Très bien. Im Pavillon des diesjährigen Gastlandes kann man schnell den großen Marcel Proust zu Fall bringen. Dazu bedarf es aber nicht mal großer Anstrengung, Vorsätze, Kanonverachtung oder andere Literaturkritik – es reicht, sich nah an eines der vielen offenen Regal zu stellen und eine unachtsame Bewegung auszuführen. Eine kurze Drehung im Gespräch und – oh pardon! – ein Band der „Recherche“ geht mit einem Knall zu Boden. Hebt man das Buch wieder auf, um es zurück ins Regal zu stellen, erkennt man: Die großen Franzosen, alle sind sie da, alle beieinander. Proust, Hugo, Balzac und sogar der große, aber geächtete Louis-Ferdinand Céline stehen dort Spalier.
Frankreich als Literaturland muss man in Deutschland wirklich nicht mehr „entdecken“ – man kennt sich, man schätzt und übersetzt sich. Und als Land ist es mit der Grande Nation so wie auch mit den Nachbarn im eigenen Haus: Man bekommt oft mehr von ihnen mit, als sie glauben. Daher ist die Ausrichtung des französischen Pavillons auch eine andere als beispielsweise in den Vorjahren, in denen die Gastländer genuin sich selbst präsentiert haben.
Unter dem Motto „Francfort en français“ scheint der Auftritt des diesjährigen Gastlandes viel mehr ein buchmessenlanger Handshake zu sein. Hier geht es um Frankreich und Deutschland. Und in diesem Pavillon wird die deutsch-französische Freundschaft geknüpft und geknotet wie ein alles überstehendes Freundschaftsbändchen. Auch sprachlich rücken diese beiden Länder näher aneinander: Es wurde in der Halle auf ein gewisses Wording gesetzt, dass man als „francofiziert“ bezeichnen könnte. Wenn man beispielsweise die Bühne sucht, auf der ein großer Teil des Gastland-Programms stattfindet, dann muss man nur das Schild finden, an dem in dicken Lettern „La Grande Bühne“ zu lesen ist.
Diese sprachliche Spielerei ist aber nicht das einzige Überraschende des Auftritts. In den letzten Jahren haben die Gastländer ihren Pavillon stets abgehangen, abgedunkelt und den Raum auch hermetisch wirklich zu einem eigenen Raum gemacht. Abgekapselt von der Messe, ganz in eigenem Licht – zu dem die Sonne selten beitrug. Es ist zwar etwas bizarr, wenn Tageslicht überrascht, doch so ist es in dem Pavillon mit den offenen Fenstern. Zudem verblüfft die offene Innenarchitektur. Aus den letzten Jahren kennen wir aufwendige, begehbare Gewürz-Inseln und in den Boden eingelassene Vitrinen, doch 2017 steht im Zeichen des Regals. Hölzern wie in der Bibliothek. Und schlicht, durchlässig und mehrere Meter hoch wie im Baumarkt.
Gefüllt sind diese Raumtrenner mit angeblich über 30.000 Titeln von französischen und francophonen Autorinnen und Autoren. Was aber ist drin? Natürlich nicht nur antiquarische oder neue Auflagen der obligatorischen Klassiker. Den Verantwortlichen ging es darum, „die Vielfalt der francophonen Literatur darzustellen“, sagt Paul de Sinety, Vorsitzender des Ehrengastauftritts. Deshalb gibt es neben einer großen mit Flatscreens ausgestatteten Archiv-Sektion einige ebenso mit Flatscreens ausgestattete Kinderbuch- und Gegenwarts-Bereiche. Und wer auf die noch technisiertere Seite der Literatur steht, der findet Erfüllung in Form einer VR-Brille. Man geht ja mit der Zeit.
Einen großen Teil der ausgestellten Werke nehmen Comics und Satire-Zeitschriften ein, die in Frankreich einen anderen – soll heißen: größeren – Stellenwert als in Deutschland haben. Hier kann man sich von “Lucky Luke” (trotz belgischer Feder!) über alte “Charlie Hebdo”-Ausgaben (damals noch als „L’Hebdo Hara-Kiri“) bis hin zu in Deutschland vollkommen unbekannten Comics wischen. Benutzerfreundlich auf dem Touchscreen. Selbstverständlich.
Doch wieder zurück zur deutsch-französischen Freundschaft, mes amis. Das Kernstück des modernen, französischen Pavillons ist eine alte deutsche Erfindung: eine Gutenberg-Presse. Dort sollen Angela Merkel und Emmanuel Macron am Dienstagabend nach gründlicher Besichtigung die erste Seite der Menschenrechtserklärung drucken, wie aus dem Élysee-Umfeld bekannt gegeben wurde. Symbolträchtig. Aber pas de problème: Eigentlich sollten alle Menschen Freunde sein. Nicht nur Deutsche und Franzosen.
Wie dem auch sei – continuez im Text! Danach räumen die Politiker das Feld für die schöne Literatur. Im Laufe der Woche sollen immer wieder francophone Autoren an den Holz-Apparat treten und die erste Seite ihres Buches drucken. Darunter werden sein: Yasmina Reza, Leila Slimani, Michel Houellebecq, und – Moment! – Michel Houellebecq? Ja, auch der. Es wurde zwar nie danach verlangt, aber: Es wird geschehen! Und es ist eine wundervolle Vorstellung. Michel Houellebecq wird im Schweiße seines grimmigen Angesichts an der Gutenberg-Presse stehen und die erste Seite seines Romans „Unterwerfung“ drucken – mit gespanntem, von Druckerschwärze verschmiertem Bizeps und glimmender Zigarette im Mundwinkel, natürlich. So dürfen wir uns das vorstellen. Buchmesse, please make it happen! Am Ende der Woche soll aus diesen gestampften ersten Seiten ein Buch gebunden werden. Und dann werden sie Platz nehmen, die Autoren, auf „La Grande Bühne“ – um sich über ihre ersten Sätze zu unterhalten.