Die New York City Opera gibt es nicht mehr. Vor ein paar Jahren hatte die abenteuerlustige Cousine der Metropolitan Opera noch um Gerard Mortier geworben, einen der berühmtesten Opernintendanten der Welt. Er stand dafür, dass es auch so etwas gibt wie eine Opulenz des Modernismus, des mit konsequentem Aufwand umgesetzten Gedankens. An wechselnden Spielstätten brachte die City Opera noch bis zum bitteren Ende im Oktober 2013 aparte Novitäten heraus, so „Anna Nicole“ von Mark-Anthony Turnage, eine Traviata für das Zeitalter der chirurgisch optimierten Schönheit, die derzeit auch in Covent Garden zu sehen ist, aber für das Met-Publikum auf absehbare Zeit wegen Vulgarität tabu bleiben dürfte.
Dass die City Opera immer weniger Neuinszenierungen herausbrachte, einen Repertoirebetrieb ohnehin nicht unterhielt und in akuten Liquiditätsschwierigkeiten steckte, war allen Opernfreunden bekannt. Die Rezensionen der letzten Spielzeit wurden zur Chronik eines angekündigten Todes. Als die allerletzten Spendenaufrufe ohne Resonanz blieben und alles exakt so fatal ausging wie von jedermann erwartet, kam das Ende gleichwohl als Schock. Sofort erhob sich ein gewaltiger Trauerchor, und unter Ausrufen maßlosen Schmerzes wurde die an unvermeidlicher Verschwendung zugrunde gegangene Opernkompagnie standesgemäß zu Grabe getragen. Musikpolitisch ist die verblichene Rivalin der Met immer noch nützlich: als Menetekel. Kaum ein Artikel über die Lage des klassischen Musikbetriebs in den Vereinigten Staaten ohne Erwähnung des Schicksals der New York City Opera.
Im Sommer dieses Jahres blickte auch die Met in den Abgrund der Nichtexistenz. Intendant Peter Gelb wollte die Löhne der Musiker, Sänger und Bühnenarbeiter um 17 Prozent kürzen. Einschnitte dieser Größenordnung kennt man als Maßregeln der Verzweiflung aus der Zeitungsbranche. Ein Kurs der Austerität schien Gelb wegen der strukturellen Finanzkrise seines Hauses geboten. Die Auslastung ist langfristig rückläufig. Der Kartenverkauf ist nicht mehr die wichtigste Einnahmequelle. Die Met ist mehr und mehr von Spendern abhängig – und zwar auch für die Deckung der laufenden Kosten. Bei einem nur zu drei Vierteln ausverkauften Haus steckt in Kartenpreisen von bis zu 500 Dollar ohnehin schon ein mäzenatischer Anteil. Eigentlich ist die Met auf die Großzügigkeit ihrer vermögenden Abonnenten angewiesen, um das Stiftungskapital aufzustocken, das „endowment“, das im amerikanischen Modell der Kulturfinanzierung die staatliche Grundsicherung europäischen Typs ersetzt. Derzeit muss die Met dieses Hauskapital angreifen und überdies Kredite aufnehmen.
Die Gewerkschaften, deren Stellung so stark ist, dass die unentbehrlichsten Bühnenarbeiter um die 400000 Dollar im Jahr verdienen, gaben sich kompromisslos und legten ihr eigenes Sanierungskonzept vor: Gelb solle entweder weniger moderne, angeblich unbeliebte Inszenierungen auf den Spielplan setzen oder weniger lange Werke mit langen Probenzeiten wie Wagners „Parsifal“. Ausdrücklich stellten die Beschäftigten des weltberühmten Opernhauses also das ästhetische Selbstverständnis und das handwerkliche Niveau des Unternehmens zur Disposition. Die Gewerkschaften drohten mit Streik, der Intendant mit Aussperrung. Man einigte sich schließlich auf geringere Kürzungen der Tariflöhne im Ausgleich gegen Sparmaßnahmen in der Verwaltung, die auf Kosten der Angestellten ohne Gewerkschaftsmitgliedsausweis gehen. Kurz vor dem Beginn der Proben für die neue Spielzeit wurde Entwarnung gegeben, nachdem man den ganzen Sommer über um alles oder nichts gespielt hatte.
Ein Arbeitskampf hätte eine unabsehbare Kettenreaktion auslösen können. Spenden von Theaterliebhabern fließen schließlich nur, wenn auf der Bühne etwas geboten wird. Die City Opera verspielte die Loyalität ihrer Gönner, als sie 2008 ihr Stammquartier als Nachbarin der Met im Lincoln Center aufgab und den Spielbetrieb für eine Spielzeit unterbrach. Wie würde es weitergehen mit der Oper in New York, wenn der Unterhalt des Viertausend-Plätze-Hauses der Met tatsächlich unbezahlbar werden sollte? Wenn über dem denkmalgeschützten Opernbau ein weiterer Wohnturm für Milliardäre in die Höhe schießen würde und unter den kristallförmigen Kronleuchtern des Riesensaals keine Opern mehr über die Bühne gingen, sondern Eigentümerversammlungen und Hochzeitsfeiern?
Das wäre der größte anzunehmende Unfall für die klassische Musik, und die Oper müsste in den Katakomben Zuflucht suchen, vielleicht nicht wirklich unter der Erde, aber sehr wahrscheinlich in der unteren Hälfte von Manhattan. Sie würde Asyl unter den anderen Künsten finden, die sich downtown auf engem Raum ausbreiten, in den Gassen und Hinterhöfen der alten Einwanderergegenden. Als Übung in einem solchen Szenario des kulturellen Katastrophenschutzes waren die Aufführungen von Händels Oper „Alcina“ zu verstehen, die am Wochenende vor der Saisoneröffnungsgala der Met im Whitebox Art Center stattfanden, einer Galerie in Chinatown. Der Termin war mit Absicht gewählt worden. Das Stück wohl auch: Als einzige Händel-Oper stand „Alcina“, deren Stoff Ariosts Epos vom rasenden Roland entnommen ist, zweimal auf dem Spielplan der New York City Opera.
„Das hier ist die Zukunft der Oper“, verkündete R. B. Schlather, der Regisseur, dessen Name auf dem Programmzettel größer gedruckt war als der des Komponisten, nach der zweiten und letzten Aufführung am Sonntagabend von der Bühne herab, getragen von der Begeisterung eines Publikums, dem Mund-zu-Mund-Propaganda den Weg zu dieser Insel abseits der Tempelbezirke des Klassikbetriebs gewiesen hatte. Auch die Twitter-Empfehlung eines Musikkritikers der „New York Times“ hatte ihre Wirkung getan.
Das hier: wie der Name der Galerie schon sagt, ein weißer Schuhkarton, in den 200 Leute passen, wenn die Hälfte von ihnen hinten im Raum steht. Die Bühne ist eine schmucklose Plattform, eigentlich bloß ein Mauervorsprung vor der Rückwand, auf halber Höhe zwischen Boden und Decke, so dass die Zuschauer aus nächster Nähe zu den Darstellern aufblicken. Anders gesagt: ein monumentales, plumpes Podest. Schlather fiel dazu ein, dass in der Jeff-Koons-Retrospektive im Whitney-Museum alle nachgebildeten Nippesfiguren und staubfrei konservierten Staubsauger auf Podesten stehen. Kein Vorhang, kein Graben. Das winzige Orchester (fünf Streicher, zwei Oboen, Cembalo), dirigiert von Geoffrey McDonald, sitzt vor der ersten Reihe.
Das hier: das waren aber auch sechs junge Sänger, die ohne Kulissen und fast ganz ohne Requisiten zu agieren hatten, verdammt zu elementarer motorischer Klarheit, biegsame Zinnsoldaten in einer materiallosen Schlacht gegen die Übermacht der Opernkonvention. Sie hätten sich wie unter einem Vergrößerungsglas gefühlt, berichtete die Mezzosopranistin Eve Gigliotti, die Bradamante sang, die Verlobte des von der Zauberin Alcina gefangengehaltenen Ruggiero und Nichte Karls des Großen, im Publikumsgespräch. „Für den Gesang galt das ebenso wie für die Körperlichkeit.“ Im kollektiven Selbstversuch machten die Sänger „eine riesige Entdeckung“: Vor dem weißen Hintergrund konnten sie mehr Stimmfarben zum Einsatz und zur Geltung bringen.
Normalerweise, merkte der Bass David Adam Moore kritisch an, fänden Opernexperimente, Proben wie Aufführungen, vor mehr oder weniger schwarzem Hintergrund statt. Man sehe nur das Licht. Hier hingegen mache das Licht Dinge und Personen sichtbar. Die Sopranistin Jamie Van Eyck brachte die Erfahrungen in der Gemeinschaftswerkstatt auf die Begriffe der Intimität und Authentizität. „Wir hatten immer weniger zu tun, und immer mehr kam herüber.“
Der kategorische Imperativ des Regisseurs lautete: Hört auf zu schauspielern! Die Bewegungen der Sänger sollten sich nach Schlathers Willen zwanglos aus der musikalischen Gestalt der jeweiligen Szene ergeben. Es habe lange Arbeit gekostet, zu einem so schlichten Resultat zu gelangen. Gleich einer Gruppe von Schiffbrüchigen auf einem Floß musste das Ensemble mehr und mehr Ballast abwerfen. Während der Proben experimentierte man mit Requisiten, von denen die allermeisten zurück in die Kiste wanderten. Übrig blieb der blinkende Zauberstab der Fee Morgana, der Assistentin Alcinas, Sinnbild der technischen Verdopplung einer natürlichen Geläufigkeit des Überredens, die zu Verrenkungen nötigt, oder anders gesagt: der rührend simplen Machart der künstlerischen Effekte, deren Macht erst recht rätselhaft wirkt, wenn man sie als Tricks durchschaut hat.
Ähnliche emblematische Bedeutung gewann ein roter Lippenstiftfleck, den ein Schminkexperiment ganz am Anfang auf der weißen Wand hinterlassen hatte. Es bleibt vom erotischen Rollenspiel, in dem leichtfüßig und vollmundig alle Kombinationen durchprobiert werden, etwas zurück, obwohl man die Spur ganz einfach wegwischen könnte.
Zwölf Minuten dauert Alcinas große Arie „Ah! mio cor“ in der ersten Szene des zweiten Aktes, und Schlather gab der Sopranistin Katharina Hagopian die Anweisung, sie dürfe sich nicht bewegen. Im blauen Glitzerkleid und mit langer silberner Perücke fuhr sie empor, das Standbild einer ägyptischen Operngöttin Marke Aida oder Kleopatra. Auch die Arme der Zuschauer auf den Stehplätzen gingen in die Höhe: Handyfotos wurden geschossen, denn wir befanden uns in einer Galerie, dort ist das Fotografieren nicht nur erlaubt, sondern vielleicht sogar geboten.
Wenn man diese Oper hier nicht als Oper, sondern als Kunstprojekt sah, was sah man dann? Der Kritiker Joseph Cermatori, der das Publikumsgespräch moderierte, machte zwei interessante Bemerkungen zum Hintergrund der Geschmacksurteilsentwicklung in den bildenden Künsten. Im heroischen Zeitalter der Abstraktion definierten Präzeptoren wie der Kritiker Clement Greenberg und der nach wie vor höchst produktive Kunsthistoriker Michael Fried die Kunst als das Gegenteil des Theatralischen. Heute haben die darstellenden Künste unter dem Namen der Performance scheinbar die Museen erobert. Aber der polemische Gegensatz zum Theater ist geblieben. Cermatori zitierte Klaus Biesenbach, den Über-Kurator des globalen Kunstbetriebs und Hausherrn im P.S. 1, der zeitgenössischen Filiale des Museum of Modern Art, der an Martina Abramovic gerühmt habe, dass sie ihr wirkliches Blut vergieße und nicht nur Ketchup wie im Theater.
Schlathers Alcina wäre in dieser Sicht die Gegenspielerin der Mutter aller Performance-Kompagnien, weil ihr ganzes Reich, die verzauberte Insel mit dem magischen Mikroklima, das Schockwellen romantischer Wetterfühligkeit durch die Körper der gestrandeten Wohlstandsjünglinge und Ehekarrierefrauen jagt, der pure Illusionismus ist. Halb erwartet man, dass am Ende auch noch der ausgestopfte Eberkopf an der Wand gegenüber dem Lippenstiftfleck, der Alcinas von Circe gelernte Fertigkeit der Verwandlung von Menschen in Tiere verbürgt, zu singen anfängt und sich als optische Täuschung erweist.
Überwältigend die Wirkung von „Verdi prati“, der Arie, mit der Ruggiero an der Schwelle der Rückkehr in die bürgerliche Welt von den trügerischen Augenweidelandschaften des Zaubergartens Abschied nimmt. „Ihr werdet eure Schönheit verlieren“, verkündet er/sie den grünen Wiesen, deren Farbe doch aus Alcinas Chemiekasten stammen soll. Die Zuschauer trinken mit, was Jamie Van Eycks verschmierte Wimper hält, aber auf allen Seiten sehen sie wie den ganzen Abend schon nur blankes Weiß. Den roten Kimono, den Ruggiero im Exil trug, als schlaffer Fetzen von vornherein ein recht klägliches Unterpfand der sinnlichen Verheißungen des Orients, streift Alcina über, als ihre Macht gebrochen ist, wie ihr pechschwarzes Divenkleid in den Besitz ihres aufmüpfigen Bodyguards Oronte übergeht und der Traum vom anderen Leben in den Fundus.
Schlather stellte in seinen Kommentaren zu seinem Regiekonzept immer wieder Bezüge zwischen der gemeinsamen Arbeit und Händels Werk her. Alcina begrüßt ihre Gefangenen im ersten Akt mit dem Satz: „Es ist euer Schicksal, Freunde, dass ihr auf meiner Insel gelandet seid.“ Und genau das habe er zu den Sängern und Musikern auch gesagt! Auch Schlather, der an der City Opera häufig dem Hausregisseur Christopher Alden assistiert hatte, trug ein wallendes schwarzes Gewand, halb Abendkleid, halb Kutte, und zwei breite silberne Armreife.
Die Proben, die zwei Wochen dauerten, waren öffentlich; Passanten waren eingeladen, die Whitebox nach Belieben zu betreten und wieder zu verlassen. Es gab nur zwei Aufführungen, aber einige Enthusiasten haben die Sache viel öfter gesehen. Der Tenor Samuel Levine, der den Oronte sang, gestand, zwei Tage lang habe er mit der Anwesenheit der unvertrauten Zeugen ungeheuer kämpfen müssen, da ihm seine Rolle noch fremd gewesen sei, dann habe er die Offenheit der Proben als Befreiung empfunden.
Wo das Steife und Disziplinierte heutiger Aufführungen klassischer Musik vor zahlendem Publikum beklagt wird, trifft man gemeinhin auch die Beschwörung der Süße des Musiklebens im Ancien Régime an: Im Konzert sei zwischen den Sätzen geklatscht worden, und in der Oper hätten sich die Logenbesitzer nicht nur am Bühnengeschehen delektiert. Auch im Kreis der Reformer in Chinatown wurde der Topos vorgebracht. Für die Zuschauer auf den Stehplätzen hinten im weißen Karton gab es freilich wohl Wein aus Plastikbechern, aber keinen Raum für Ablenkungen. Man hätte, im Bann Alcinas und R. B. Schlathers, auch keine Notiz von anderen Vergnügungsmöglichkeiten genommen. Ein gutes Omen auch für die Chancen des alten Sang-und-Klangzaubergewerbes auf der anderen Insel, dem Eiland im metropolitanen Meer im fast schon hohen Norden von Manhattan. Und wenn es zum Äußersten kommen sollte? Jude Ziliak, der Konzertmeister von Schlathers Truppe, erinnerte daran, dass Händel sich nach der Pleite der Royal Academy of Music auf das Komponieren von Kammeropern verlegte.