Was passiert, wenn ein Beckmesser auf einen Beckmesser trifft? So geschieht es jetzt immer, wenn ein Opernhaus „Die Meistersinger von Nürnberg“ von Richard Wagner auf den Spielplan setzt und den deutschen Bariton Michael Volle für die Partie des Hans Sachs verpflichtet. Volle triumphierte 2007 bei den Bayreuther Festspielen als Beckmesser in Katharina Wagners Inszenierung, die den Fluch der Kritikerkarikatur vom Merker nahm und den Widersacher des romantischen Dichterstars Walther von Stolzing als protomodernes Künstlerindividuum deutete. Die Karriere des 1960 in Freudenstadt geborenen Sängers, der erst recht spät von den großen Häusern entdeckt wurde, erhielt einen mächtigen Schub.
Auch die Metropolitan Opera wollte Volle als Beckmesser buchen, für die Wiederaufnahme von Otto Schenks Inszenierung aus dem Jahre 1993 in der Spielzeit 2014/15. Volle lehnte zunächst dankend ab, wollte lieber sein Met-Debüt hinausschieben als wieder in eine Rolle schlüpfen, über die er inzwischen hinausgewachsen war. Frank und frei sagte er dem Intendanten Peter Gelb: „Ich singe jetzt Wotan und Sachs, da mache ich keinen Beckmesser mehr.“ Als er aber hörte, dass der Sachs Bryn Terfel sein sollte, der wie er ein Schüler von Rudolf Piernay ist, nahm er sein Nein zurück. Dann sagte zunächst Terfel und dann dessen Ersatzmann ab. Im Frühjahr dieses Jahres betrat Volle die Met-Bühne als Mandryka in der „Arabella“ von Richard Strauss, einer weiteren Schenk-Inszenierung. Jetzt ist er aus Zürich für eine Woche eingeflogen, um in zwei Vorstellungen den Schusterpoeten zu singen, über den er schon 2008 zu sagen wagte: „Der Sachs ist einfach meine Partie.“ Die Aufführung am heutigen Samstag mit Annette Dasch als Eva und Johan Botha als Walther wird live in Kinos auf der ganzen Welt übertragen.

Dass Volle den Stress einer extrem kurzen Probenzeit für das monströs lange Stück auf sich genommen hat, ist Ausdruck seiner beinahe abergläubischen Überzeugung, jede Chance, den Sachs zu singen, wahrnehmen zu müssen. Vor allem aber wollte er einmal auf der Opernbühne stehen, wenn James Levine dirigiert. Als Levine Chefdirigent der Münchner Philharmoniker war, wirkte Volle in konzertanten Aufführungen von Beethovens „Fidelio“ und Schönbergs „Moses und Aron“ mit. „Jeder schwärmte von ihm als einem der größten Operndirigenten, den wir haben.“ Wie der Chef des Met-Orchesters, der wegen seines Rückenleidens von einem drehbaren Sessel aus dirigiert, dem mit Pausen sechsstündigen Werk einen großen Spannungsbogen einzog, das erlebte Volle bei seinem ersten Auftritt am Dienstag als „ein vorgezogenes Weihnachten“. Levine nahm sich eine Stunde, um mit Volle die Partie durchzugehen. Das Ergebnis klingt in Volles Ohren nicht einstudiert. „Eine Vorstellung ist live und lebt. Das unglaublich Schöne mit Levine als Partner ist, dass er auf den Sänger eingeht, Intentionen aufnimmt, ein Accelerando hier oder eine kleine Verzögerung da.“
Als Beckmesser gibt ein weiterer deutscher Bariton sein Met-Debüt, dem erst in reiferen Jahren die große Aufmerksamkeit zuströmte: Johannes Martin Kränzle, der seit 1998 dem Ensemble der Oper Frankfurt angehört. Martin Gantner, als Kothner ebenfalls Met-Debütant, war Beckmesser, als Volle 2012 in Zürich seinen ersten Sachs sang. Mit behaglicher Selbstironie bemerkt Volle: „Meine Beckmesser-Kollegen haben es immer ein bisschen schwer, ich kenne immer noch jede Silbe und jede Note.“ Wenn die Ratssitzung der Meistersinger gleichzeitig ein Beckmesser-Klassentreffen ist, provoziert des Merkers Losung „Beckmesser – immer besser!“ schon in den Proben eine ironische Lesart.
Sind Volle, indem er sich nacheinander beide Rollen aneignete, Gemeinsamkeiten der beiden Charaktere aufgegangen? Aus dem Kreis der zünftigen Dichterbrüder ragen sie beide heraus. Empfindet Beckmesser nicht vielleicht zurecht eine Wahlverwandtschaft mit Sachs, als er sich einbildet, mit einem Lied aus dessen Feder müsse er im Wettstreit um die Hand Evas siegen? Volle hebt hervor, dass das Lied, dessen Manuskript Beckmesser in der Schusterstube einsteckt, gerade kein Werk von Sachs ist. Dieses Verkennen der künstlerischen Handschrift von Sachs ist bezeichnend: „Beckmesser kann und will einfach nicht erkennen, was da durch Walther von Stolzing am Horizont erscheint. Er versteht nicht, dass es weitergehen muss.“ Sachs ist offen für das Neue, Beckmesser „vertritt die Traditionalisten, die es immer gab“. Angesichts dieses Antagonismus fallen Volle Mozart und Salieri ein. „Salieri war hunderttausandmal wohlhabender und berühmter als der Universalplanet Mozart. Beckmesser füllt den Beruf des Stadtschreibers sicher sehr gut aus und beherrscht die Regeln perfekt. Aber wenn er der Maßgebende gewesen wäre, dann wäre die Oper sehr kurz geworden.“

In Schenks Inszenierung ist Beckmesser am Ende der langen Oper nicht mehr zu sehen. Das entspricht der Regieanweisung Wagners: Er „verliert sich unter dem Volke“. Was hält Volle als ehemaliger Beckmesser von der von modernen Regisseuren eingeführten Variante, dass Beckmesser in die festliche Versöhnung des Schlussbilds einbezogen wird? „Ich finde es schön, wenn man das macht. Als ich in Köln einmal einsprang in einer interessanten Produktion von Uwe Erich Laufenberg, war es so. Beckmesser ist nicht einfach passé, sondern bleibt, und Sachs geht nachher zu ihm hin, was nun wieder zum Charakter von Sachs passt: Er ist niemand, der jemanden verstößt und sich nur noch auf die heile Welt konzentriert. Es geht nicht um das Vergeben des Diebstahls, sondern darum, die Größe zu haben, Andersdenkende nicht auszuschließen.“ Volle möchte nicht ausschließen, dass der blamierte Merker lernfähig wäre. Außerdem müsste Sachs „angesichts der Demütigung, die Beckmesser vor versammelter Mannschaft widerfährt, eigentlich ein schlechtes Gewissen haben“.
Was Volle an Sachs zutiefst fasziniert, ist eine Vielschichtigkeit des Charakters, die ein Moment der Bosheit einschließt. Für „eine der wunderbaren Seiten von Sachs“ hält er gerade die dunkle. „Der humanistische Mensch ist auch nur ein Mensch. Er lässt Beckmesser mit fröhlichem Grinsen ins Messer laufen. Das hat José van Dam, mein erster Sachs, mir sehr gut vorgemacht, bei allem noblen Singen und aller Größe, die er ausstrahlte.“ Wer den Sachs meistern will, darf kein Anfänger mehr sein. Durch Erfahrung klug, muss man einen Zustand erreicht haben, in dem „man nicht mehr nachdenken muss“. Der Sänger des Sachs muss „souverän über allem stehen“, gerade weil man das von der Figur bei näherem Hinhören keineswegs sagen kann.
Volles Mentor Wolfgang Schöne hat den Sachs noch im hohen Sängeralter gegeben. Dass ein erfahrener Darsteller gebraucht wird, obwohl der Sachs der Uraufführung nur 33 Jahre alt war, legt dem Publikum nahe, sich den Witwer als alten Mann vorzustellen. Wie ernst ist Sachs als Liebeskandidat zu nehmen? Ist es zwangsläufig, dass der junge Ritter Evas Hand gewinnt? Volles Widerspruch ist prompt und kategorisch: „Falsch!“ So klingt es, wenn Sachs auf den Leisten schlägt. „Es gibt keinen Lebensplan. Meine Frau ist 21 Jahre jünger als ich. Lassen Sie ihn Anfang vierzig sein. Die Liebe ist nicht altersabhängig.“ Für Volle spielt sich das Drama in der Seele von Sachs ab, Walther ist nur Statist. „Die Liebe zu Eva ist sicher da. Sie ist eine väterliche, behütende, aber wahrscheinlich auch eine fleischliche, erotische. Wenn diese Anziehung und Hingabe größer wäre als das Erkennen der Möglichkeiten der Welt der Kunst, dann hätte er den Ritter durchaus aus dem Feld schlagen können. Walther wäre verschwunden, und Sachs wäre der unumstrittene Dieter Bohlen von Nürnberg gewesen.“

Er soll viele Kinder gehabt haben „und hätte mit Eva noch einmal fünf Kinder gezeugt und wäre glücklich gewesen bis ans Ende seiner Tage“. Diese Idee der latenten Zeugungskraft erinnert an Mozarts Don Giovanni, den Volle ebenfalls einmal als eine seiner Lieblingsrollen bezeichnet hat. Sieht er Ähnlichkeiten zwischen den Namensvettern? „Don Giovanni ist viel mehr gefangen in einem Verhaltensmuster, dem er gar nicht mehr entkommt, auch wenn er es vielleicht wollte. Er muss die Frauen herumkriegen, ob er sie mag oder nicht. Wahrscheinlich hat er sonst nichts im Leben.“ Sachs dagegen hat sich durch Entsagung befreit. Als Psychologe ist Wagner über Mozart hinausgelangt. „Don Giovanni kann wahrscheinlich nicht alles zeigen, was in ihm steckt. Da hat der Sachs viel, viel mehr Möglichkeiten. Don Giovanni kann nur verführerisch und böse sein, böse zum Commendatore, böse zu Elvira, böse zu Anna, böse zu Leporello, böse zu allen. Da bleibt nur der Weg in die Hölle.“ Volle interessiert, „wie die Hölle von Sachs aussieht“. Er versucht „immer zu zeigen, dass er am Schluss, nach dem großen Jubel, eigentlich wahnsinnig einsam ist“.
In Stefan Herheims Salzburger Inszenierung ist Volles Sachs schon während des Vorspiels in dichtender Aktion auf der Bühne, als Schöpfer der Welt, die auf seinem Schreibtisch emporwächst. Wagner, stellt Volle fest, hat Sachs idealisiert, „und sicher auch deswegen, weil er gerne so gewesen wäre und beileibe nicht so war“. Als „ein menschlich äußerst angreifbarer Typ“ zeigte sich Wagner gerade auch in der Zeit der Arbeit an den „Meistersingern“. „Wenn man liest, wie er sich verhalten hat den ihn fördernden Mitmenschen gegenüber, schlägt man die Hände über dem Kopf zusammen.“ Aber just diese Neigung zum momentweise asozialen Verhaltung hat Wagner Sachs mitgegeben. „Genial, wie er ihn zeigt in der Schusterstube, wenn Walther kommt und er plötzlich ausrastet: ‚Hat man mit dem Schuhwerk nicht seine Not?‘ Ich freue mich dann immer, wenn ich wirklich ausrasten darf und Sachen in der Gegend herumwerfen kann, nachdem er vorher immer so weise ist.
Herheims „Meistersinger“ sollen Schenks Inszenierung an der Met ablösen. Dass diese für die Spielzeit 2019/20 vorgesehene Koproduktion wirklich realisiert wird, ist, wenn man Volle richtig versteht, wohl noch nicht definitiv. „Ich freue mich auf die Wiederaufnahme von Herheims Produktion hier, wenn sie stattfindet. Das war, anders als viele ihm angekreidet haben, die wohl nicht alles verstehen wollten, nicht nur eine Biedermeier-Ausstattung. Sondern da ging es um Untiefen hinter diesem Scheinbaren. Ein wunderbarer anderer Weg.“

Bleibt der Schuster bei seinem Leisten, als er die Lobrede auf die deutsche Kunst hält, der die nationalsozialistische Rezeption der „Meistersinger“ fatale Stichworte entnahm? Volle versteht die Rede so, wie Harry Kupfer sie ihm verdeutlicht hat: Deutsch stehe hier als zeitgenössische Chiffre für absolut. Die Kulisse von Kupfers Zürcher Inszenierung von 2012 ist die Baustelle einer zu restaurierenden Kirche. „Dort steht irgendwo eine verhüllte Statue, und bei den Worten ,Was deutsch und echt, wüsst keiner mehr, lebt’s nicht in deutscher Meister Ehr‘ ziehe ich das Tuch weg, und dann kommt eine holzgeschnitzte Figur von Tilman Riemenschneider darunter hervor, als Sinnbild für etwas Heiliges. Der absoluten Kunst muss man alles unterordnen, jegliche Religion, jegliche Nationalität, jegliches Geschlecht.“ Sachs enthüllt Riemenschneiders Täufer, seinen Namenspatron an seinem Namenstag. Er trägt den Namen des Heiligen, des Vorläufers Jesu, wie er dem Künstler der Zukunft den Weg bereitet, aber er selbst ist in Volles Augen „kein Heiliger – er ist aus Fleisch und Blut“, nicht aus Holz.
Michael Volle ist ein Pfarrerskind, jüngstes von acht Geschwistern. Natürlich pflegte man im Pfarrhaus die Hausmusik. „Kein Weihnachten ohne zwanzig Triosonaten.“ Der Vater wuchs am Rande des Schwarzwalds auf, in sehr beschränkten Verhältnissen. Er „musste mit allem kämpfen und hatte dann keine Reserven übrig für die Musikgeschichte“ nach dem Barock. „Ich wurde groß mit Bach, Händel und Schütz. Schon Mozart war weit weg. Geschweige denn Wagner.“ Volle ließ seine musikalische Kindheitswelt hinter sich und kehrt doch einmal in der Woche in sie zurück. „Ich habe ein sehr distanziertes Verhältnis zur Kirche, aber es ist viel hängengeblieben von dem, was meine Eltern uns vermittelt haben. Jeder baut sich seine Lebensphilosophie zusammen, und ich brauche sonntagmorgens meinen Barock.“ Antonio Pappano, unter dem Volle am Königlichen Opernhaus in Covent Garden gesungen hat, spielt Bach sogar jeden Morgen im Büro. „Bachs Musik klingt auch mit einem Wald-Wiesen-Kirchenchor, weil sie so stark und absolut ist.“
Bringt der Regelbruch auch heute noch eine Erneuerung hervor, die im hörenden Volk Resonanz zu finden verspricht? Das ist für Volle ein „ganz schwieriges Thema“. Unter Manfred Schreier hat er die Neuen Vokalsolisten Stuttgart mitbegründet. „Als Anfänger habe ich mich mit Neuer Musik beschäftigen müssen, und das war wohl Schicksal, dass ich Sachen gemacht habe, die ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Einschränkend muss ich natürlich sagen: Etwas anzuschauen und etwas zu machen sind zwei Paar Stiefel.“
Wo begegnet der Hörer dem Neuen? Unlängst hat Volle in München eine Aufführung der „Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann besucht, „aber das ist ja keine neue Musik“. Er macht demnächst wieder „Lulu“ und „Wozzeck“. Die Opern von Alban Berg „sind Klassiker, aber keine Renner“. Mit dem Chor des Süddeutschen Rundfunks war Volle oft in Donaueschingen. „Wenn ich dort jetzt hinkomme, mutet es mich manchmal so an, dass man sich abschottet und dann seine Suppe kocht. Aber Berechtigung hat alles. Manche Leute rümpfen die Nase über Reimann und Henze, weil es schon wieder zu gefällig sei. Vielleicht müssen wir noch einmal fünfzig Jahre warten, und dann über diese Zeit jetzt sprechen.“ Die Frage lautet: „Wer beurteilt, was gut ist und was nicht?“ Anders gewendet: Wo ist Beckmesser, wenn man ihn braucht? „Niemand hat sich 1750, als Bach starb, vorstellen können, dass es je so etwas wie Brahms gibt. Zur Zeit Beethovens konnte sich niemand so etwas wie Wagner vorstellen. Es geht darum, dass man wirklich versucht weiterzumachen.“
Hört man, wie Ulrich Schreiber in seinem „Opernführer für Fortgeschrittene“ behauptet, dass der Aufruf zur Meisterehrung eine Interpolation ist? Wenn Volle ihn singt, hört er es nicht. Dem von Schreiber zitierten Vorschlag Walter Kellers, die Rede zu streichen und die Oper, wie von Wagner zunächst geplant, mit der Absage Walthers an die Meisterwürde enden zu lassen, kann Volle nichts abgewinnen. „Als Sachs muss ich vehement widersprechen. Musikalisch ist die letzte Ansprache noch einmal toll, und dann mündet alles in diesen fulminanten C-Dur-Chor – das ist der Hammer. Ich würde es auch immer vehement bekämpfen, dass man im ,Don Giovanni‘ mit der Höllenfahrt aufhört. Mozart hat sich schon etwas dabei gedacht, ein schönes Finale folgen zu lassen, das ganz brüchig ist.“
Danke, beinahe gut
Nur einmal so als Einwurf: Im Gegensatz zu Michael Volle würde ich das frühere Ende der “Meistersinger” freudig begrüßen.
Auch ist die ganze Met-Inszenierung im Vergleich zu Katharina Wagners Version wieder einmal schrecklich spießig, ein echter Schenk halt. Zugegebenermaßen sehr alt. Gut für Leute, die sich die besseren, teuren Karten nicht leisten können. Man ärgert sich nicht über die Bilder.
Die Met bietet übrigens (für Leute, die es noch nicht wissen) Mitgliedschaften an, und man kann dann viele Aufzeichnungen von Opern-Aufführungen auch zu Hause von Computer auf den Bildschirm streamen. Höchste Qualität zwar, die Meistersinger sind aber nur in einer alten Aufführung zu sehen. Für die muss man ins Kino. Und viel Geld bezahlen.