
Gemessen an seinen Titeln und Thesen ist Thomas Piketty ein Mann von überraschend bescheidenem Auftreten. In Begleitung seiner deutschen Verlagsbetreuerin betritt er den Hessischen Hof, in seinen kleinen, wachen Augen liegt ein freundliches Funkeln, er scheint frei von Allüren.
Verwegen ist Piketty nur in seinen Forderungen. In den Messehallen hat er gerade für die Aufdeckung aller Vermögen plädiert. Danach ging es zur Frankfurter Universität, wo er der versammelten akademischen Prominenz seine Daten und Folien präsentierte, mit denen er den Kapitalismus als Quelle wachsender Ungleichheit identifizierte. Das Buch, in dem er das niederschrieb, hat ihn über Nacht berühmt gemacht: „Das Kapital im 21. Jahrhundert“. An diesem Ruhm will auch der Beck Verlag partizipieren, der auf seinem Messeempfang gern einen internationalen Starintellektuellen präsentiert. Vorletztes Jahr war das Jürgen Osterhammel, der Welthistoriker. Letztes Jahr, zum 250. Jubiläum von Beck, ging die Veranstaltung im Tumult streitender Verlagshistoriker unter.
Von der Weltgeschichte ist Piketty gar nicht so weit entfernt, auch wenn er ausgewiesener Ökonom ist. Seine Originalität liegt ja gerade darin, dass er einer bekannten These mit Daten aus drei Jahrhunderten und vielen verschiedenen Nationen einen bezwingenden historischen Unterbau gegeben hat. Am Ende ließ sich aus der Empirie fast mit Gesetzeskraft die Formel ableiten, dass die Kapitalerträge im Kapitalismus die Einkünfte aus Arbeit stets übertreffen. Ist das ein ewiges Gesetz? Wird das immer so sein?, fragt ihn der Moderator Ralph Bollmann. Gerade heute, wo die Zinsen niedrig sind und die Immobilien teuer, deutet ja wenig darauf hin. Er sei nicht gut als Prophet, sagt Piketty, wenden wir uns lieber der Vergangenheit zu.
Beim Vergleich historischer Steuertatsachen kommt Piketty zu sich selbst. Seine Rede verflüssigt sich, springt über Zeiten und Länder, es ist ihm jetzt oft schwer zu folgen. Er wünscht sich eine von Kontinent zu Kontinent differenzierte Lektüre seines Buches. Europa hat den besseren Sozialstaat, es sollte sich vor allem auf das konzentrieren, was sein Buch zu Staatsschulden sagt. In der Geschichte ist man ganz unterschiedlich damit umgegangen. England zahlte seine Staatsschulden über hundert Jahre lang stückweise zurück, Deutschland und Frankreich nach dem Weltkrieg überhaupt nicht. Die Formel von der Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens ist bei Piketty noch ganz intakt.
Für französische Leser ist die Kombination aus Ökonomie, Politik und Sozialwissenschaft nicht ungewöhnlich. Auch die These ist ja nicht neu. Schon der Occupy-Slogan „Wir sind die 99 Prozent“ wies auf das eine Prozent hin, das in den Vereinigten Staaten zwanzig Prozent des Reichtums besitzt. Ist es nicht trotzdem erstaunlich, dass sein Buch gerade in den Vereinigten Staaten so eine gewaltige Resonanz hatte, wo das meritokratische Ideal so ausgeprägt ist wie nirgends sonst? Piketty zögert einen kurzen Augenblick: Nein, Zufall ist es nicht, denn die Wirklichkeit unterhalb des Ideals hat ziemliche Sprengkraft. Die Vereinigten Staaten sind das Land, in dem die Reichtumskonzentration mit Abstand am größten ist. Seine Zahlen zeigen ja gerade das Trügerische am Versprechen des amerikanischen Traums, dass jeder es schaffen könne.
Piketty ist ein pragmatischer Radikaler. Den Occupy-Cheftheoretiker David Graeber findet er ganz interessant, aber die direkte Aktion, der Protest auf der Straße ist seine Sache nicht. Er will konstruktive Verbesserungen, und das Steuerrecht ist der Hebel, mit dem er vieles für erreichbar hält. Aber ist nicht die Chance zu tiefgreifenden Veränderungen mit der Finanzkrise folgenlos verstrichen? Gehen seine Forderungen nicht viel zu weit? „Eine Vermögenssteuer von bis zu achtzig Prozent. Das ist mehr als die deutsche Linkspartei fordert“, sagt Moderator Bollmann unter Publikumsgelächter. Das sei nur der Endpunkt, kontert Piketty, die Kernidee ist die Staffelung, die im ganz Kleinen beginnt. Es fällt ihm nicht schwer, hundert historische Verweise auf erfolgreiche Vermögensbesteuerung aus dem Ärmel zu schütteln, selbst in den Vereinigten Staaten. Und er habe noch keinen Manager gesehen, der besser arbeitete, weil er zehn statt fünf Millionen verdiente. Am liebsten würde er dem Publikum im Hessischen Hof jetzt wohl noch seine Daten und Folien zeigen, aber der Abend ist spät und man hat die Botschaft verstanden.
Thomas Thiel