
Der temporäre Geschmacksverlust ist manchmal unerklärlich. Er kann auch mit schwerer Krankheit zusammenhängen, was nicht zu hoffen ist. Erklären aber, was die Klagenfurt-Jury dazu bringt, Belanglosigkeitsprosa wie die von Yannic Han Biao Federer oder verunglückten Manierismus wie den von Daniel Heitzler einigermaßen geschlossen für gut zu befinden, kann man nicht.
Federers selbtreflexive Trennungsgeschichte “Kenn ich nicht”, die den Autor selbst als Randfigur auftauchen lässt, wirkte im Vergleich zu den zahllosen paradigmatischen Vorbildtexten von Max Frisch bis Joshua Cohen wie ein sehr matter Abglanz. Die archivarische Wirklichkeitsbeschreibung des nach einem Beziehungsende heimatlosen Erzählers, der zwischen Köln und Kroatien durch die Gegend schlittert, erinntere Michael Wiederstein nicht zu Unrecht an Christian Krachts “Faserland”, aber, wie der Juror ebenfalls nicht zu Unrecht bemerkte, “sehr heruntergedimmt”. Warum derselbe Juror dann trotzdem noch einen Sonderpreis für den besten letzten Satz – “Am Hafen scheißt mir eine Möwe in die rechte Sandale, es stinkt und klebt” – ausloben wollte: Ebenfalls unerklärlich.
Was Daniel Heitzlers Text betrifft, eine mexikanische Rancho-Komödie mit dem Titel “Der Fluch”, die von einem Nachbarschaftsstreit handelt, ist immerhin zu erklären, warum sich Insa Wilke davon an “Lucky Luke” erinnert fühlte. Die Protagonisten heißen Pancho und Flaco und sind tatsächlich Comicfiguren. Leider hat der Autor seine Stilmittel aber nicht im Griff. Wo die Protagonisten einander mit “Amigo” anreden, der Erzähler aber geschwollen über die “kraniofzialen Muskelfasern dieses Kolosses” spricht oder über jemanden, der “in effctu abergläubisch” ist, passt etwas nicht zusammen. Gedehnt langsam vorgetragen vom Autor, war der Fortschritt “durch Peinigung zur Reinigung”, den in diesem Text am Ende ein Peyotl-Trip besorgen muss, leider nicht nachvollziehbar. Es blieb bei der Pein, die immerhin auch Juror Klaus Kastberger empfand und daher bekundete, bei der Lobesparty seiner Kollegen nicht mitfeiern zu können.
Die typische Heterogenität eines Klagenfurt-Lesetages ermöglicht es aber meist, dass für jeden Geschmack etwas dabei ist und man im besten Fall auch provoziert, verstört oder beglückt wird. Der reportagehafte Text von Ronya Othmann, der, auf Erfahrungen der Autorin und ihrer Familie basierend, die Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Jesiden im Jahr 2014 durch den sogenannten Islamischen Staat beschreibt, verstörte und provozierte die Jury derart, dass einige meinten, ihn aus Respekt vor seinem Wirklichkeitshintergrund gar nicht kritisieren zu können (so Hildegard Keller). Insa Wilke plädierte vehement dagegen – gerade auch solche (nichtfiktionalen) Texte gehörten zur Literatur und müssten kritisiert werden.
Eine Qualität des Textes wurde dann in seiner markierten Zeugenschaft der Erzählerin ausgemacht, die gängige journalistische Narrative vom furchtbaren Geschehen in und um Shingal im August 2014 in Frage stelle und darüber hinaus Sprachkritik an Begriffen wie “Greueltaten” betreibe. Dem Schrecken von Othmanns (Nach-)Erzählungen konnte sich wohl niemand entziehen – und doch blieben die Kritiker es ein bisschen schuldig, auch genauer zu bestimmen, was an diesem Text besonders gut gemacht ist. Dass er wie Hofmannsthals “Chandosbrief” eine Art beredte Sprachkrise thematisiert, könnte ein Anfang sein. In diese Richtung ging jedenfalls Hubert Winkels’ Verweis auf den “Unsagbarkeitstopos” der Literaturgeschichte, den Othmann hier neu beschwöre.
Beglückt sein schließlich konnte man von dem im etwas engeren Sinne literarischen Text “Der Schrank” von Birgit Birnbacher, der mit soziologischer Kühle, vielleicht auch Sarkasmus, die Großstadteinsamkeit einer Frau und die Entfremdung von Arbeit und Mitmenschen beschreibt. Um das Leben dieser Frau zu schildern, stellt sich die Erzählerin einen namenlosen Beobachter vor, dem sie Rechenschaft über ihre bisherige Existenz ablegt – wenn auch nicht immer ehrlich: “Zur Vortäuschung eines Privatlebens erzähle ich vom Studium”, heißt es einmal. Ihrer Mutter erzählt die Frau, sie sei “Teilnehmerin einer Studie über Lebensverhältnisse”: ein hübsches, selbstreflexives Bild für die ganze Erzählung.
Der Lesetag endete mit der sonoren Stimm-Performance von Tom Kummer, die bereits im Vorstellungsvideo den mythischen Taxifahrer inszenierte, der dann den Text erzählt: Eine Art letzter Cowboy, so befand man, der nachts in der Schweiz VIP-Gäste in einer Limousine chauffiert und darauf wartet, von ihnen auf das Bild seiner verstorbenen Frau am Armaturenbrett angesprochen zu werden – oder auch nicht. Wie er darauf reagiert, löste in diesem “Retro-Text” mit der Ästhetik von Zigarettenwerbung der Neunziger (Kastberger) ein Gefühl des “gerade noch so möglich” aus, während Insa Wilke schon Befremden äußerte, auch von der Kontrollsucht, die die Erzählung nicht nur am Protagonisten vorführe, sondern auch auf die Leser übertrage.
Bei dieser Performance konnte man – freilich wieder Geschmackssache – die Erfahrung machen, vom Vortrag eines Textes eher abgestoßen zu sein, sich aber mittels einer anderen Stimme durchaus mit ihm anfreunden zu können. Die Verlorenheit und Trauer dieses “Taxi Driver”-Wiedergängers (Wiederstein) in einer Geschichte, die die Schweiz einmal nicht als Gefängnis (so Stefan Gmünder in Erinnerung an Friedrich Dürrenmatt), sonder eher als eine Art Abenteuerland zeige, das womöglich Tolkiens “Mittelerde” inspirierte, diese Verlorenheit jedenfalls inspirierte die Jury zur besten Diskussion des Tages: einer kritischen Würdigung.