
Der letzte Lesetag beim Bachmannpreis begann mit einem Text auf der Spur von Trilobiten, Pfeilschwanzkrebsen und Gliederfüßern, genauer gesagt: auf der Kotspur. In Ines Birkhans Romanauszug “abspenstig” verschwindet eine Frau von der Erdoberfläche, um sich unter Wasser von einem Skorpion tätowieren zu lassen – kein Problem in Klagenfurt. Aber so recht einen Reim machen konnte sich dann doch niemand darauf. Juror Klaus Kastberger immerhin hatte geologische Hausaufgaben zum Text gemacht und konnte vermelden, dieser vermische munter die Erdzeitalter: “Diese Tiere sind sich nie begegnet.”
Fast einhellig begeistert hingegen zeigte sich die Jury dann von einem Zusammentreffen zwischen Fliege und Fisch. In einer merklich österreichischen, sprachspielerischen Suada lässt Leander Fischer einen Erzähler zu Wort kommen, der Lehrling und Lehrer zugleich ist, und gerade darin liegt der Reiz: Als Musiklehrer ist er einer, der cholerisch “talentierte Kinder mit zweitklassigen Instrumenten traktiert” und für seine Ausbrüche, so erfährt man en passant, bereits eine Abmahnung erhalten hat. Als Fliegenfisch-Schüler eines Mannes namens Ernstl ist der Erzähler dagegen selbst der Dumme, und aus dieser Diskrepanz macht der Text eine Art Parabel über das Expertentum mit weitem Deutungsraum. Hubert Winkels etwa sah darin den “brutalen Opferprozess” verbildlicht, der “der Bildung von Kunst vorausgeht”, Hildegard Keller einen gelungenen “Text über Miniaturkunstwerke” (also vielleicht auch die Erzählung selbst), und Kastberger gar ein “Capriccio über Klagenfurt”.
Auf eine solche Höhe von Text und Diskussion war danach kaum noch einmal zu gelangen, und Lukas Meschiks “Mein Vater ist ein Baum”, der von einem hinterbliebenen Sohn erzählt wird, der merkwürdigerweise behauptet, alle Väter seien gleich, provozierte von Juryseite harte Kritik. Nicht mehr als eine klischeebeladene Traueranzeige (Winkels) mochte man darin sehen, die alles wirklich Interessante ausspare (so Juror Michael Wiederstein).
So einig die beiden Kritiker sich hier schienen, so maximal uneins waren sie dann bei der Diskussion des letzten Tagestextes. Martin Beyers “Und ich war da” setzt eine erfundene Erzählerfigur in den historischen Kontext der Hinrichtung von Widerstandskämpfern der “Weißen Rose” – und handelte sich damit von mehreren Juroren den moralischen Vorwurf ein, deren Geschichte strategisch auszuschlachten.
Der Erzähler, eine typische Mitläufer-Figur, wird Henkersgehilfe bei Johann Reichhart (1893 bis 1972), dem der Wirklichkeit entnommenen Scharfrichter der Nationalsozialisten, der neben vielen anderen auch Hans und Sophie Scholl mit dem Fallbeil hinrichtete.
Der Versuch des Autors Martin Beyer, die Mittäter-Perspektive literarisch zu gestalten, stieß bei einigen Juroren auf vehemente Ablehnung – und brachte dem diesjährigen Bachmannpreis-Wettbewerb zum Schluss noch eine Art Takis-Würger-Klondebatte ein. Denn die fragwürdig klischierte Gestaltung von Takis Würgers Roman “Stella” über die jüdische Nazi-Kollaborateurin Stella Goldschlag, der Anfang dieses Jahres bei Hanser erschien, ist vielen im Literaturbetrieb offenbar noch sehr präsent und darüber hinaus exemplarisch geworden für die Frage: Darf man so vom Nationalsozialismus erzählen?
Dass man es nicht dürfe, bekräftigten in der Jurydebatte Insa Wilke, Hubert Winkels und Klaus Kastberger – und übertrugen diesen Schluss auch auf die Erzählung von Martin Beyer: Eben weil auch diese sich die Geschichte der historischen Opfer schamlos zunutze mache.
Dagegen protestierte der Juror Michael Wiederstein, der Beyer eingeladen hatte. Wiederstein sah in Beyers Hauptfigur August Unterseher ein “Denkmal für die Banalität des Bösen” und verteidigte dessen von Zweifeln und Reue geprägte Wahrnehmung der eigenen Mittäterschaft als gerade nicht nur klischeehaft, sondern literarisch besonders. Die anderen Juroren wollten Wiederstein aber nicht folgen. Auch insofern war die Klagenfurter Debatte also ein Spiegelbild oder eine Wiederholung der Würger-Debatte, bei der wenige Verteidiger einem Gros von Kritikern gegenüberstanden.
In beiden Fällen ist es allerdings fraglich, ob es der moralischen Empörung überhaupt bedarf, um die literarischen Texte zu kritisieren oder gar zu disqualifizieren. Denn bei “Stella” wie auch bei “Und ich war da” ist es einfach, die Klischeebeladenheit herauszustellen. Es genügt schon, festzustellen, was daran Kitsch ist (so auch Insa Wilke über Marin Beyers Text), nämlich dort ein Vater, der erst nach Verlust eines seiner Söhne im Krieg ausruft: “Das werde ich dem Hitler, diesem Sauhund, nie verzeihen”, wie in einem schlechten Fernsehfilm. Oder die plakative Zeichnung der Figur Johann Reichharts, über die es heißt, sie sei von “tiefgefrorener Gleichgültigkeit”.
Insofern war Michael Wiedersteins Aufbegehren in Bezug auf die moralische Kritik nachvollziehbar, nicht aber in Bezug auf die ästhetische.