Literaturblog

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Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 2019

Hier wird Regen noch herbeigesungen

Tag zwei, und endlich wird gesungen. Das Vertrauen in die georgische Musikkultur hatte zwar einen Dämpfer erlitten, als DJ Gigi Jikia aus Tiflis am Mittwochabend gerade pünktlich zur Feierabendzeit um sieben Uhr sein Set im Gastland-Pavillon zusammenpackte und wortlos ging (ob aus Langeweile oder weil der Wein aus war, ließ sich in der Eile nicht klären). Aber das, was kehlig und grollend aus den Mündern dieser geheimnisvoll lächelnden Frauen kommt, wiegt alles auf. Er klingt nach grauem Himmel über einem weiten Tal, nach aufziehendem Wind und Staunend-aufs-Gewitter-Warten. Und obwohl es kaum lauter ist als das Umgebungssummen der Halle, sind endlich einmal alle bei der Sache.

Das Liedgut Georgiens ist Weltkulturerbe. Wenn man Europa als Körper betrachte, sagt die Musikethnologin Imke McMurtrie, sei Georgien der Kehlkopf. Das hat mit der Geschichte des Landes zu tun, mit dem enormen Einfluss der Kirche, der Armut der Großfamilien und der Einsamkeit und erzwungenen Untätigkeit der Frauen. Auch deshalb hören sich die vom georgischen Alltag handelnden Lieder oft nachdenklich und getragen an. Die Melancholie ist Teil der georgischen Identität. Und der Gesang Teil ihres unbeirrbaren Aberglaubens: Auf dem Land werden Frauen zum Singen gerufen, wenn Dürre oder große Regenfälle bevorstehen oder Krankheiten therapiert werden. Das Zusammenschwingen ihres mehrstimmigen Gesangs soll heilend wirken.

 

Die Georgierin Tamar Buadze ist Teil des grau- und blondgelockten Ensembles. Sie hat in Georgien Frauen kennengelernt, die sich Gedanken darüber machten, was aus den Volksliedern in ihren Köpfen werden würde, wenn es sie selbst nicht mehr gäbe. Viele der Texte und Melodien wurden nie aufgeschrieben. Also begann Buadze Noten anzufertigen. „Neue Volkslieder“ nennt sie ihre Arrangements. Gemeinsam mit McMurtrie, die sie von einem Austausch mit einem deutschen Frauenchor kennt, hat sie ein Liederbuch verfasst, das im Dr. Ludwig Reichert Verlag erschienen ist und das ihr Kammerchor in die Messehalle trägt.

Für die Liedersammlung haben Buadze und McMurtrie in erster Linie mehrstimmige Frauenlieder zusammengetragen. Der aus der Grenzregion Lazeti bekannte dreistimmige Gesang ist  inzwischen selten geworden, eignet sich aber gut für Chöre. Die Männerlieder hingegen, sagt Tamar Buadze, seien bereits bestens katalogisiert. In Georgien singen Männer noch immer unter sich. Das habe sie natürlich nicht davon abgehalten, mit ihrem georgischen Frauenchor auch Männerlieder zu singen, sagt Buadze mit einem feinen Lachen. „Sie geben Kraft.“ Und warum soll Musik nicht allen gleichermaßen gehören?

Viele Lieder gelten in Georgien als Sinnbilder von Landschaften und Stimmungen. Einige verstehen die georgischen Sängerinnen selbst nicht mehr. Sie sind voller Begriffe, die aus vorchristlicher Zeit stammen und der Anrufung alter Götter dienten. Aber das spielt auch gar keine Rolle. Der einzelne ist für den georgischen Chorgesang ohnehin nicht so wichtig, was zählt, ist der gemeinsame Klang. „Dann schwingen alle Lebenserfahrungen mit“, sagt Imke McMurtrie. Eine Stimme soll nicht schön, sondern markant klingen. Sie darf brüchig und rau sein. Hauptsache, sie ist ehrlich.