
Ich muss diesen Artikel nicht schreiben, ich darf es tun. Nicht müssen, dürfen: Das muss ich mir jetzt bei allem sagen, was ich tue. Pardon, ich meine: Das darf ich mir jetzt bei allem sagen. Ich komme gerade von einem Schamanen, da kann man ja mal etwas verwirrt sein.
Am Stand des Schirner Verlags liest nämlich zwei Mal täglich Reinhard Stengel Krankheiten aus Händen. Er hat eine Schamanenausbildung bei einem nordamerikanischen Indianerstamm gemacht, eine ganz klassische Biographie in dieser Branche also. Jetzt erklärt er im Fünfminutentakt Besucherinnen der Buchmesse, wo ihre Probleme liegen. Nur ein Mann hat sich unter das interessierte Trüppchen gemischt. Der ist dafür besonders interessiert und stellt Nachfragen: Was nun also der schiefe Mittelfinger genau bedeute? Ein Problem mit dem Selbstwertgefühl. Was man da tun könne? Sich vier Wochen lang jeden Tag zehn Minuten nackt vor den Spiegel stellen. Diesen wertvollen Ratschlag erhalten gleich zwei Damen.
Die nächste zeigt sich widerständig. Sie zeigt, wie sie klatscht, mit der rechten in die linke Hand, und trotzdem behauptet Stengel, sie sei Linkshänderin. Nur unter Murren lässt sie diese steile These durchgehen. Dann erwähnt der Schamane ihre feuchten Hände und erklärt, wenn man schwitze, sei im frühen Stadium der Schwangerschaft etwas nicht ganz sauber abgelaufen mit der Elternliebe. Ob es von der Seite des Vaters oder der Mutter problematisch ist, erkennt man übrigens – na? – an den Händen. Die feuchten Hände will die Dame jedoch lieber ihrer Outdoorjacke zuschreiben, die sie nicht abgelegt hat. Aber damit kommt sie nicht durch. Eine warme Jacke, davon schwitzen! Ha! Die Umstehen lächeln wissend.
Bei mir zeigt übrigens schon die Sitzhaltung, dass ich in der linken Körperhälfte ein Problem habe. Mein kleiner Finger strebt für Stengels Geschmack etwas zu weit nach außen, und was eigentlich mit meiner Mutter wäre? Ah, eine liebevolle Mutter. Dann war sie sicher überbehütend. Da müsse ich mich heute sicher permanent fragen, ob ich gut genug sei. Die Engführung erschließt sich mir nicht, auch fehlt mir jegliches Identifikationspotential mit dieser messerscharfen Analyse. Meinem Mittelfinger hingegen sieht man an, dass ich ein “Kümmerer” bin. Das kann, wie wir bei der ersten Dame erfahren haben, in Arthrose münden. Ehe es soweit kommt, nimmt der Schamane meine Mittelfinger in die Hände und schließt für ein paar Sekunden die Augen. Anschließend nennt er mir die eingangs erwähnte Aufgabe. Und dann muss, nein, darf ich gehen.
Julia Bähr