyer einen Wegweiser zu den Partys gibt“, schreib ein Kollege vor zehn Jahren. Ich stellte mir vor: Wie Daniel Kehlmann an der Bar lehnte und man mit Elke Heidenreich über Gin-Sorten streiten konnte. Wie Saša Stanišić einem etwas über Inspiration beim Schreiben verriet, ohne dass man in Herrn Unselds Wohnzimmer eingeladen sein musste.

Zugegeben: Die Voraussetzungen waren nach einem langen Messetag ohne Kaffeepause nicht optimal. Die Abendeinladungen fielen in meinem ersten Buchmessenjahr als Redakteurin ohnehin dürftig aus. Und dann die ständige Rede vom großen Partysterben. Früher war alles besser, berichteten die Feierveteranen, jeden Abend ein schillerndes Fest der Buchkultur, und wie bittersüß, die Kopfschmerzen am nächsten Morgen. Dieses Jahr fiel die Rowohltparty aus, beim Suhrkamp-Empfang war zeitig Schluss und die Gesichter auf der Messe sehen verdächtig frisch aus. Trotzdem beschließe ich, als es Abend wird und der Redaktionsflur dunkel, als sich die Kollegen zum Penguin-Empfang und all den anderen Veranstaltungen verabschieden, mein Glück zu versuchen.

Der Eingang des Frankfurter Hofs ist an diesem Abend von elegant gekleideten Menschen umstellt, die Englisch mit deutschem Akzent sprechen, sich Associates nennen und über die Erwähnung der Buchbranche nur milde lächeln. In der Autorenbar, einem schwach beleuchteten Raum mit ausladend dekorativen Sesseln, bekommt man einen Buchmessensnack (Currywurst mit Weißbrot für 9,50 Euro) günstiger als ein Glas Wein. Autoren sind nicht zu sehen, am Tisch nebenan geht es um Kim Kardashians Vermächtnis. Die Bedienung wiegt freundlich den Kopf. Nein, für heute sei nichts Besonderes mehr geplant.

Aus Saal 12 kommen immerhin Menschen. Das Get Together mit einer italienischen Autorin löst sich gerade auf, überall stehen halbvolle Weingläser. Reinschleichen ist kein Problem, aber Getränke werden nicht mehr angeboten und auch sonst ist die Stimmung wenig feierlich. Eine Frau mit wallendem Haar drückt den Gästen bunte Blütenaufkleber auf die Arme, als Metapher für die Hoffnung, die aus dem Roman spreche. Ob ich jetzt die Verlegerin kennenlernen wolle? Zeit, sich wieder in die Menge zu mischen. Dafür ist es aber viel zu leer. In einem Nebenzimmer fläzen zwei Jungs in weißen Hemden auf Sesseln. Sie warten auch darauf, dass irgendetwas passiert: „Später dann!“ Einer reckt den Daumen. Auf dem Weg nach draußen begegnen mir Mitarbeiter mit verschiedentlich geformten Kopfbedeckungen, die sich mit weißen Tüchern an den Scheiben der Eingangstür zu schaffen machen.

Wie nun die Zeit vertreiben? Vor dem Rathaus am Römer warten die Leute in Schlangen. Wolf Haas liest von Kindheitsverletzungen und zu viel Schokolade, seine wärmende Kaminzimmer-Stimme wird über Lautsprecher auf den Platz übertragen. Drinnen sitzt man dichtgedrängt und wagt kaum zu atmen, so wenig Luft ist übrig. Auf einem Biertisch stehen unberührt drei Flaschen Apfelwein. Jemand erzählt, dass im Bahnhofsviertel eine Digitalparty steigen soll, aber wo genau, weiß dann doch wieder keiner, und auf der Kaiserstraße geht jede Messefeier im alltäglichen Straßengelage unter. Ich bin kurz davor, den Abend im „Moseleck“ aufzugeben, aber dann meldet sich doch noch ein Kollege.

Der Kampa Verlag hat in die ZouZou Bar geladen. Davor stehen so viele Männer mit Bärten und kleinen, runden Brillengläsern, dass ungeladene Gäste nicht weiter auffallen, und überhaupt ist Kampa noch neu auf der Messe und freut sich über Gäste. Die Leiterin des Berliner Büros, Sophie Bunge, verteilt Aperol Spritz, die Frankfurter Jugend schiebt sich auf dem Weg zum Velvet-Club neugierig an den einträchtig unter der Straßenlaterne versammelten Buchmenschen vorbei, der Verleger Thomas Ganske lacht viel und zufrieden und Roman Pliske vom Mitteldeutschen Verlag fragt nach den jüngsten Skandalen. Großes Thema ist der Verlegerwechsel bei Rowohlt. Und natürlich das Partysterben. Hinter dem Mischpult steht ein blondgelockter DJ. Er ist der einzige Tänzer des Abends.

Später radle ich wieder am Frankfurter Hof vorbei. Vor der Tür warten 48 Taxis. Die Innenhof ist inzwischen voll, die Autorenbar auch, und am Eingang steht jetzt eine provisorische Bar, um die sich Frauen, deren Lippen in allen erdenklichen Rottönen schimmern, drängen. Wie auch die sorgfältig gekämmten Männer sind sie vor allem damit beschäftigt, sich nach allen Seiten umzusehen, ohne dabei Nackenschmerzen zu bekommen. Der Barkeeper verschenkt Champagner, damit die Flasche leer wird, und eine Suhrkamp-Lektorin erklärt mir, dass es natürlich ums Sehen und Gesehen werden geht.

Irgendwie also doch alles beim Alten.

12. Okt. 2018
von Elena Witzeck

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12. Okt. 2018
von Julia Bähr
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Irgendwas mit Geld und Kultur

© Julia BährWenn jeder über etwas anderes redet, ist am Ende über alles geredet.

Manchmal wird Mut ja belohnt. Und manchmal geht man optimistisch in eine Diskussionsrunde, obwohl der Titel schon verdächtig schwammig klingt: “Wertschätzungskette: von der Wertentwicklung zur Werte-Entwicklung.” Da erwartet einen dann ein Singer/Songwriter, der zur Einstimmung etwas von Glück und Pesos singt, und es dämmert selbst dem größten Optimisten: Das hier könnte ein bisschen krude werden.

Wurde es dann auch. Wenn man annimmt, dass jeder in den Titel etwas anderes hineingelesen hatte, ist es wohl von Vorteil, dass jeder der Geladenen über völlig andere Dinge sprach als die anderen. Die Dänin Else Christensen-Redzepovic blieb noch nah am (angenommenen) Thema: Sie erzählte von den Bewerbungen für Kulturhauptstädte, an denen sie mitarbeitete, und erörterte, wie Wirtschaft und Kultur voneinander profitieren könnten, dass sie gar in Firmen voneinander lernen könnten, weil Künstler dort die Kommunikation und den Innovationsgeist verbessern.

Die Kommunikation, wirklich? Das ist angesichts der Tatsache, dass Künstler meist Einzelkämpfer sind und das oft auch sehr schätzen, eine zwar schöne, aber auch etwas steile These. Aber es wird natürlich noch viel besser.

Michael Göring von der Zeit-Stiftung nämlich schloss dort zwar an (“Was können wir als Zivilgesellschaft erreichen, ohne auf die Mittel des Bundes oder der Länder zurückzugreifen?”), lenkte den Fokus dieser völlig kopflosen Runde dann aber schnell auf sich selbst und bewarb ausführlich seinen eigenen Roman. Der hat auch irgendwas mit Werten zu tun, es geht um die Kindertransporte anno 1938, und wer einen Roman findet, der nicht irgendwie was mit Werten zu tun hat, bekommt von uns ein Lustiges Taschenbuch geschenkt.

Auftritt Karl-Heinz Land, der auch ein Buch geschrieben hat, bei dem es wiederum um Zukunft geht. Dass die Technologie Ursache UND Lösung unserer Probleme sei, erfahren wir von ihm. Das hatte dann zwar mit dem Titel endgültig nichts mehr zu tun, aber ehrlich, könnten Sie den jetzt noch korrekt wiedergeben? Reden wir lieber über das, was Karl-Heinz Land uns mitteilen will: “Wer sagt denn, dass der Mensch zum Arbeiten gedacht ist? Vielleicht wär’s viel sinnvoller, in Afrika ein paar Bäumchen zu pflanzen.” Außerdem würde in ein paar Jahrzehnten niemand mehr für Geld arbeiten, das mache dann alles die Künstliche Intelligenz, der Mensch könne sich unterdessen dann eben mit irgendwas beschäftigen. Mit sonderbaren Podiumsdiskussionen etwa. Oder Kultur eben, um mit angezogener Handbremse im großen Schwung zurück zum Thema zu sliden.

Es ist jedenfalls ab und zu ganz nett zu sehen: Wenn nicht mal die Moderatorin oder die Teilnehmer des Podiums wissen, worum es geht, liegt es nicht am eigenen mangelnden Textverständnis. “Und ich sage immer: ‘Liebe Politik, gebt den Menschen Klarheit!'”, deklamiert Herr Land. Allein, die Politik hört ihn nicht. Und die Unklarheit dieser Veranstaltung geht immerhin auch fast schon wieder als Kunstform durch.

12. Okt. 2018
von Julia Bähr
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12. Okt. 2018
von F.A.Z. - Feuilleton

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Nach dem Boom

Die Diskussionsrunde “Los novíssimos: Neue Literatur aus Lateinamerika” bei der Suche nach gemeinsamen Nennern.

Gleich fünf Autoren sollten im Frankfurt-Pavillon innerhalb einer halben Stunde über gegenwärtige literarische Stimmen aus Lateinamerika unterhalten: Geovani Martins, Antonio Ortuño, Mike Wilson, Ariana Harwicz und Pilar Quintana. Ein Gespräch, hieß es in der Ankündigung. Daraus wurde ein Speed-Dating. Moderatorin Corinna Santa Cruz, die als Lektorin und Übersetzerin für Suhrkamp arbeitet, konnte jedem Autoren gerade zwei, drei Fragen stellen. Zum Beispiel: Wo steht die Literatur Lateinamerikas 50 Jahre nach dem Boom? Und: Gibt es das überhaupt noch, die eine lateinamerikanische Literatur?

Kann als gemeinsamer Nenner herhalten, dass die Autoren weit verzweigte Wurzeln haben? Antonio Ortuño mexikanisch-spanische, Mike Wilson chilenisch-argentinisch-amerikanische und Ariana Harwicz argentinisch-französische (jedenfalls lebt sie seit einiger Zeit in Paris). „Ich finde es sehr interessant, aus der Perspektive eines Ausländers schreiben“, sagt Harwicz. „Ich wohne in Frankreich, aber die argentinische Gewalterfahrung, die trage ich noch in mir – und meine Protagonisten ebenso.“

Womit wir bei einem klaren gemeinsamen Nenner wären. Auch für Antonio Ortuño ist Gewalt eines der zentralen Themen in seinen Werken. Seine Familie stammt ursprünglich aus Spanien und emigrierte im Spanischen Bürgerkrieg nach Mexiko. Für seine Großeltern, sagt er, sei Mexiko ein Ort des Friedens gewesen. Davon könne angesichts Tausender Desaparecidos, Verschwundenen, inzwischen keine Rede mehr sein. „Die Gewalterfahrungen sind sehr unterschiedlich“, sagt Ortuño. „In meinem persönlichen Fall kann ich nur sagen: Es ist mir unmöglich, nicht über Gewalt zu schreiben, lebe ich doch in einem Land, in dem Tausende gestorben und Tausende verschwunden sind.“

Für Pilar Quintana aus Kolumbien war der Anlass, Gewalt zu ihrem Thema zu machen, ein kurioses, verstörendes Ereignis. Als sie für ein paar Jahre im Regenwald lebte, sah sie eine Hündin, die tot auf dem Boden lag. Niemand kümmerte sich um den Kadaver. „Nach drei Tagen waren nur noch Knochen und Fell übrig. Da dachte ich: Der Regenwald ist der perfekte Ort für Verbrechen.“ „La Perra“ – die Hündin, heißt nun ihr Roman, der im vergangenen Jahr erschien.

Damit erschöpften sich dann aber die Gemeinsamkeiten. Die eine lateinamerikanische Literatur gibt es nicht mehr, wenn es sie überhaupt je gegeben hat. „Ich glaube, dass die lateinamerikanische Literatur sehr robust ist. Von einem einheitlichen Block aber kann man nicht sprechen“, sagt Ortuño. Es gebe sehr verschiedene Strömungen und interessante Autoren, doch nur wenige würden über Ländergrenzen hinweg gelesen. Das war ja das Besondere am Boom vor fünfzig Jahren, der die lateinamerikanische Literatur zum ersten Mal auch international ins Gespräch brachte. Autoren wie Carlos Fuentes, Julio Cortázar, Mario Vargas Llosa und Gabriel García Márquez wurden durch ihn weltbekannt. Immerhin: Auch neue Autoren, die sich in ihrer Heimat einen Namen gemacht haben, werden nun für den europäischen Markt entdeckt und übersetzt.

Dem europäischen Leser dürfte auffallen, dass die Szene heute komplexer ist. Viele Autoren experimentieren mit der Sprache, die Themen sind sehr divers. „Es gibt eine solch gigantische Vielfalt von Lebensentwürfen und individuellen Erfahrungen”, sagt Ortuño. „Daher rührt der enorme Reichtum der lateinamerikanischen Literatur. Durch sie können wir die Komplexität Lateinamerikas entdecken.”

Der argentinische Schriftsteller Tomás Eloy Martínez hat einmal gesagt, dass die Autoren der Boomzeiten, Fuentes, Cortázar, Vargas Llosa, mehr in ihrer Sprache als in ihren jeweiligen Ländern gelebt hätten. Das unterscheidet sie von der Generation nach ihnen.

Tim Niendorf

12. Okt. 2018
von F.A.Z. - Feuilleton

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11. Okt. 2018
von Andrea Diener
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Netflix, du hast die Leser geschrumpft

© Helmut Fricke / F.A.Z.Liest du noch oder bingst du schon?

Buchmarkt? Uff, oje, schwierig, seufzt die Branche, und nennt dann sogleich ein paar vielzitierte Zahlen: minus zwölf Prozent beim Buchabsatz seit 2010, siebenkommadrei Millionen weniger Leser, und es schrumpft quer durch die Geschlechter und Bevölkerungsschichten. Besonders die Dreißig- bis Fünfzigjährigen sind Sorgenkinder, denn sie setzen sich nach dem harten Bürotag lieber vor Netflix und gucken Serien.

Doch die Lage ist, so wie es der Journalist Daniel Lenz auf der Selfpublisher-Plattform beim Panel „Der Kampf um die Leser“ referiert, nicht nur verheerend. Es gab immerhin kein großes Buchhandlungssterben, und die Buchpreisbindung hilft, den Riesen Amazon in Schach zu halten. Die alten Strukturen gibt es noch, ebenso wie die meisten der guten alten Buchläden an der Ecke. Aber was macht man nun, damit das so bleibt? Und da setzt nun die große Hilflosigkeit ein, denn alle ahnen, dass das Buch von den neun bis zehn Stunden Netto-Medienzeit, die einem Menschen pro Tag zur Verfügung stehen, immer weniger abbekommt und das Internet immer mehr. Und in der Kantine reden mittags wieder alle über die Serien, die sie letztens bei Netflix geschaut haben, und kaum noch über Bücher. Die Serie ist sozial anschlussfähig. Doch auch Bücher müssten wieder “hip” werden, Bücher müssten “gehypt” werden, sagt Lenz, und dann fallen ihm immer mehr schlimme Vokabeln dazu ein. “Vertikale Plattformen” zum Beispiel, auf denen Leser entsprechend ihres Genregeschmackes bedient werden.

Der Geschäftsführer von Book on Demand, Gerd Robertz, ventilierte gute Laune und eine Liebe zur Nische. Die Branche solle sich auf die positiven Dinge besinnen und Angebote liefern für Menschen, die sich für Geschichten begeistern, sagte er, was wohl leichter gesagt ist als getan. Auch glaubt er, dass die Grenzen zwischen Verlags- und Selfpublishingtiteln verschwinden werden und neue Strukturen entstehen.

Auch Natalja Schmidt von DroemerKnaur möchte das Rad nicht zurückdrehen. „Wir müssen die Leser erst einmal wieder verstehen lernen und ihnen dann die passenden Angebote machen“, sagt sie. Da sei der Buchmarkt auch oft noch zu langsam. Die Leser seien ein schnelleres Angebot gewohnt und möchten, in Anlehnung an den Netflix-Serienkonsum, „bingen“. Das gilt naturgemäß stärker für den Belletristikbereich als für den der Feuilleton-Literatur, so ein Handke bingt sich eher schwergängig weg. Es gilt wohl für das, was Lenz „snackable content“ nennt.

Okay, bingen also. Von Netflix lernen heißt siegen lernen, dachte sich Natalja Schmidt und hatte eine Idee, die sie wenige Stunden später noch einmal auf dem Podium des Börsenvereins vortragen dufte. Der Fantasyautor Markus Heitz, mit hinreichend starker Fanbase versehen und damit kein allzu großer Risikofaktor, schreibt einen Piloten von achtzig Seiten, der in Buch- und elektronischer Form kostenlos unters Volk gebracht wird. Am Ende dieser Pilotfolge stehen ein paar Wissenschaftler, die eine verschwundene junge Frau suchen sollen, vor drei Türen, und zu jeder dieser Türen gibt es einen parallelen Roman. Man kann die drei nun einzeln oder hintereinander lesen (oder bingen), wie man will. Und wenn diese Idee namens “Doors” Anklang findet, gibt es eine zweite Staffel, bei deren Umsetzung die Leser auch einiges mitbestimmen dürfen.

„Leuchtfeuer für Leser: Wie es der Branche gelingen kann, verlorene Leser zurückzuholen“, betitelt der Börsenverein sein Panel, aber darüber redet dann wieder keiner. Sondern nur Natalja Schmidt über ihr “Doors”-Projekt, und Juliane Reichwein von Holtzbrinck über die Plattform zusammenlesen.de, die sich an Lesekreise wendet. Dort kann man nach Lesekreisen in der Nähe suchen, seinen Kreis eintragen lassen und bekommt zusätzlich Material geliefert. Auch Buchhandlungen werden mit Angeboten und Aktionen versorgt. Hübsch. Aber wie soll all das verlorene Leser zurückgewinnen? Wendet man sich da nicht eher an die Leser, die es ohnehin schon gibt?

Ungefähr das befand auch Robert Görlich in seinem Fachvortrag im Raum mit dem schönen Namen “Effekt”. Mit seinem Unternehmen juni.com entwickelt er Spezialsoftware für Verlage, er hat also ein gewisses Interesse daran, dass sein Kundenstamm prosperiert. Er sieht die apokalyptischen Zahlen vor allem als Aufforderung, umzudenken. Und fordert die Verlage auf, mehr zu experimentieren, keine Angst vor neuer Technik zu haben und nicht gleich abzuhaken, wenn etwas im ersten Anlauf nicht sofort rund läuft. Ja, das liebe Mindset, da hänge es bei den Verlagen noch, deutet Görlich an. Und stellt dann ein paar Modelle vor, wie man die Unternehmenskultur bei der Entwicklung neuer Produkte workflowmäßig ein bisschen durchrütteln kann: Trial and Error, Rapid Prototyping, Design Thinking.

Zwischen gezielter Prozessoptmimierung im Verlag und den frommen Wunsch, die Leser für gute Geschichten zu begeistern, passt eine Menge totes Holz. Viel Kampf und viel Leuchtfeuer sieht man derzeit jedenfalls nicht. Man kann sich des Eindrucks einer gewissen Hilflosigkeit nicht erwehren, wenn man die Branche so im Nebel stochern sieht und mal hier und mal da einen Testballon steigen lässt. Und vielleicht sind auch gar nicht die Verlage das Problem und nicht der Ort, etwas zu verändern. Vielleicht müssen wir einmal grundsätzlich über Arbeit und Freizeit nachdenken und darüber, warum wir abends nach dem Bürotag so platt sind, dass nur noch Netflix geht.

11. Okt. 2018
von Andrea Diener
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11. Okt. 2018
von Elena Witzeck

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Hier wird Regen noch herbeigesungen

Tag zwei, und endlich wird gesungen. Das Vertrauen in die georgische Musikkultur hatte zwar einen Dämpfer erlitten, als DJ Gigi Jikia aus Tiflis am Mittwochabend gerade pünktlich zur Feierabendzeit um sieben Uhr sein Set im Gastland-Pavillon zusammenpackte und wortlos ging (ob aus Langeweile oder weil der Wein aus war, ließ sich in der Eile nicht klären). Aber das, was kehlig und grollend aus den Mündern dieser geheimnisvoll lächelnden Frauen kommt, wiegt alles auf. Er klingt nach grauem Himmel über einem weiten Tal, nach aufziehendem Wind und Staunend-aufs-Gewitter-Warten. Und obwohl es kaum lauter ist als das Umgebungssummen der Halle, sind endlich einmal alle bei der Sache.

Das Liedgut Georgiens ist Weltkulturerbe. Wenn man Europa als Körper betrachte, sagt die Musikethnologin Imke McMurtrie, sei Georgien der Kehlkopf. Das hat mit der Geschichte des Landes zu tun, mit dem enormen Einfluss der Kirche, der Armut der Großfamilien und der Einsamkeit und erzwungenen Untätigkeit der Frauen. Auch deshalb hören sich die vom georgischen Alltag handelnden Lieder oft nachdenklich und getragen an. Die Melancholie ist Teil der georgischen Identität. Und der Gesang Teil ihres unbeirrbaren Aberglaubens: Auf dem Land werden Frauen zum Singen gerufen, wenn Dürre oder große Regenfälle bevorstehen oder Krankheiten therapiert werden. Das Zusammenschwingen ihres mehrstimmigen Gesangs soll heilend wirken.

 

Die Georgierin Tamar Buadze ist Teil des grau- und blondgelockten Ensembles. Sie hat in Georgien Frauen kennengelernt, die sich Gedanken darüber machten, was aus den Volksliedern in ihren Köpfen werden würde, wenn es sie selbst nicht mehr gäbe. Viele der Texte und Melodien wurden nie aufgeschrieben. Also begann Buadze Noten anzufertigen. „Neue Volkslieder“ nennt sie ihre Arrangements. Gemeinsam mit McMurtrie, die sie von einem Austausch mit einem deutschen Frauenchor kennt, hat sie ein Liederbuch verfasst, das im Dr. Ludwig Reichert Verlag erschienen ist und das ihr Kammerchor in die Messehalle trägt.

Für die Liedersammlung haben Buadze und McMurtrie in erster Linie mehrstimmige Frauenlieder zusammengetragen. Der aus der Grenzregion Lazeti bekannte dreistimmige Gesang ist  inzwischen selten geworden, eignet sich aber gut für Chöre. Die Männerlieder hingegen, sagt Tamar Buadze, seien bereits bestens katalogisiert. In Georgien singen Männer noch immer unter sich. Das habe sie natürlich nicht davon abgehalten, mit ihrem georgischen Frauenchor auch Männerlieder zu singen, sagt Buadze mit einem feinen Lachen. „Sie geben Kraft.“ Und warum soll Musik nicht allen gleichermaßen gehören?

Viele Lieder gelten in Georgien als Sinnbilder von Landschaften und Stimmungen. Einige verstehen die georgischen Sängerinnen selbst nicht mehr. Sie sind voller Begriffe, die aus vorchristlicher Zeit stammen und der Anrufung alter Götter dienten. Aber das spielt auch gar keine Rolle. Der einzelne ist für den georgischen Chorgesang ohnehin nicht so wichtig, was zählt, ist der gemeinsame Klang. „Dann schwingen alle Lebenserfahrungen mit“, sagt Imke McMurtrie. Eine Stimme soll nicht schön, sondern markant klingen. Sie darf brüchig und rau sein. Hauptsache, sie ist ehrlich.

11. Okt. 2018
von Elena Witzeck

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11. Okt. 2018
von Andrea Diener
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Träume in Tüten: Norwegen 2019

© Picture AllianceNicht nur beim Langlauf sind die Norweger Vorreiter: Fans bei der WM in Oslo

Es begann kryptisch. Eine Leinentüte, auf der „Der Traum in uns“ stand, beziehungsweise „The dream we carry“. Darum geht es Norwegen, Träume in Tüten? Ein poetisches Elektrokunstmusikkunstprojekt, das die Pressekonferenz des Gastlandes 2019 ein- , naja, läutete, trug nicht eben zur Aufklärung bei, worum es gleich gehen würde. Dann folgten Worte, und die waren dann zum Glück sehr klar.

Warum Norwegen? Ein wichtiger Grund, sagte Jürgen Boos, ist eine Liste norwegischer Autoren, die er auch sogleich hochhielt. Und Norwegen ist das Land, das auf Platz 1 in Sachen Pressefreiheit und Geschlechtergerechtigkeit ist. Da könnten wir und ein paar andere noch lernen, was es heißt, für Menschenrechte und für die Freiheit des Wortes einzutreten. Das fand auch Trine Skei Grande, Norwegens Kultusministerin. In Zeiten wie diesen kann Frankfurt unser Rednerpult sein, sagte sie. Jetzt gelte es, sich mit den richtigen Leuten zu verbünden, das tun wir hier.

Autoren und Politik also. Drei Autoren waren auch da, damit wir uns schon einmal darauf vorbereiten können, wer da so kommt (ja, Knausgard bestimmt auch): Erling Kagge, Entdecker, Verleger und Autor. Aktuell ist er vor allem Autor des Buches „Silence in a time of noise“, in dem er über die Wichtigkeit der Stille schreibt. Er lief über fünfzig Tage zum Nord- und zum Südpol und kennt sich deshalb mit Stille aus. Maja Lunde schrieb Kinderbücher und Drehbücher und ist in Norwegen schon sehr berühmt. In Deutschland wurde sie mit „Die Geschichte der Bienen“ bekannt, die hier ein enormer Bestseller war.

Und Linn Ullmann, Autorin von „Die Unruhe“, die ihre Laufbahn als Journalistin und Literaturkritikerin begann und nun dazu übergeht, selbst Geschichten zu erzählen und damit sehr erfolgreich ist. „Bücher zeigen auch unsere Schwächen“, sagte sie, denn sie möchte ihren Ängsten, Unsicherheiten, dem Leben, eben allem begegnen und es verstehen lernen. Und da seien das Lesen und das Schreiben Verbündete, das geht in eins. Denn in der Fiktion finde sich oft sehr viel Wahrheit.

Und gleich nach der Pressekonferenz ging es mit den Autoren weiter, die hier eben vorgestellt wurden, nämlich vorlesend. Bleibt die Frage, was es mit dem Traum in Tüten auf sich hat. Der bezieht sich auf ein Gedicht von Olav H. Hauge, und wer will, kann es zum Beispiel hier nachlesen.

11. Okt. 2018
von Andrea Diener
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