
Nach der Flaute des ersten Lesetages, der noch keinen Gewinnertext hervorbrachte, stellt sich die Sache am Freitag anders dar. Es wurde mehr gewagt, es wurde mehr gewonnen, und auch die diskussionsfreudige Jury war sich mitunter einig. Es muss schon mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht am Nachmittag einen Siegertext gehört haben. Doch der Vormittag begann sicher nicht mit einem solchen.
Erotische Bekenntnisse von Zahnärztinnen sind in der deutschen Gegenwartsliteratur noch vergleichsweise rar. Insofern fügt Corinna T. Sievers (Text) mit “Der Nächste, bitte” dem Genre durchaus Neues hinzu. Recht sachlich trägt hier die Inhaberin einer Kleinstadtpraxis ihre sexuellen Begegnungen mit Patienten vor und scheut auch nicht vor dem ein oder anderen drastischen Begriff zurück. Ein wenig verstört war die Jury von der “Zahnärztin, die davon besessen ist, dass Martin Walser in sie eingefahren ist” (Klaus Kastberger) schon, und das nicht ganz zu Unrecht. Bemächtigt sich hier eine Frau einer männlich potenten Sprache, spricht man so halt einfach über Lust, ist das ein Spiel mit Fiktionalität, weil die Autorin bekennendermaßen selbst diesen Beruf ausübt? Eigentlich, so Insa Wilke, sei das doch ein Text über Ekel. Allerdings sei die Groteske nicht konsequent genug durchgeführt und bediene damit letztendlich doch eine Männerphantasie.
Genau das Gegenteil von plakativ der folgende Text von Ally Klein, deren Debütroman im August erscheint. “Carter” heißt der Roman, und genauso heißt der Auszug, den Klein hier liest. Doch bis wir der gleichnamigen Figur begegnen, muss die Erzählerin eine veritable Panikattacke durchleiden, die ihre Wahrnehmung und Perspektiven verschiebt. Während die Schwarmintelligenz der Twitternutzer das sofort einordnet (und ich bin sehr dankbar dafür), tappt die Jury im Dunkeln. Winkels vermutet kosmologische Zusammenhänge, Hildegard Keller wird handwerklich und rät der Autorin, Adjektive zu streichen. Eventuell sei das ungenau, wendet Insa Wilke ein und fühlt sich sogleich kleinkariert. Es sei hier, so Klaus Kastberger, schwieriger, zu sagen, warum der Text schlecht sei als warum er gut sei, und alle bisher vorgebrachten Argumente würden der Intention nicht gerecht. Ob die Schwarmintelligenz recht hat und die Intention darin bestand, die Wahrnehmung eines Menschen während einer Panikattacke nachzuzeichnen, weiß nur die Autorin selbst – und der Rest dann, wenn der Roman erscheint.
Schon viele Autoren und Autorinnen mit osteuropäischen Wurzeln lasen in Klagenfurt, und oft waren sie höchst erfolgreich. Dana Grigorcea, Katja Petrowskaja, Saša Stanišić oder die jüngst mit dem Büchnerpreis ausgezeichnete Terézia Mora nahmen am Wettbewerb teil und gewannen Preise. In diesem Jahr war es Tanja Maljartschuk (Text), die auf Einladung von Stefan Gmünder die Geschichte einer vorsichtigen Annäherung zwischen einem Wanderarbeiter und einer alten dementen Dame las, und sicherlich nicht unbepreist nach Hause gehen wird. Endlich eine Geschichte! seufzte die Jury auf. So schlicht und doch so komplex! Man habe es mit einem Genre zu tun, so klärt Klaus Kastberger auf, das in Österreich recht verbreitet sei, nämlich das des Schelmenromans Schwejkscher Ausprägung, der unter osteuropäischen Arbeitsmigranten spielt. Warum oh warum, könnte man auch fragen, müssen Texte, in denen osteuropäische Arbeitsmigranten vorkommen, aber eigentlich immer, wirklich immer so klingen? Ist das irgendwie ästhetisch zu begründen – oder bedient es eher die Erwartung westeuropäischer Leser, die alles, was aus östlich von Wien kommt, bittschön gerne in diesem leicht naiv-verschmitztem Ton dargereicht bekommen wollen? Und ab wann gleitet so ein Ton in Kitsch ab? Fragen über Fragen, die die Jury sich heute aber nicht stellte.
Und auch beim nächsten Text hatte man wenig nachzubohren, dafür umso mehr zu jubeln, und zwar zu Recht. Bov Bjerg, seit seinem Roman “Auerhaus” kein unbekannter Lesebühnenvorleser mehr, sondern veritabler Erfolgsschriftsteller, las eine beängstigend perfekte Kurzgeschichte mit dem Titel “Serpentinen” (Text). Ein Vater, ein Sohn, Ferientage im Gebirge und viele Leerstellen, endlich einmal, und die größte Leerstelle ist die Mutter. Von den Vorfahren gibt der Erzähler preis, dass sie sich umgebracht haben, einer nach dem anderen verfiel dem Suizid, und was macht man mit so einer Familiengeschichte? Wie übt man sich im Überleben? Und mutet man das dem Sohn zu? Das ganze düstere Gepäck stellt Bjerg gleich an den Anfang, da steht es dann herum und dräut über die lapidar erzählten Ferientage in Museen und Höhlen und was sonst Jungs so Spaß macht hinweg. Spektakulär unspektakulär sei das, freut sich Insa Wilke. Jahrelange Bachmann-Zuschauer bekommen endlich die Antwort darauf, was für die ewig Radikalität einfordernde Hildegard Keller eigentlich radikal sei, nämlich das hier, was für eine Erlösung. Viele Einwände gibt es dann auch nicht, und wenn, dann nur mit dem Hinweis, dass das ja eh ein guter Text gewesen sei. Bov Bjerg weiß also hoffentlich, daß diese Plexiglasstelen, die man in Klagenfurt bekommt, im Handgepäck wirklich unhandlich sind und besorgt sich rechtzeitig irgendwo ein Leinensackerl.
Es gib wohl keinen undankbareren Startplatz als den nach Bov Bjerg, aber Anselm Neft musste da durch, und das auch noch an seinem Geburtstag. Sein Text trägt die Überschrift “Mach’s wie Miltos!” und führt in die gespaltene Psyche eines Menschen, dem alles abhandenkam, sein bürgerliches Leben wie auch sein Selbstverständnis, und der nun mit Hund Lucy auf der Straße lebt. Der bürgerliche und Miltos spielen good Cop, bad Cop, zwei Seiten einer Medaille, aber wer sich hier wen einbildet, das bleibt erfreulich unscharf. Neft orchestriert seinen Text mit viel Verve und Schmackes, um die Leser und Zuhörer für das Schicksal seines Protagonisten zu gewinnen – und hätte doch besser auf seine Figur vertraut, die nun wirklich interessant genug ist. Juror Hubert Winkels fühlt sich emotional erpresst, und Klaus Kastberger vermutet, dass das eher für eine große Bühne gemacht sei, nicht für eine intime Lesesituation wie hier im Studio.
Am Samstag folgen vier weitere Autoren, dann muss sich die Jury auf eine Shortlist einigen – und das Publikum darf über den Publikumspreisträger abstimmen, bevor am Sonntag die Preise verliehen werden.