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New York, die erstaunlichste Stadt des Universums.

Vorhang zu: „Die Trojaner“ aus der Met im deutschen Radio

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Konzerte sind in New York häufig kürzer als in anderen Musikstädten. Kunstgenuss vollendet sich nach hiesiger Auffassung nicht in der Verausgabung. Außerdem...

Konzerte sind in New York häufig kürzer als in anderen Musikstädten. Kunstgenuss vollendet sich nach hiesiger Auffassung nicht in der Verausgabung. Außerdem bedenken die Veranstalter, dass die Konzertbesucher oft einen weiten Heimweg zurückzulegen haben. Die Metropolitan Opera nimmt solche Rücksichten nicht. Am zweiten Weihnachtsfeiertag beginnt die Abendvorstellung der Oper „Les Troyens” von Hector Berlioz um halb sieben. Geschätzte Dauer, einschließlich zweier Pausen: fünfeinviertel Stunden. In der zweiten Pause, vor dem fünften und letzten Akt, muss das Publikum um Geduld gebeten werden. Beim Bühnenumbau klemmt etwas. Offenbar hat man das Problem nicht behoben. Es quietscht heftig, als sich der Stadtmauerring von Karthago um Dido, die von ihrem Geliebten Aeneas verlassene Königin, schließen soll. Der Schlussapplaus wird um Mitternacht gespendet.

Francesca Zambellos Inszenierung aus dem Berlioz-Jubiläumsjahr 2003 ist in dieser Spielzeit zum ersten Mal wiederaufgenommen worden. Anders als in der Premierensaison sind die Aufführungen nicht ausverkauft. Der Rückgang des Interesses mag damit zu tun haben, dass vor zehn Jahren die frühverstorbene, vom New Yorker Publikum verehrte Mezzosopranistin Lorraine Hunt Lieberson als Dido eine ihrer wenigen Hauptrollen an der Met sang. In den zwei Pausen der Weihnachtsvorstellung wandern viele Zuschauer ab. Das Vorurteil vom unförmigen Koloss, dem die Opernhäuser lieber keinen Einlass ins Repertoire gewähren sollten, ist von dieser Aufführung nicht widerlegt worden.

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Ulrich Schreiber weist in seinem „Opernführer für Fortgeschrittene” darauf hin, dass die „Trojaner” vielen Opernbesuchern länger vorkommen als die „Meistersinger” oder die „Götterdämmerung”, obwohl sie eine halbe Stunde kürzer sind als die beiden Musikdramen Wagners. Eine für Berlioz freundliche Lösung dieses Rätsels legt eine von Schreiber zitierte Bemerkung von Colin Davis nahe, der 1969 die berühmte Londoner Gesamtaufführung dirigierte: Es gebe eine „Illusion, die uns einredet, viel Zeit müsse verstrichen sein, wenn viele Dinge geschehen, während andererseits kaum Zeit verstrichen zu sein scheint, wenn wenig geschieht”. Für Regisseure steckt in der Beobachtung des erfahrenen Mannes eine Warnung: Wenn sie die Aktionen auf der Bühne vermehren, um Abwechslung zu schaffen, laufen sie Gefahr, dass sich im Zeitgefühl des Zuschauers die Handlung noch mehr in die Länge zieht.

Anfang Dezember veranstaltete die Metropolitan Opera Guild eine Podiumsdiskussion über die Inszenierung von Francesca Zambello. Der Berlioz-Biograph D. Kern Holoman aus Kalifornien verhielt sich diplomatisch, indem er Hugh Macdonald, den englischen Doyen der Berlioz-Forschung und Herausgeber der kritischen Ausgabe der Partitur, mit dem Urteil zitierte, die meisten neueren Inszenierungen der „Trojaner” erfänden überflüssige Handlungselemente und ignorierten die Bühnenanweisungen des Librettos und den Bedeutungszusammenhang der Musik.

Als Beispiel eignet sich die „Pantomime” im ersten Akt. Die Trojaner haben den vermeintlichen Abzug der Griechen mit einer Prozession und einem Dankgebet an die Götter, mit Kampfspielen und Volkstänzen gefeiert. Da erscheint Andromache, die Witwe Hektors, mit ihrem Sohn Astyanax auf der Szene. Zwei stumme Rollen. Berlioz schreibt vor, was die Darsteller zu tun haben. Sie schreiten langsam zum Altar; der Junge legt Blumen nieder, die Frau fällt auf die Knie und betet; während der Chor das Schicksal und die „grenzenlose Traurigkeit” der Witwe und des vaterlosen Kindes beschwört, erhebt sich Andromache und führt ihren Sohn vor den Thron des Priamos. Sie zieht den Jungen an ihre Brust und umarmt ihn leidenschaftlich. Der König segnet den Enkel, ebenso die Königin. Als Priamos und Hekabe wieder ihre Plätze eingenommen haben, flieht der verängstigte Astyanax zurück zur Mutter. „Das schmerzhafte Gefühl Andromaches wächst.”

Diese knappe Inhaltsangabe muss die Regie ausfüllen, damit während der ganzen Zeit etwas zu sehen ist, in der das Orchester die Pantomimenmusik spielt. Aber was fügt Francesca Zambello hinzu? Den toten Hektor! Der Leichnam des Helden wird auf die Bühne getragen, die Trojaner formieren sich zum Leichenzug, dem sich die königlichen Eltern nicht anschließen. Diese stumme Handlung, diese neue Pantomime, ergibt keinen Sinn – weder für sich genommen noch im Verhältnis zu der von Berlioz vorausgesetzten Rahmenhandlung des Trojanischen Krieges.

Das Begräbnis Hektors nimmt in der Überlieferung einen denkbar prominenten Platz ein – es ist der Stoff der letzten Verse des letzten Buches der Ilias. Dass Homer von der Einnahme Trojas nicht mehr erzählt, ist hochbedeutsam für das Problem der fragmentarischen Einheit des durch Vorwissen konstituierten epischen Erzählens, dem sich auch Berlioz mit seiner Bearbeitung Vergils stellt. Hektor wird bestattet, bevor der Krieg beendet ist. Erst muss ja auch noch Achilles, der ihn getötet hat, getötet werden! Als die Trojaner vor der Stadt die Leiche des Helden verbrennen, muss Priamos sie vor einem Hinterhalt der Griechen warnen – obwohl er mit den Feinden eine Waffenruhe für die elf Tage der Staatstrauer ausgehandelt hat. Dieser Priamos, der sich bei Homer erniedrigt, indem er den Mann, der den toten Hektor in barbarischem Triumph um die Stadt geschleift hat, um die Herausgabe des geschändeten Leichnams bittet, steht auf der New Yorker Bühne abseits, als das Begräbnis endlich stattfinden kann. Und was soll man von den Trojanern halten, die ihren eingebildeten Sieg zelebrieren, obwohl die Bestattung Hektors noch aussteht?

Solchem Unsinn hat Francesca Zambello die von Berlioz vorgeschriebene Handlung geopfert. Die Präsentation des Astyanax vor dem Königspaar entfällt. Der Junge zieht die Mutter fort, nachdem sie mit den Fäusten auf die Brust des Schwiegervaters eingehämmert hat. Das ist ein Königsfamiliendrama auf Fernsehserienniveau. Solche Willkür zerstört nebenbei den Maßstab für die Freiheiten, die Berlioz sich tatsächlich gegenüber seinen Vorlagen herausnimmt, etwa in der Aufwertung Kassandras, der er das Nachkriegsleben als Sklavin erspart.

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Die Prophetin, die kein Gehör findet, ist die Hauptperson der ersten beiden Akte. Wie eine verwundete Löwin, so die Beschreibung der Szene in einem Brief des Komponisten, streift die Schwester Hektors über die Bühne, bevor sie ihrer Schwägerin befiehlt, die Tränen aufzusparen, da nahendes Unglück sie noch Tränen genug kosten werde. Dass die trauernde Mutter ihren Sohn dem Königspaar überstellt, ist für das Verständnis dieser Weissagung wichtig. Sie bezieht sich nicht hauptsächlich darauf, dass Andromache bald auch um Astyanax trauern wird. Denn Andromache hat den Sohn schon preisgegeben: Er wird die Pflichten des toten Vaters übernehmen und im Staatsnotfall den Tod des Vaters sterben. Die private Trauer dringt in den öffentlichen Raum ein, aber sprengt ihn nicht. Kassandra steht für den Gedanken vom Primat der Gemeinschaft, den Nationalgedanken, wenn man so will, und beglaubigt ihn, indem sie die Trojanerinnen zum Massenselbstmord überredet. Die Familie ist im Staat untergegangen, bevor sie mit ihm untergeht.

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Man darf vermuten, dass Francesca Zambello sich durch eine pragmatische Erwägung dazu verleiten ließ, den toten Hektor schon als Leichnam auf die Bühne zu holen, bevor er im zweiten Akt dem Aeneas als Gespenst erscheint: Eine auf der Bühne herumirrende Frau mit kleinem Knaben an der Hand, die keinen Ton herausbringt, wäre nicht ohne weiteres als Andromache zu erkennen. Berlioz mochte noch darauf vertrauen, dass sein Publikum die Quellen kannte, insbesondere die Tragödie Racines.

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In der Mannheimer Inszenierung von Sebastian Baumgarten, ebenfalls aus dem Jahre 2003, zog Andromache ihren toten Gatten auf die Bühne. Man mag darüber streiten, ob die Konzeption von Berlioz, dass Andromache das Ritual ohne förmlichen Protest vollzieht und es der Darstellerin aufgegeben ist, das Wachstum ihres Schmerzes im Unwillkürlichen sichtbar zu machen, den Betrachter nicht stärker zu rühren geeignet ist als Baumgartens pathetische Umdeutung der Figur. Wo aber die Mannheimer Variante einen in der Szene und zwar schon in der Natur der Pantomime liegenden Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft exponierte, da ändert Francesca Zambello kurzerhand den Inhalt des Rituals. Die Aufmerksamkeit wird auf die Außenseiterfiguren Priamos und Hekabe gelenkt, als müsste der König für die Kaltherzigkeiten der Staatsräson abgestraft werden. Aber alle Trojaner, das ist der Witz von Kassandras Klage, erliegen derselben Verblendung. Bürgerliche Schuldzuteilung nach dem Prinzip Verantwortung geht an der Sache vorbei.

Zu den schlechten Gewohnheiten des Opernregietheaters gehört, dass dem Buchstaben der Regieanweisungen nicht derselbe Respekt entgegengebracht wird wie dem gesungenen Text. Bei einem Autor wie Berlioz, der sein eigener Dichter war und einem Ideal des Musikdichtertums huldigte, ist solche Freihändigkeit besonders fragwürdig. Ignoriert hat Francesca Zambello die simple Anweisung, durch die Berlioz sicherstellt, dass Andromache und Astyanax aus der Gruppe der Trojaner herausstechen: Sie tragen weiß, die griechische Trauerkleidung. Wahrscheinlich hatte die Regisseurin Angst, dass dieses Zeichen dem heutigen Publikum unbekannt ist. Aber selbst wenn nicht mehr jedem Operngänger Jacques-Louis Davids Bildnis der Andromache mit dem Leichnam ihres Gemahls vor Augen steht: Ist es nicht eine choreographische Aufgabe, dem Zuschauer begreiflich zu machen, was die weiße Farbe bedeutet? In einem solchen Moment des Verständnisses der Szene fielen Anteilnahme und Bewusstsein des historischen Abstands zusammen.

Klaus Heinrich Kohrs hat in seinem 2011 erschienenen Buch über den Dialog von Berlioz und Vergil der Pantomime des ersten Aktes eine eingehende Analyse gewidmet. Die große Klarinettenmelodie, die den Schmerz der stummen Andromache zu wortloser Sprache bringt, gewinnt nach Kohrs gegenüber Vorgängerinnen in den symphonischen Dichtungen von Berlioz eine neue Freiheit, da sie nicht mehr mit allen Wendungen der Leidenschaften eine imaginäre Szene ausmalen muss. Sie agiert selbst pantomimisch, ist aber „durch die sichtbare Pantomime der Akteure entlastet – sie kann im Vertrauen auf dieses Wechselspiel subtiler, stiller und damit umso intensiver werden”. Allerdings ist sie darauf angewiesen, dass die Akteure sich an den Text halten dürfen. Die Beruhigung der durch die Szene entlasteten Musik entspricht, so die Pointe von Kohrs, der Forderung des Sujets: Das Thema der Szene und der ganzen Oper ist „im nicht stillzustellenden Schmerz immer wieder neu zu erringende Fassung”, klassisch-moderner Ersatz für das von Jacob Burckhardt an den homerischen Helden beobachtete „Stillstellen der Trauer”.

Einen großartigen Einfall hatte Francesca Zambello: Im Moment der Schicksalsentscheidung zieht Kassandra und später ebenso Dido eigenhändig einen gewaltigen Vorhang vor die Szene. Die beiden Frauen erweisen sich durch diesen parallel geführten Kraftakt mit den Worten ihres Schöpfers als die „deux personnages dominateurs de la pièce”. Sie enthüllen die Theatralik des Geschehens, indem sie mit klassizistischer Diskretion die Katastrophe einleiten, und bleiben als Verkörperungen der Autonomie im Gedächtnis.

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D. Kern Holoman sagt, keine Inszenierung der „Trojaner” habe ihn so sehr bewegt wie die konzertante Aufführung mit dem Boston Symphony Orchestra unter der Leitung von James Levine. An dieser Stelle ziehe ich nun auch den Vorhang zu. Das dritte Radioprogramm des Westdeutschen Rundfunks hat am 5. Januar ab 19 Uhr die Nachmittagsvorstellung von „Les Troyens” aus der Met gesendet. Levines Nachfolger Fabio Luisi dirigierte, es sangen Susan Graham als Dido, Deborah Voigt wie vor zehn Jahren als Kassandra, Kwangchul Youn als Didos Minister Narbal und der bei seinem Debüt am 26. Dezember bejubelte amerikanische Tenor Bryan Hymel als Aeneas. Im Pausengespräch erläuterte Klaus Heinrich Kohrs seine Vorstellungen von philologisch informierter Aufführungspraxis. Wer diese Übertragung verpasst hat, kann sich den Mitschnitt der von Levine dirigierten Vorstellung vom 22. Februar 2003 besorgen.

Fotos Metropolitan Opera


3 Lesermeinungen

  1. <p>Thank you, Patrick Bahners,...
    Thank you, Patrick Bahners, for your gutsy, excellent critique, comparing truly great productions, exposing Francesca Zambello for her bad distortions of Berlioz’ great creation.

  2. Das nenne ich mal eine...
    Das nenne ich mal eine fundierte Opernkritik, chapeau! Und vielen Dank für die div. Hinweise von Hector über Vergil bis Burckhardt.

  3. Danke für den Hinweis! Es...
    Danke für den Hinweis! Es sendet WDR 3 am Samstag, den 5. Januar 2013, von 19 Uhr bis Mitternacht.

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