Saint Thomas, die gotische Kirche an der Ecke von Fifth Avenue und 53. Straße, ist eine Pfarrkirche der protestantischen Episkopalkirche, deren Einzugsgebiet viel größer ist als ihr Sprengel auf den offiziellen Karten der Diözese von New York. Klerus und Volk pflegen die katholische Tradition, das heißt die Überlieferung der alten Weltkirche, wie sie in der Kirche von England bewahrt worden ist. Gottesdienste werden wirklich gefeiert. „Worship the Lord in the beauty of holiness“: Gemäß dem Gebot des 29. Psalms, hier zitiert in der englischen Übersetzung, die König Jakob I. im Jahre 1611 autorisierte, sollen die Glaubensinhalte in der Form des gemeinschaftlichen Bekenntnisses sinnfällig werden. Auge und Ohr bekommen einen Vorgeschmack auf die himmlischen Freuden. Als einzige Kirche in den Vereinigten Staaten hat Saint Thomas einen Knabenchor mit angeschlossenem Internat.

Pfarrer Andrew Mead, der im kommenden Jahr in den Ruhestand treten wird, bemüht sich darum, dass neben dem liturgischen Sinn auch das zweite Grundelement des anglikanischen Geistes ins Gemeindeleben einfließt, die intellektuelle Rechenschaft. Er hat deshalb die Pfründe eines Theologen vom Dienst eingerichtet. Die Prüfung von Argumenten für und wider den Glauben an Gott gehört zur Seelsorge – zumal in einer Stadt wie New York. Der Patron der Pfarrkirche ist der Zweifler unter den Aposteln, in Saint Thomas sagt man allerdings: der ehemalige Zweifler.
Father Victor Austin, der „theologian in residence“, hat seinen Doktortitel an der Fordham University erworben, der New Yorker Jesuitenuniversität. Er lädt alle sechs Wochen zu einem Lesekreis ein, in dem über ein Werk der schönen Literatur gesprochen wird. Diesmal hat er „The Alteration“ ausgewählt, einen Roman des englischen Schriftstellers Kingsley Amis aus dem Jahr 1976. Zehn Jahre nach dem Original erschien eine deutsche Übersetzung mit dem Titel „Die Verwandlung“ in einer Science-fiction-Reihe des Heyne-Verlags. Im Mai ist in der Bibliothek der vernachlässigten Klassiker der Moderne im Verlag der „New York Review of Books“ eine Taschenbuchausgabe herausgekommen, mit einem Vorwort von William Gibson.
Das Buch gehört in eine Untergattung der Science-fiction, ins Genre der alternativen oder kontrafaktischen Geschichte, in dem sich in jüngerer Zeit auch mehr und mehr Fachhistoriker versuchen. Die Handlung spielt in England im Jahr 1976, aber nicht Elisabeth II. sitzt auf dem Thron, und kein Prinz Charles wartet hinter dem Thron, sondern Wilhelm V. hat soeben den Thron bestiegen. Der wichtigste Würdenträger beim Begräbnis König Stephans III. ist der Kardinal-Erzbischof von Canterbury.
Was ist passiert? Besser gesagt: Was ist nicht passiert? Man sieht sofort: Die Reformation fand nicht statt. Luther machte seinen Frieden mit dem Papsttum, ließ sich selbst zum Papst wählen und nahm den Namen Germanian I. an. Und Heinrich VIII. konnte die Rechte des Papstes über die englische Kirche nicht usurpieren, denn er brachte es gar nicht erst bis zum König. Es gab keine Scheidung von Katharina von Aragon, da diese ihrem Gatten den ersehnten Stammhalter schenkte – nicht Heinrich, sondern dessen älterem Bruder Prinz Arthur. Statt der Versenkung der Armada feiern die Engländer den „Heiligen Sieg“ der katholischen Monarchie über die häretischen Rebellen. Protestanten gibt es nur in Neuengland. Die Republik der „Schismatiker“ mit einem „Ersten Bürger“ an der Stelle des Königs nimmt nur einen kleinen Teil des Gebiets unserer Vereinigten Staaten ein.
Alles wäre anders gekommen, wenn Prinz Arthur fähig gewesen wäre, ein Kind zu zeugen. Es gibt eine motivische Verbindung zwischen den Änderungen des Ablaufs der europäischen Geschichte, die Amis vornimmt, und der „Änderung“ des Romantitels. Damit ist nämlich das Schicksal gemeint, das die kirchlichen Autoritäten dem zehnjährigen Hubert Anvil zugedacht haben, einem Wunderkind unter den Chorknaben der Georgskathedrale in Coverley (bei Oxford): Ihm will man die Zeugungsfähigkeit nehmen, damit er seine Stimme behalten kann. Der Vatikan, der keine Vatikanischen Konzilien einberufen musste, schaffte weder die alte Messe noch die Kastraten ab. Zwei Vertreter dieser Spezies sind zur Totenmesse für Stephan III. aus Rom angereist, um Hubert zu begutachten. Es sind Deutsche, die als römische Sängerstars natürlich lateinische Künstlernamen angenommen haben: Federicus Mirabilis und Lupigradus Viaventosa. Zurückübersetzt in die Muttersprache Germanians I.: Fritz Wunderlich und Wolfgang Windgassen.
Father Austin ist eine asketische Erscheinung mit Brille, Bart und silbernen Locken. Er eröffnet die Diskussion mit einer sehr spezifischen Frage. Im Pfarrbrief stand, jedermann sei im Lesekreis willkommen – man müsse allerdings das Buch gelesen haben. Alle Teilnehmer, etwa zwanzig sind gekommen, erfüllen diese anspruchsvolle Voraussetzung. Es wird Textarbeit geleistet. Amis schildert die Diener Gottes als Karrieristen, Apparatschiks, Feiglinge, Zyniker, Snobs, Banausen und verhinderte Massenmörder. Father Austin lässt sich nicht abschrecken, sucht nach dem tieferen Sinn der grotesken Erzählung und nimmt sie zu diesem Zweck zunächst einmal beim Wort.
Der Abt des Cäcilienklosters, aus dessen Internat Hubert weggelaufen ist, fällt im fünften Kapitel auf die Knie und spricht gemeinsam mit seinem Kapellmeister ein Gebet. Er ist erschüttert über den Tod des Kaplans von Huberts Elternhaus, der von anonymen Schergen kastriert wurde und verblutet ist, weil er versucht hatte, den Plan von Huberts römischer Karriere zu hintertreiben. Abt Thynne (der den Familiennamen der Markgrafen von Bath trägt) versteht den Mord als Zeichen des göttlichen Zorns. Er bittet Gott darum, dass er Hubert den Wunsch eingibt, ins Kloster zurückzukehren. Für den Fall, dass das nicht Gottes Absicht sein sollte, schiebt er eine Ersatzbitte nach: Gott möge den Knaben auf seinem eigenen Weg dazu bringen, dem Willen Gottes zu dienen. Father Austin liest das Gebet vor, das dieselben Formeln der Zerknirschung und Inständigkeit in der Sprache des siebzehnten Jahrhunderts enthält wie die Gebete, die jeden Tag in Saint Thomas gesprochen werden. Er möchte wissen, ob das Gebet des Abts erhört wird.
Die Laien im Gemeindesaal sträuben sich gegen den Vorschlag einer heilsgeschichtlichen Lesart der makabren Geschichte. Man nimmt das Buch als Satire, das heißt als Genreroman und Pamphlet, wobei eine kritische Beurteilung überwiegt. Intellektuelle Selbstgefälligkeit wird dem Autor zur Last gelegt; die Überraschungseffekte des historischen Kostümballs – Edgar Allan Poe tritt in Generalsuniform auf, Sartre in der Soutane der Jesuiten – nutzten sich ab. Die Beobachtung, dass Amis eine geschlossene Welt ohne Handlungsalternativen konstruiert, könnte auch eine Stärke des Buches bezeichnen, einen pessimistischen Realismus, der die Übermacht historischer Bedingungsverhältnisse in der Gegenprobe der Alternativgeschichte demonstriert. Aber die Leserin, die auf diese unheimliche Konsistenz der Romanwelt hinweist, meint das entschieden kritisch.
Man bescheinigt Amis die kirchenhistorischen Kenntnisse und den kirchensoziologischen Sachverstand eines eifrigen Oxford-Absolventen, vermisst aber ein persönliches Verhältnis zur Sache. Keine Figur des Romans erfahre die Wirkung von Gottes Gnade. Diese These möchte Father Austin nicht ohne weiteres akzeptieren. Am Ende des Buches springt die Handlung ins Jahr 1991: Hubert Anvil, latinisiert Hubertus Incus, triumphiert im päpstlichen Opernhaus in einer Hauptrolle, die ihm ein antimodernistischer Modekomponist auf den in die Breite gegangenen Leib geschrieben hat. Viaventosa und Mirabilis sitzen in der königlichen Loge. Die beiden letzten Sätze des Dialogs lauten „Deo gratia“ und „Amen“. Damit fällt der Vorhang: ein abschließendes elegantes Ironiesignal, möchte man meinen. Father Austin scheint indes anzunehmen, dass das Uneigentlichkeitspotential einer solchen liturgischen Schlussformel naturgemäß begrenzt ist. Er will die Möglichkeit wenigstens bedenken, dass der Leser Grund hat, Dankbarkeit für den Ausgang der Geschichte zu empfinden.
Hubert hatte sich vor seinen Verfolgern retten können. Der neuenglische Botschafter hatte ihm seinen Schutz angedeihen lassen, ein Luftschiff sollte ihn nach Amerika bringen und stand zum Abheben bereit. Da wurde der Junge von heftigen Unterleibsschmerzen heimgesucht, und die Operation, die er um des Himmelreiches willen nicht hatte erdulden wollten, wurde aus Gründen der medizinischen Notwendigkeit vorgenommen. Ihn habe diese plötzliche Wendung kurz vor Schluss schockiert, sagt Father Austin, und damit spricht er den Versammelten aus der Seele. „Amis muss gewusst haben, was er tat: Er führte einen Deus ex machina ein, wie in der Barockoper.“
Für die meisten Mitleser könnte die Untersuchung damit abgeschlossen sein: Der Autor spielt Gott. Den Theologen beschäftigt, dass man auch in der Wirklichkeit solche unmotivierten, die glimpflichen Arrangements der Menschen durchkreuzenden Eingriffe Gottes nicht ausschließen kann, falls man überhaupt mit Eingriffen Gottes rechnet. Father Austin will es auch nicht als unverbesserliche Eitelkeit abtun, dass der Abt den grausamen Tod des Kaplans auf sich bezieht. „Warum nennen wir eine Naturkatastrophe einen Fall von höherer Gewalt (an act of God), einen Mord aber nicht?“
Dass es barbarisch ist, einen Jungen daran zu hindern, ein Mann zu werden, wird allseits bekräftigt, obwohl es nicht bestritten worden ist. Eine Teilnehmerin der Runde immerhin äußert die Ansicht, wenn man vom Problem der Einwilligung absehe, sei der Verzicht auf die Gaben der Lustempfindung und Fortpflanzungsfähigkeit zugunsten der Kultivierung der Gabe des Gesanges nicht unbedingt eine Unmenschlichkeit. Auch Father Austin fragt, welches Opfer die Musik wert ist, und wo sollte diese Frage gestellt werden können, wenn nicht hier? Die Chorknaben haben in Saint Thomas sogar ihren heraldischen Ehrenplatz, als Schildhalter des Wappens, das das englische Kollegium der Herolde der Kirche 1975 mit Genehmigung des Gouverneurs von New York verliehen hat
Dass der Antiklerikalismus des Satirikers Amis nicht nur die katholische Priesterschaft, sondern auch die Geistlichkeit der Episkopalkirche trifft, wird im Lesekreis als selbstverständlich hingenommen. Es schwingt mit, dass die Polemik offene Kirchentüren einrennt. Nicht angesprochen wird im Laufe der anderthalb anregenden Stunden erstaunlicherweise, dass in einer Welt, deren Geschichte so verlaufen wäre, wie Amis sie erzählt, neben dem Museum of Modern Art kein Platz wäre für eine Thomaskirche bischöflicher Obödienz: Neuengland ist bei Amis ein presbyterianisches Territorium.
Im antikatholischen Paket von „The Alteration“ steckt antianglikanischer Sprengstoff. Das Parlament kommt gar nicht vor – statt seiner ist von den mittelalterlichen Repräsentativinstitutionen das klerikale Pendant erhalten geblieben, die (in Wirklichkeit 1717 suspendierte) „Convocation“. So einfach ist es also, sich die parlamentarische Kirchenverfassung und den gesamten staatskirchlichen Apparat des Anglikanismus wegzudenken! Nun muss man sagen, dass Saint Thomas als Pfarrei der Episkopalkirche ohnehin schon seit der Gründung 1823 ohne parlamentarische Aufsicht existiert: eigentlich ein Unding, eine anglikanische Kirche außerhalb des englischen Staatsverbands. Die Traditionspflege, für die sich Pfarrer Mead so wirkungsvoll eingesetzt hat, ersetzt den juristischen Nexus und will den Verdacht widerlegen, dass sich die anglikanische Identität nur politisch bestimmen lässt und nicht theologisch. Aber dass es dieses Stück England mitten in New York gibt, geht darauf zurück, dass Arthur, Prinz von Wales, mit seiner Gemahlin Katharina von Aragon keine Nachkommen zeugte – ob man darin nun einen Zufall sieht oder eine Handlung Gottes.
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