Darf ich Sie mitnehmen auf eine Reise in die Vergangenheit? Diese Vergangenheit ist verborgen unter den vielen Ebenen der amerikanischen Einwanderer- Geschichte, so dass sich ihrer kaum einer mehr annimmt. Sie liegt ganz wörtlich unter dem Mörtel alter Häuser begraben. Im Jahr 1863, während der großen Welle der irischen Einwanderung in die Vereinigten Staaten, baute der Architekt Lukas Glockner ein mehrstöckiges Haus im damaligen „Klein Deutschland“, einem Stadtteil auf der Lower East Side von Manhattan. Den Namen trug die Gegend wegen der deutschen Immigranten, die sich hier angesiedelt hatten. Heute findet man in dem als East Village bezeichneten Stadtteil angesagte Boutiquen, Vintage-Läden und nette Cafés. Die Gebäude bestehen meist aus rotem Backstein und haben schwarze Feuerleitern, die fünf bis sechs Balkone verbinden. Die Gegend ist charmant mit ihren vielen kleineren Straßen, allerdings düster im Winter. Geht man weiter in Richtung Downtown, kommt man in einen modernen Bereich von Neuankömmlingen unter ihresgleichen: Chinatown.
Meinen Ausflug ins East Village verbinde ich mit einer Führung im Tenement Museum, die Einsicht über das Leben der irischen Immigranten im späten 19. Jahrhundert verspricht. „Tenement“ ist die englische Bezeichnung für Miet- oder Wohnhaus. Dem 1992 eröffneten Museum gehören mehrere Häuser aus dem späten 19. Jahrhundert, welche nur mit Führung zu besichtigen sind. Die Gründerinnen Ruth Abrams und Anita Johnson haben diese zu Ehren der Immigranten in Amerika gepachtet. Ich besuche heute die Tour „Irish Outsiders“, deren Titel die gesellschaftliche Position der Iren zur damaligen Zeit in einem Wort beschreibt. Die Gruppenleiterin stellt sich mit dem Namen Caily vor und bekennt, selbst zu einem Viertel irisch zu sein.
Die Tour ist beschränkt auf das Wohnhaus von Glockner und beginnt in dessen Innenhof. Drei aneinandergereihte Holzkabinen, in denen sich die einzigen Toiletten des Hauses befinden, haben neben der einzigen Wasserstelle (einer Pumpe) und mehreren Wäscheleinen Platz gefunden. Im Erdgeschoss befindet sich eine Kneipe, die vom Eigentümer des Hauses betrieben wurde und bis Mitte des 20. Jahrhunderts geöffnet blieb. Aufgrund des morschen Treppenhauses und der großen Finanzkrise blieben die sechs Obergeschosse seit 1935 unbewohnt. Die Apartments wurden währenddessen weder restauriert noch neu möbliert, unabsichtlich hat man uns also ein Kulturerbe aus den Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg hinterlassen. Trotz dieses visuellen Zeugnisses früherer Jahrhunderte müssen wir viel interpretieren. Nur wenige Dokumente über das Leben der irischen Familien in diesem Haus existieren noch oder haben jemals existiert. Es bleiben uns Haushaltsutensilien, wie sie die Bewohner wahrscheinlich besessen haben, Geburts- und Sterbeurkunden und unsere Vorstellungskraft.

Die Wohnung, in der sich der längste Teil der Führung abspielt, besteht aus fünf Zimmern, von denen zwei Anfang des 20. Jahrhunderts mit modernerer Technik ausgestattet wurden (Gasofen, elektrisches Licht, eine Toilette, zusätzliche Fenster). In dem kleinen Schlafzimmer befinden sich ein Doppelbett und eine Wiege, in der direkt angrenzenden Küche ein Kohleofen, Flechtkörbe, Glasflaschen, in denen vermutlich Medizin aufbewahrt wurde, und eine Leine mit aufgehängten Wickeltüchern. Die Wände schmückt geblümte Tapete, die an vielen Stellen der weiß gestrichenen Steinwand gewichen ist. Es gibt drei Kamine im Haus, einer von ihnen steht im Wohnzimmer, einem größeren Raum mit zwei Stühlen und einer Kommode.
Caily stellt uns Familie Moore aus Irland vor, die 1869 zu fünft in dem vierten Stock des Hauses gelebt hat. Ihr Schicksal ist das Leitmotiv der Führung. Zur Familie gehörten Mutter Bridget, Vater Joseph, der als Kellner die Familie ernährte, und drei Töchter, von denen die Jüngste schon im Alter von sechs Monaten gestorben ist. Bridget wurde als Siebzehnjährige von ihren Eltern nach der großen Hungersnot, die Irland zwischen 1845 und 1852 verheerte, nach Amerika geschickt, um dort die Chance auf ein besseres Leben zu bekommen. Doch wie viele andere Iren, die als Jugendliche auf Schiffe in die neue Welt gesteckt wurden, wollte sie nicht gehen. Unsere Führerin spielt uns zur Veranschaulichung irische Volkslieder vor, in denen die Einwanderer ihren Unmut und die Trauer über den Abschied von ihrem Vaterland besingen.
Als die ersten Einwandererscharen im Hafen von New York ankamen, weigerten sich die Amerikaner zuerst, Iren einzustellen, da diese oft krank und abgemagert waren. Aufgrund der unhygienischen Zustände in den ärmlichen Wohngebieten, in denen sich die Immigranten ansiedelten, verbreitete sich schnell ihr Ruf als „dreckig“ – ganz zu schweigen von den Vorurteilen, die man dem „kampflustigen Trinkervolk“ gegenüber besaß. Doch das alles brach den Stolz nicht, der auch heute noch in Familien mit irischen Vorfahren zu spüren ist.

Außer der Familie Moore lebte nur noch eine andere irische Frau in dem Haus, der Rest waren alles Deutsche. Diskriminierung wurde für die Moores eine Alltäglichkeit, da die Deutschen, die von den Amerikanern gegenüber anderen Herkunftsvölkern bevorzugt wurden und in der Gegend den Ton angaben, wie die Einheimischen nicht ein einziges Wort mit ihnen wechselten. Die Familie hielt sich nicht sonderlich lange in diesem Haus auf, nach knapp einem halben Jahr und dem Tod der jüngsten Tochter zog sie in ein noch ärmlicheres Viertel, in dem sie allerdings mit ihren Landsleuten zusammenlebte. In dem verlassenen Apartment sind wohl noch viele Familien ein und ausgegangen, was man an zahllosen Schichten Tapete mit verschiedenen Mustern, die übereinandergeklebt wurden, erkennen kann.
Bridget und Joseph hatten Glück, sich die für die damaligen Verhältnisse große Wohnung zu fünft teilen zu können. Die irische Population wuchs in den folgenden 25 Jahren so schnell, dass 1892 fast ein Viertel der gesamten Bevölkerung von New York City irischer Abstammung war. Nun teilte man sich diese fünf Zimmer zu zehnt oder unter noch mehr Personen. Tuberkulose und Krebs wurden durch den Kohle-Ofen und nur zwei Fenster im gesamten Apartment zu einer ständigen Bedrohung, Epidemien wie Typhus und Cholera verbreiteten sich rapide. Die Stadt bat reiche Immobilienbesitzer darum, die Apartments zu kaufen, sie restaurieren zu lassen und die hygienischen Zustände dadurch zu verbessern. Da diese wohlhabende Schicht allerdings ihr Geld zusammenhalten wollte und die Gefahren solcher Krankheiten nicht ernst nahm, musste sich die Lage erst weiter zuspitzen. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Reichen ebenfalls von Krankheiten heimgesucht wurden, begannen sie, die Häuser mit Gasöfen, elektrischem Licht und mehr Fenstern auszustatten.
Je weiter die ursprünglichen Einwanderergenerationen wegrückten, desto näher kamen die Iren an Akzeptanz und Rang in der Gesellschaft. Caily veranschaulichte uns auch dies an Familie Moore: Bridget war Hausfrau und wurde trotz großen Bemühungen von den Amerikanern nicht in einem Beruf eingestellt. Ihre Enkelin hingegen arbeitete als Lehrerin an einer öffentlichen Schule, und deren zwei Söhne wiederum wurden Polizeibeamter und Feuerwehrmann. Noch heute sind diese beiden Berufe dominiert von Amerikanern irischer Abstammung.
Am St Patrick’s Day, dem Feiertag zu Ehren des Heiligen Patrick, einer der wichtigsten Figuren der irischen Christen, die für den Eintritt des Christentums in die irische Kultur steht, gedenken viele ihrer Wurzeln und des besonderen Verhältnisses der Amerikaner zu den mutigen und treuen Einwanderern. Sie wurden seit jeher als sehr fleißige und aufrichtige Arbeiter beschrieben. Polizisten und Feuerwehrleute marschieren auf der Parade am Patrickstag in ihren Uniformen mit. Bill de Blasio, der neue Bürgermeister von New York, hat gerade bekanntgegeben, dass er das Uniformtragen nicht verbietet, obwohl wegen der Lehren der katholischen Kirche keine Gruppen von Homosexuellen mitmarschieren dürfen.
Im Anschluss an die Führung treffen wir uns im Museumsshop zu kleinen Gesprächen und Buchempfehlungen von der Gruppenleiterin. Die 22 Dollar, die der Spaß kostet, lohnen sich auf jeden Fall! Obwohl eine angeblich noch umfangreichere Tour zum selben Preis angeboten wird („Hard Times“), hat mir das einstündige Programm gut gefallen. Caily hat sich sehr bemüht, die Zuhörer mit einzubeziehen, es wurde nach unserer Meinung gefragt und nach unseren Vermutungen bezüglich bestimmter Aspekte. Wir als Zuhörer waren also keineswegs der passive Teil der Führung. Die Gruppe war kulturell gemischt mit Engländern, einer Frau aus Texas, einem Ehepaar aus Seattle und mir als Deutscher, so dass Diskussionen über Immigration in unsere Staaten zustande kommen konnten. Falls es Sie also ins East Village nach Manhattan ziehen sollte, ist das Tenement Museum einen Besuch wert.