Forsch schreitet Jonas Kaufmann aus, als er die Bühne der Carnegie Hall betritt. Helmut Deutsch, sein Klavierbegleiter, kommt gar nicht mit. Vor zwei Tagen ist Kaufmann als der Titelheld in Jules Massenets „Werther“ an der Met gefeiert worden, und der hiesige Kritikerpapst Anthony Tommasini schrieb in der „New York Times“, er sei derzeit der gefragteste, vielseitigste und aufregendste Tenor unter den Opernsängern der Welt. Aber auch für einen Publikumsliebling dieses Kalibers ist das Debüt in der Carnegie Hall etwas Besonderes. Der Sänger kann offenbar gar nicht erwarten, dass es losgeht. Bei den späteren Auftritten achtet er darauf, im Gleichschritt mit Deutsch einzumarschieren. Er möchte sich an diesem Abend nicht in den Vordergrund spielen, schon gar nicht gegenüber dem Pianisten. Seinen Darbietungen geht alles Draufgängerische und Auftrumpfende ab. Dieser Opernstar ist als Liedsänger kein Schmettermaxe.
Die erste Hälfte des Programms gehört Robert Schumann. Am Anfang stehen fünf Lieder aus den Zwölf Gedichten von Justinus Kerner op. 35, die im Vergleich zu den Eichendorff- und Heine-Zyklen als etwas spröde gelten. Gleich das erste Lied, „Lust der Sturmnacht“, ist charakteristisch für Kaufmanns subtile Dramaturgie der Stimmungswechsel. Markant ist die Zäsur zwischen dem finsteren Sturmesbrausen vor der Tür und dem traulich leuchtenden Eheglück in der Stube. Den Vers „Ruht es sich so süß hier innen“ singt Kaufmann tatsächlich gleichsam innen; sein Piano ist ein Medium der Konzentration. Die pathetische Apostrophe „Reiches Leben, hab Erbarmen!“ könnte als volltönende Beschwörung des Vollglücks in der Beschränkung unfreiwillig komisch wirken, klingt bei Kaufmann aber natürlich. Das Gewitter kehrt zurück, doch bleibt es außen: Der Herzenswunsch „Ende nie, du Sturmnacht wilde!“ beschreibt einen schönen Bogen, unzerklüftet. Imposant der Schluss: „Mich umfängt des Himmels Helle!“ Kaufmanns Stimme geht nicht etwa in die Breite, um sich der Weite des Himmelszelts anzuverwandeln, sondern bleibt schlank, säulenhaft. Es zieht den Dichter empor, aber er behält die Beine auf dem Boden seiner Hütte. Man hört es in New York mit Behagen, arg gebeutelt von den Schneestürmen der vergangenen Wochen.

Beim ersten Vers von „Erstes Grün“ setzt Kaufmann wieder innen an. „Du junges Grün, du frisches Gras!“ Der Ton öffnet sich, wie ein Krokus. Anrührend die naive rhythmische Tonmalerei von „O wie mein Herz nach dir verlangt!“ Das Hüpfen der Linie imitiert das Klopfen des Herzens. Im Gegensatz dazu im folgenden Vers eine sachte, kontinuierliche Bewegung – eine Figur, die im Laufe des Programms noch oft wiederkehren wird: „Schon wächst du aus der Erde Nacht“. In gleicher Weise gestaltet Kaufmann den Höhepunkt des Liedes, den Winterreise-Moment der dritten Strophe: „Wie treibt’s mich von den Menschen fort!“ Der Dichter reißt sich fort von den Menschen, doch sein Zusammenhang mit der Natur ist nicht zerrissen. Im Gegenteil: Die Abkehr von der Menschenwelt ist eine natürliche Abwehrreaktion. Der Pianist Graham Johnson hört an dieser Stelle im Kommentar seiner Gesamtaufnahme der Schumann-Lieder „early signs of a Green Party“.
Den Abschluss der Kerner-Gruppe bildet „Stille Tränen“. Der Morgenspaziergang ist ein traumwandlerisches Geschehen, man fragt sich schon, ob der Dichter sich vielleicht nur einbildet, dass er aufgewacht ist. Kaufmanns Singen ist hier zunächst ein Schweben, Gleiten und Strömen, doch dann setzt ein mächtiger, gerade in der Mühelosigkeit gewaltiger Aufstieg ein, als hätte der geflügelte Dichterfuß im betauten Gras den Zauberschalter einer breiten Rolltreppe in den Himmel gefunden. In den letzten beiden Wörtern der Wiederholung des letzten Verses, „sein Herz“, holt Kaufmann die Vision wieder in menschliche Maßverhältnisse zurück.
Komplett führen Kaufmann und Deutsch die sechzehn Lieder der „Dichterliebe“ op. 48 nach Heinrich Heine auf. Das Vorspiel zu „Im wunderschönen Monat Mai“ fasst Deutsch gleichsam wie eine Fantasie auf: Von diesem freien, bewegten Vortrag lässt sich der Sänger anstecken. In „Aus meinen Tränen sprießen“ bezeichnet die Andeutung des Übergangs in die gesprochene Rede die Schwelle der Intimität. Fabelhaft die durchgezogene Linie in „Die Rose, die Lilie, die Taube, die Sonne“ – und umso wirkungsvoller im letzten Vers der Schnitt vor „die Eine“. Wie dahingesprochen der erste Vers von „Wenn ich in deine Augen seh“: Als freier Mann steht der Dichter der Geliebten gegenüber, dann erfasst ihn ein Sog, und er wird hineingezogen in die schlechthinnige Abhängigkeit. Das „ich liebe dich!“ der Angebeteten im vorletzten Vers kommt von weither. Gegenläufig die Bewegung der Aufklärung in der Ekstase, die Kaufmann im folgenden Lied nachbildet, von den wirbelnden Schlieren des Rauschs in „Ich will meine Seele tauchen“ bis zur Beruhigung im objektivierenden Erinnerungsbild von „In wunderbar süßer Stund“.
Lakonisch, auch in der Begleitung, das „Ich grolle nicht“: Die Qual liegt in der Selbstbeherrschung. Eilig im Anschluss „Und wüssten’s die Blumen, die kleinen“: Die kosmologisch gestaffelten Chöre der Blumen, Vögel und Sterne sind Halluzinationen eines Getriebenen. Nüchtern, mächtig, ohne Flackern dagegen der Schluss. „Sie hat ja selbst zerrissen, / zerrissen mir das Herz.“ Das ist keine Einbildung. Dass der Hochzeitstanz in „Das ist ein Flöten und Geigen“ ein Hexenreigen ist, hört man schon dem Vorspiel an. Der Sänger berichtet dann zunächst fast unbeteiligt vom Fest, sachlich wie ein Musikkritiker: gebannt, gelähmt, verloren. In „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“ rutscht Kaufmann hinein. Dieses Lied ist ein echtes Lied, ein Gassenhauer. Eine fingierte Verzögerung durch Zerteilung der ersten Silbe, und dann kann die Taubenpost abgehen: „Ei-hein Jüng! ling! liebt…“ Mit Lust lässt der Sänger die alte Geschichte noch einmal Revue passieren. Am Schluss ist auf einen Schlag, mit Heines genialem „just“, die Unruhe und Unschärfe verschwunden. Das Schweifen war ein Fliehen; der Unglückliche, der im Gesangsverein untertauchen wollte, fliegt auf.
„Am leuchtenden Sommermorgen“ stellt einen Trancezustand dar. Im Schutz der Benommenheit wuchert der Schmerz, der Trost treibt die Untröstlichkeit hervor. Unheimlich sanft das „Sei unsrer Schwester nicht böse“, unheimlich durchsichtig das „Du trauriger blasser Mann“. Der rätselhafte Spaziergänger hat kein Geheimnis, ist fast schon unsichtbar. Das Meisterstück in Kaufmanns Gestaltung der somnambulen Dynamik einer Seelenwelt der an- und abschwellenden Gefühlszustände ist „Ich hab im Traum geweinet“. Warum im Traum? Weil es um die Macht des Unwillkürlichen geht. Die Klage, mit der jede der drei Strophen anhebt, muss nicht forciert werden, sie wächst von selbst. Kaufmann gelingt hier äußerste Deutlichkeit bei scheinbarem Verzicht auf Artikulation. Jede Wiederholung des Geständnisses setzt leiser an, am Ende des zweiten Verses der letzten Strophe „Mir träumte, du wärst mir noch gut“ kippt der Vortrag ins Tonlose. Dreimal ist der Strom des Gesangs fast versiegt, dann öffnet sich die Schleuse.
Die beiden abschließenden Lieder des Zyklus spielen in ihren acht beziehungsweise sechs Strophen mit den Verheißungen und Täuschungen der Liedform. „Aus alten Märchen winkt es / Hervor mit weißer Hand“. Das überlieferte Kulturgut trägt eine metaphysische Substanz durch die Zeit, die sich zwischen den Zeilen bemerkbar macht. Deutsch wählt einen andeutenden Anschlag, der auf die Winke vorausdeutet. Kaufmann dagegen setzt kernig ein. Jeder Strophe gibt er, den Text beim Wort nehmend, eine charakteristische Farbe, als wanderte man in einer Kirche von Fenster zu Fenster. In der vorletzten Strophe kommt das Lied zu sich, als energische Beschwörung eines vorgezeichneten Weges: „Ach, könnt ich dorthin kommen / Und dort mein Herz erfreu’n“. Kaufmanns Stimme klingt jetzt metallisch, die Form ist eine Rüstung. In der letzten Strophe verfliegt das Liedhafte, und die Dichtung geht in Prosa über.
„Die alten, bösen Lieder“ gehen Deutsch und Kaufmann zügig an. Es könnte ein Studentenulk sein, ein Einfall von Sympathisanten des Jungen Deutschland, die alten Träume (von des Reiches Herrlichkeit?) in einem Sarg zu versenken und dem Publikum ein Rätsel aufzugeben. Die Geheimniskrämerei macht dem Sänger Vernügen; auf das „was“ am Ende des zweiten Verses der zweiten Strophe legt er so viel Gewicht, dass man glauben möchte, er habe auch schon tief ins Heidelberger Fass geschaut. Die Frage der letzten Strophe, warum der Sarg wohl so groß und schwer sein mag, ist fast noch Scherz. Ganz leicht nimmt Kaufmann die Wörter „groß und schwer“. Großartig am Ende der Übergang vom vorletzten zum letzten Wort, vom zitternden „Schmerz“ zum resignativ klaren „hinein“. Das Nachspiel hält immer wieder inne, baut die in der Volksliedform transportierte Spannung behutsam ab.
Nach der Pause singt Kaufmann, der an der Met im vergangenen Frühjahr als Parsifal begeisterte, Richard Wagners Wesendonck-Lieder. Ist es unfair, wenn man meint, dass man von vornherein Gedankenketten und nicht nur Naturlautmalereien hört, wenn sie von einer Männerstimme dargeboten werden? In „Der Engel“ bleibt Kaufmann keinen musikdramatischen Effekt schuldig: Nicht bloß inbrünstig, sondern, wie es im Text steht, brünstig gerät der Gebetsruf, und angesichts des federleichten Hereinschwebens des Engels dürfte wohl niemand im Saal an die schweren Flügel der Höflinge in Stefan Herheims Bayreuther „Parsifal“ gedacht haben. Alle diese Effekte bleiben aber vermittelt. Die Momente der Erscheinung kommen nur als Elemente einer Geschichte zur Geltung. Kaufmann trägt eine Bekenntniserzählung vor und weicht von der liturgischen Linie nicht ab.
„Schmerzen“ ist ein Hymnus auf die Sonne, die untergeht, um wieder aufzugehen. Die Betrachtung des Kreislaufs der Natur soll das Leid als Illusion entlarven, der Tod wird als Mutter des Lebens angesprochen. Mächtig, königlich setzt Kaufmann ein: sonnenhaft. Das erhabene Schauspiel des Sonnentodes wird dann aber – man mag meinen: zwangsläufig – aus der Distanz beschworen. Die Schilderung fällt geläufig aus – das ist eine Qualität, man hört sozusagen die Bewegung, das Geschehen. „Muss die Sonne selbst verzagen, / Muss die Sonne untergehn“, gibt es keinen Grund zur Beschwerde gegen die Einrichtung der Welt: Spekulationen vor dem Horizont der pantheistischen Heilsgewissheit, der Erwartung der Wiedergeburt. Der Sänger dankt am Ende dafür, „dass gegeben / Solche Schmerzen mir Natur“. Die artikellose Natur ist in diesem Satz das Subjekt. Rein grammatikalisch ist es auch möglich, „gegeben“ als Passiv zu verstehen, so dass der Sprecher sich selbst als (einen Teil der) Natur bezeichnen würde – was den Sinn des Liedes trifft. Kaufmanns beherrschter Gesangsstil bringt dagegen zum Ausdruck, dass der Sonnenanbeter noch außerhalb der Natur steht. Eine Verschmelzung findet nicht statt. Rettet Kaufmann so das Lied für die Kunst? Eine Geschmacksfrage.

Als Finale ihrer Suite von Liederzyklen präsentieren Deutsch und Kaufmann die Tre Sonetti di Petrarca von Franz Liszt. In diesen Bravurstücken kann Kaufmann seine Gesangskunstmittel gleichsam nach außen stülpen. Wo er sich als Stellvertreter der Dichter im deutschen Repertoire zurücknahm, da verkörpert er nun den hingerissenen romanischen Poeten, der sich mit seiner melodischen Erfindungskraft zuallererst selbst verführt. Auf der Drehbühne des Seelendramas findet Kaufmann freilich die Hintertür in die Empfindsamkeit. Er hält den sprudelnden Tonfluss an. Im letzten Vers von „Pace non trovo“ stößt er die Anrede „Donna“ hervor, weil sich die Existenz der Frau nicht von selbst versteht: Sie ist eben doch kein Produkt des Gesangs. Und in der vollkommenen Ruhe des letzten Verses von „I‘ vidi in terra angelici costumi“ gibt er dem letzten Wort, „‘l vento“, dem Wind, einen ganz leichten Stoß.
Gewaltiger Jubel umfängt den Debütanten. Kaufmann bedankt sich nicht mit zwei oder drei, sondern mit sechs Zugaben: vier Liedern von Richard Strauss, den er, sichtlich gelöst, dem Publikum als seinen Lieblingskomponisten vorstellt, der „Mondnacht“ von Schumann nach Eichendorff und „Gern hab ich die Frau’n geküsst“ aus der Paganini-Operette von Franz Lehár.