Besucher der Metropolitan Opera mussten an den Festtagen in dieser Saison einen liebgewordenen Anblick entbehren. Der Weihnachtsbaum fehlte. Früher war mehr Lametta, früher war mehr Geld in der Kasse. Die Ratings-Agentur Moody’s hat die Met, die Supergroßmacht der modernen Opernwelt, kurz vor Weihnachten wie einen über seine Verhältnisse lebenden Staat herabgestuft – pünktlich zu der für Silvester angesetzten Neuinszenierung von Franz Lehárs Operette „Die lustige Witwe“, in der die kreativen Haushaltssanierungsmethoden des Balkanfürstentums Pontevedro den Anlass für die Liebesintrige bieten.
Ein geschäftlicher Erfolg sind die Live-Übertragungen von Met-Aufführungen in mehr als 2000 Kinos auf der ganzen Welt, auch wenn sich wie bei den Digitalabonnements der ähnlich großmächtigen, ähnlich trudelnden „New York Times“ die Frage der Kannibalisierung stellt. Schafft „The Met: Live in HD“ nicht jedenfalls für Musikliebhaber im erweiterten Großraum von New York Anreize, sich die hohen Eintrittspreise für das Opernhaus zu sparen? Auch im ästhetischen Sinne sind Kosten und Nutzen des Projekts abzuwägen, das nun in der neunten Spielzeit betrieben wird. Die Live-Übertragung in einen Theatersaal mit Kinoleinwand nimmt eine merkwürdige Zwischenstellung ein zwischen der an Ort und Stelle miterlebten Aufführung und der abgespielten Konserve. Transmission der Musik, zweidimensionale Projektion, Kinomöblierung und -verköstigung schaffen eine Distanz, die durch eine von der Videotechnik ermöglichte Nähe kompensiert wird. Fördern Großaufnahmen die Konzentration, machen Kameraschwenks das Bühnengeschehen durchsichtiger?
Für die räsonnierende Probe aufs medienästhetische Exempel drängen sich „Die Meistersinger von Nürnberg“ von Richard Wagner auf, die die Met in dieser Spielzeit als Wiederaufnahme einer auch auf DVD dokumentierten Produktion des Jahres 1997 auf die Bühne gebracht hat. Regie führte, wie in der „Arabella“, die die Met in der vergangenen Spielzeit zum Strauss-Jubiläum wiederaufnahm, Otto Schenk. Die „Meistersinger“ sind ein Werk, das den Zuschauer überwältigen, aber schon wegen der schieren Dauer von sechs Stunden (mit Pausen) auch physisch überfordern kann. Den scheinbar oder nur im engen Wortsinn altfränkischen Stoff hat Wagner mit herrlichem Witz behandelt, der verschwindet, wenn man den Text nicht versteht.
Den Kritiker fordert das Stück schon deshalb heraus, weil es sein Thema der belebenden Kraft der Kunst auch als Kritik der Kritik durchspielt, als Revision der Regelpoetik, die der „Merker“ Sixtus Beckmesser von Amts wegen verteidigt und der charismatische Großmeister Hans Sachs, ein Revolutionär von oben, am Ende doch nicht verwirft. Begünstigt die Rezeption im Kinosaal die Wahrnehmung der filigranen Reize der Musik, des Komödiantischen von Wagners einziger Komödie? Wir haben unseren Kollegen Lennart Schneck gebeten, die Kinoübertragung der „Meistersinger“ am 13. Dezember in einer anderen Weltstadt der Musik, in München, zu besuchen.
In der Met nahm das Publikum um zwölf Uhr mittags seine Plätze ein, im Münchner Lichtspielhaus um sechs Uhr abends. Um Mitternacht gelangte man in München wieder an die Luft, als in New York die Umbauten für die Abendvorstellung begannen: Um neun Uhr abends wurde „La Bohème“ von Giacomo Puccini geboten, inszeniert von Franco Zeffirelli, ein weiteres vom Stammpublikum innig geliebtes Meisterstück aus der Ära der geschichtsmalerischen Ausstattungsregie.
Als Zuschauer im Opernhaus bekommt man von der Übertragung während der Übertragung wenig mit. Vor der Riesenbühne stören die Kameras kaum. Das belehrende Pausenunterhaltungsprogramm, das hinter den Kulissen unter arbeitsteiligem Hochdruck produziert wird, erhält man nicht zu sehen. Wahrscheinlich sind wenigstens in Ländern wie Italien die Zuschauer der Kinoübertragungen besser angezogen als die Besucher der Met, die zumal für Nachmittagsvorstellungen legere Kleidung bevorzugen.
Wie James Levine, Michael Volle, Johannes Martin Kränzle, Hans-Peter König, Paul Appleby, Annette Dasch und ihre Kollegen das New Yorker Nürnberg nach München brachten, so bitten wir nun im Gegenzug Lennart Schneck aus München auf die Bühne unseres New-York-Blogs. pba.
Vorspiel
„Fanget an!“ Die gesteigerte Intensität des Spiels im Spiel erfasst die Zuschauer von Wagners zweiter Sängerwettstreit-Oper jedes Mal wieder zuverlässig, und zwar zusammen mit den in ihr dargestellten Figuren einer Frühzeit bürgerlich werdender Künste an einem international hochgradig – im Stück bis an den Jordan – vernetzten Ort florierender eigener Produktivität. Im praktischen Leben hat eine „Meistersinger“-Aufführung ein Vorspiel eigener Art, wenn man sich zu einer der vielen weltweiten Kino-Übertragungen aus der Metropolitan Opera aufmacht, und erst recht gilt das in München, der Stadt, in der das Werk vor 146 Jahren uraufgeführt wurde. Durch den hektisch geschäftigen, aber auch behaglich gesteigerten Betrieb eines Adventsamstags führt einen der Weg dabei direkt an einer Gedenktafel an einem unansehnlichen Nachkriegsgebäude vorbei, die auf eine nicht mehr existente Villa verweist, wo der spätere „Bayreuther Meister“ weilte, gleich neben den städteplanerisch und architektonisch damals avantgardistisch neuen, großzügigen Propyläen in neoantikem Retrostil am Königsplatz.
München ist die neben Bayreuth wohl wichtigste Wagner-Stadt. James Levine, der Dirigent des Abends, war hier zwischen 1999 und 2004 Chefdirigent bei den Münchner Philharmonikern, nach Sergiu Celibidache und vor Christian Thielemann. Die Met-Übertragungen verzeichnen einen kontinuierlich gestiegenen Zuspruch, wie man ihn sich in den meisten Bereichen der klassischen Musik nur erträumen kann: in und um München inzwischen schon in drei Kinos. Auf diesem hohen Nachfrageniveau versprachen die Abende unter dem nach längerer Abstinenz an das Pult zurückgekehrten legendären musikalischen Leiter des größten Opernhauses der Welt zu musikalischen Höhepunkten der Saison zu werden, jeder von ihnen ein Grund für ein Abonnement.
Eines der unbestreitbaren Verdienste von Levine in der Philharmonie am Gasteig – ein paar hundert Meter am Hochufer der Isar weiter hatte Wagner zunächst ein Festspielhaus geplant – waren konzertante Aufführungen von Opern – „Idomeneo“, „Parsifal“, „Moses und Aron“. (Auch ein Ausgleich für das leider Gedankenspiel gebliebene Gastspiel des unübertrefflichen Opernprofis Levine an der Bayerischen Staatsoper.)
Vor dem schon seit Monaten ausverkauften Kino werden im letzten Moment doch ein paar Karten zum Kauf angeboten – zu dem regulären Preis, für den man in der Bayerischen Staatsoper Karten der sechsten Kategorie bekommt. Nur wegen der Unvorhersehbarkeiten des vorweihnachtlichen Trubels? Oder weil kein in München besonders beliebter Starsopran oder -tenor angekündigt ist? Oder ist das Trostpotential der Schenk-Inszenierungen, das in den Anfängen des Regisseurtheaters davon Geschädigte scharenweise in die Neue Welt zog, inzwischen abgeklungen?
Jedenfalls ist es auch in Zeiten fortgeschrittener medial-technischer Gleichschaltung etwas erstaunlich Besonderes geblieben und irgendwie feierlich und rührend, sich so konkret zeitlich mit dem größten Haus der Opernwelt gleichgetaktet zu wissen, auch in einer Stadt mit eigenem Opernhaus von Weltgeltung. In Zeiten noch ganz anderer und immer neuer technischer Informationsübertragungs-Fortschritte dürfte bei vielen Besuchern mehr als bloß das kindliche Faszinosum der technischen Leistung mitspielen. Wie bei öffentlichen Vorführungen von Sportereignissen geht es um die Gleichzeitigkeit und die Gemeinsamkeit, die Überwindung der Vereinzelung am noch so beweglichen persönlichen Rechner – schwer vorstellbar, dass sich genauso viele Menschen einfinden würden für eine Tage spätere Vorführung, und die Verfügbarkeit von Konzerten und Opern im Netz ist ohnehin schon Normalität.
Und verblüffend und rührend auch, einen Besucher vor Ort in Manhattan anrufen zu können. Dabei fällt einem erst auf, dass es erstaunlicherweise bisher offenbar zur Dramaturgie der Übertragungen gehört, trotz ausgiebiger Innenaufnahmen aus allen möglichen Perspektiven, auch hinter den Kulissen, auf Außen- und Foyeraufnahmen ganz zu verzichten. Trägt das bei den vielen Zuschauern an den verschiedensten Orten weltweit vielleicht zu einer beabsichtigten Art gemeinsamer, geteilter Vertrautheit bei, aus welcher Stadt der Welt auch immer mit dem Zuschauerraum zugleich den der Met zu betreten?
Unvergesslich sicherlich für jeden Besucher der Überraschungseffekt bei der ersten Vorstellung, wenn für Momente das in der Met von hinten gefilmte, teilweise noch stehende Publikum vor der Vorstellung optisch nicht sicher von den ähnlich im Kinoraum sich versammelnden Menschen zu unterscheiden ist.
I. Aufzug
Otto Schenks gemessen an ihrem altmodischen Stil wohl auch für Met-Standards erstaunlich neue Inszenierung von 1997 widersteht der so verständlichen starken Versuchung, die Musik der Vorspiele zum ersten und dritten Aufzug zu illustrieren oder zu vorbereitenden inszenierten Erläuterungen des Regiekonzepts zu nutzen. – Beides tut in kongenialer Weise etwa die letztjährige Salzburger Inszenierung von Stefan Herheim, die von der Met schon als Nachfolge-Produktion für die von Schenk angekündigt ist. – Die Kino-Übertragung lässt das Pendel der Aufmerksamkeit für die musikalischen Vorspiele noch weiter in die Gegenrichtung schwingen, indem sie den Zuschauer nicht wie den Opernbesucher zwingt, die Augen auf dem beleuchteten Bühnenvorhang ruhen zu lassen und sich dem reinen Hören zu ergeben. Sie führt den Blick in den Orchestergraben, wo der Maestro und das Kollektiv seiner hochspezialisierten Individualisten bei ihrer harten Arbeit zu beobachten sind.
Levine wirkt in seiner durchsichtiger und persönlicher gewordenen Präsenz energisch und scheint sich noch mehr als früher innerlich treiben, packen und ergreifen zu lassen von der Musik. Als primus inter pares stürzt er sich gemeinsam mit den ihm anvertrauten Musikern förmlich in den Kampf und das Getümmel fast eines halben Tages, in dem eine Schlacht um vieles geschlagen werden wird. Schon hier scheint eine Art List der Vernunft dieses auf einer bestimmten Ebene so genial „einfach“ und emotional wirkenden Dirigenten zum Tragen zu kommen: Einerseits wirkt sein Einsatz so energisch wie die wuchtige Musik – andererseits merkt man gerade deswegen nicht, dass er sie in ihrer Wucht nicht noch verstärkt, sondern eher an der Untergrenze des Nötigen hält.
Dafür muten die verschiedenen Zwischenspiele ungeheuer reichhaltig und erholsam andersartig, wie lauter unvermutet aufbrechende glückliche Idylle an. Und die einsetzenden Fugati kommen mit ihren ein ums andere Mal phänomenal virtuos hingelegten Spielfiguren orchestertechnisch absolut meisterhaft herüber. Von einer ansteckenden, fast überbordenden Spielfreude, wirkt diese in jeglicher Hinsicht bunt gemischte Schar von absoluten Könnern ihres Fachs unter diesem, dem normalen Opernbesucher verwehrten Blickwinkel auch seriös und bescheiden – Könner ohne Glamour. Bei den besten Musikern hat verblüffenderweise der bloße dokumentierte Anblick der „Gemachtheit“ ihrer „Arbeit“ immer wieder etwas von einer Offenbarung – wenn ihre extrem spezialisierte, voraussetzungsreiche, zugleich geistige und körperliche Arbeit glückt und hier vom Dirigenten gleichgerichtet den beobachtenden Hörer erreicht und im Idealfall völlig erfasst.
Das wäre und ist schon bei einem Stummfilm faszinierend – und ist es noch einmal in einer ganz neuen Erlebnis-Dimension, wenn man das Ergebnis dieser beobachteten Arbeit, indem man es hört, sich bei sich, und ja auch bei den beobachteten „Verursachern“, den Musikern, auswirken spürt. Und noch um eine Stufe mehr ist es so, weil man weiß, dass es jetzt gerade im selben Moment, in dem man es erlebt, stattfindet, und man weiß, dass der gefilmte Musiker das auch weiß, oder wissen kann, dass er jetzt dabei beobachtet wird, also auch für den Kinobesucher spielt, und man insofern in diesem Moment auf eine bestimmte Art zusammengehört. – Dank sei jedenfalls dem Regiekonzept von Schenk beziehungsweise der Videoregie von Matthew Diamond, dass sie diese Lücke ließen beziehungsweise so nutzten!

Als Europäer oder zumindest deutscher Opernbesucher ist man des Anblicks einer bühnenbildnerisch so wörtlich genommenen alteuropäischen Kirchenkulisse wie hier zu Anfang wahrlich ziemlich entwöhnt und von ihr inzwischen vermutlich mindestens so überrascht wie umgekehrt der traditioneller geprägte amerikanische Opernbesucher von den zur Routine gewordenen Provokationen, Uminterpretationen und Neuerfindungen „für Fortgeschrittene“ hierzulande. Trotzdem oder umso mehr wird man im Nu gefangen von dem auch musikalisch höchst realistischen Wechselspiel von erotischer und sakraler Stimmung. Darüber vergisst man sowohl die darin einstmals liegende Provokation – weil man selbst hineingezogen ist – als auch den ästhetischen Fingerzeig Wagners, in einer Künstleroper, die das Thema der Kunstreligion zumindest mit aufruft, wortwörtlich bei der Religion anzusetzen.
Walther von Stolzing – mit Johan Botha gewohnt stimmstark und sicher besetzt – und die hübsch kontrastierende Eva der Annette Dasch halten mit ihrem stimmlichen Einstieg das Versprechen eines großen Opernabends. Der David – eine fordernde, aber auch eine von Wagners dankbarsten Rollen – wird von Paul Appleby in beispielhaft guter Diktion und mit klarem, hellem Timbre und homogen ausgeglichenen Registern gegeben. Alles in seiner Fülle verschiedenartigster Musik mit zuverlässigster, Sicherheit verbreitender Direktion aus dem Orchestergraben – manchmal sieht man kurz Hilfe suchende Blicke der Sänger dorthin.

Dann die Verbreiterung zum ersten großen, werktitelgebenden Tableau des gemeinschaftlichen Auftritts der Meistersinger. Liegt es an der hier technisch möglichen Fokussierung auf die einzelnen Meistersinger? (Oder auch an der eigenen fortschreitenden Hörerfahrung?) Oder zuletzt doch hauptsächlich an der schwelgerischen Überfülle an guten Sängern auch in Nebenrollen in einem solchen Haus – wie in früheren legendären Traummannschaften amerikanischer Nationalsportarten? Selten sind einem die einzelnen Sängerfiguren so prägnant in ihrem eigenen Charakter vorgekommen, aus der Schemenhaftigkeit des pennälerhaften Aufgerufenwerdens heraus- und ernsthaft in das Spiel eingetreten. Und so sehr einen die Texteinblendungen im richtigen Opernhaus als einer fremden Wahrnehmungsebene angehörig stören mögen – hier tun sie das weniger. Zweifellos kann auch diese technische Zutat zu der gesteigerten „Plastizität“ von Figuren in dieser Erlebnisform beitragen.
Die starke Wirkung der Meistersinger-Männergesellschaft dürfte aber noch an etwas anderem liegen: als Ferment zu deren jeweiligen individuellen, aber in sich etwas geschlosseneren Charakteren agiert der das Konservative dieser Inszenierung sprengende, zumindest von ihr und ihren Figuren sich wunderbar abhebende, neu, modern, jung, offen wirkende Sachs des Michael Volle, der als Charakter mit großer Ausdruckspalette und genügender Kraft so Neugier erweckend, sympathisch, gewiss auch alles andere als einfach wirkt, dass man auch um seiner Entfaltung der Sachs-Figur willen auf den Abend gespannt ist.
1. Pause
Jeden erstmaligen Met-Kino-Besucher nehmen gewiss nicht nur die Künstler-Interviews, sondern auch die pausenfüllenden unkommentierten Filmaufnahmen gefangen – bei denen nicht zuletzt die mitlaufende Uhr der verbleibenden Restzeit der Pause fasziniert: Wie der Blick in den Orchestergraben – wenn es die Regie durch „Enthaltsamkeit“ während der Vorspiele erlaubt – führt einem der Blick „hinter die Kulissen“ in aufregender Weise die Gemachtheit des ganzen schönen Scheins vor Augen. Und dabei kommt keineswegs nur hochentwickelte Technologie zum Einsatz wie bei der berüchtigten rechnerunterstützten „Maschine“ des Lepage-Rings, sondern erstaunlich viel altmodische Handarbeit. Umso mehr ist die Meisterleistung der logistischen Koordination zu bewundern – die ablaufende Uhr versetzt den Zuschauer in eine ganz andere Panik als in jedem James-Bond-Film: handelt es sich doch um die Echtzeit der eigenen Aufführung, während die Mitbesucher draußen noch Espresso oder Popcorn zu sich nehmen!
II. Aufzug
Eine der beeindruckendsten Gesangs- und Darstellungsleistungen der Vorstellung bietet ohne Zweifel Hans-Peter König als Pogner, der hier mit wunderbar balsamischer Stimme aus der gewissen Eindimensionalität der Rolle als bedrohlicher Bösewicht heraustritt, die König in anderen Wagner-Opern so eindrucksvoll verkörpert. Und Momente wie die des auskomponierten Zweifels über die eigene Motivation, der plötzlichen Einsicht in eine eigene Fehlleistung mitsamt sofortiger Verdrängung, als Pogner überlegt, ob er zu Sachs gehen und mit ihm sprechen soll, sind geradezu positiv-dämonische Momente einer tief humanen psychologischen Kunst Wagners und ihrer interpretatorischen Nachschöpfung.

Der Sachs des Michael Volle kehrte demgegenüber hier durchaus auch zwiespältige, zerrissene, abgründige Seiten hervor. Stimmlich wirkt er in dieser höchst anspruchsvollen Rolle so souverän in exponierten Höhen wie sonor in tieferen Lagen und seinem Rollenkonzept gemäß immer beweglich, ohne zu leichtgewichtig zu sein; oft wunderbar weich, aber wenn es drauf ankommt, immer mit kernig-tragfähiger Stimme.
Hier war vielleicht auch zu spüren, dass Volles Sachs eine der seltenen Ausnahmen darstellt, die die Regel bestätigen, dass aus bestimmten Figuren auf der Gesangsbühne bestimmte andere eben nicht werden können. Eine Micaela wird selten eine echte Carmen. Aus einem Alberich wird schwerlich ein Wotan – einem Gott darf in der Wut nicht die Stimme überschlagen. In einer Zeit, in der zu oft solche begründeten Rollen-Erwartungen zu wenig gelten, gelang Volle der überzeugende Wechsel vom Beckmesser zum Sachs, und etwas davon wohnt auch der Komplexität seines Sachs inne.

Die ausufernde Prügelfugen-Szene wird inszenatorisch so klein gehalten wie zwischen den engen Häuserwänden von Günther Schneider-Siemssens Bühnenbild gerade möglich. – Höchst passend dazu legt Levine dem Ganzen rhythmisch kurze Zügel an und verfolgt in für ihn typischer Weise unnachgiebig den einen melodischen roten Hauptfaden durch das sich zu verknoten drohende polyphone Gespinst. Im Ergebnis erlebte man mit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem eine Musik genau an der Aggregatzustands-Grenze zum puren Chaos.
Magisch, fast gespenstisch, wie der Maestro im Nachspiel nach der Prügelfuge und dem Auftritt des Nachtwächters das Tempo noch einmal gewagt drosselt, ja fast aufhebt, den klanglichen Zusammenhang aber gerade eben noch nicht abreißen und unerhörte, dunkel-glockenhafte Töne anklingen lässt, wie im Raum stehenbleibende auskomponierte Chiffren. Das hat man noch nirgendwo so gehört. Levine at his best.
2. Pause
Künstlerisch wichtiger als die Ab- und Aufbauarbeiten hinter den Kulissen scheinen die Kurzinterviews mit den Künstlern – meist selber von bekannten Sängern der Met geführt, gerne von Renée Fleming, die so oft in dieser Funktion auftritt, dass sie schon fast so etwas wie das Gesicht der „Met im Kino“ ist. In den besten Momenten können die naturgemäß nicht immer tiefschürfenden Äußerungen, zu denen es in so einem Zusammenhang kommt, ironisch-schlagfertig, amüsant, geistvoll und auch spürbar aus tiefer Erfahrung sprechend und ernsthaft sein. Etwas Gnadenloses hat das Abfangen der Künstler direkt nach ihrem Auftritt gleichwohl, weil hier zu befürchten ist, dass dem schon zu weitverbreiteten Missverständnis noch mehr Vorschub geleistet wird, der (und sei es bloß nachschaffende) künstlerische Akt sei direkt kompatibel mit seiner Kommentierung und nicht einer grundsätzlich anderen Sphäre angehörig, die vor allen Dingen erst einmal Respekt verdient. Nun, wir leben in harten Zeiten, manche Künstler werden diese Gespräche fast direkt in flagranti als Fortsetzung des Kampfs auf der Bühne mit anderen Mitteln sehen und zu nehmen wissen. Und man muss zugeben, auch einmal so gute Gesprächsverläufe erlebt zu haben, dass man mit der Einrichtung versöhnt war und das unwiderstehliche Lächeln von Frau Fleming nicht mehr missen wollte.
Diesmal bestach der David-Darsteller Paul Appleby mit klugen Äußerungen zur Liedhaftigkeit vieler Passagen im Werk, deren Triftigkeit er vorher schon mehrmals unter Beweis gestellt hatte – etwa im „Weisen-Monolog“, den er auch durch seine eigene Stimmbeherrschung zu einer Lehrstunde im Meistergesang machte.
Gesicht und Stimme leiht Renée Fleming auch dem jedes Mal wiederholten eindringlichen Appell zu mehr Spenden für die Met, dessen Ernst man immer besser versteht. In keiner anderen Oper als genau den „Meistersingern“ wird dieser Appell aber so ernsthaft selbst zum Thema. Dringendst hätte hier der Kurzschluss mit der Oper selbst erfolgen müssen, was natürlich die Dramaturgie der gewöhnlichen Werbeansagen gesprengt hätte. Von Unwägbarkeiten und Abgründen der geschichtsphilosophischen Aussagen des Werk-Schlusses abgesehen, hätten sich hier Pogners Worte aus der dritten Szene des ersten Aufzugs aufgedrängt:
„In deutschen Landen viel gereist,
hat oft es mich verdrossen,
dass man den Bürger wenig preist,
ihn karg nennt und verschlossen.
An Höfen wie an niedrer Statt,
des bittren Tadels ward ich satt,
dass nur auf Schacher und Geld
sein Merk der Bürger stellt’.
Dass wir im weiten deutschen Reich
Die Kunst einzig noch pflegen,
dran dünkt ihnen wenig gelegen.“
Dies verlangt allerdings gebieterisch nach einer Anwendung von noch höherer Stelle – vielleicht in der übernächsten Inszenierung des Stücks.
III. Aufzug
Im getragenen, nur von Streichern intonierten Vorspiel zum dritten Aufzug evoziert Wagner vielleicht bewusst historistisch den Gamben-Consort-Klang der dargestellten Epoche. Es ist ein Ruhepol des ganzen Stückes und in seiner berührenden Mischung aus musikalisch fühlbar beredter Anteilnahme am Geschick der Figuren und alles übergreifender Güte auch bei Wagner singulär – wie ein Chor in einem antiken Schauspiel, der zu einer aufwühlenden Handlung schmerz- und trostvolle tiefe Wahrheiten findet. Levine gelingt es intensiver, er holt mehr schmerzvoll herbe Reibungen und auch Ausbrüche echter, aufbegehrender Leidenschaft heraus als in der insoweit glatteren Aufführung auf DVD von 2002. Schien Levines Dirigieren früher äußerlich oft vom Understatement eines bewusst anfangslosen, unauffäligen Hineinkommens in ein Stück geleitet, kehrt der Maestro das Körperliche jetzt in einer neuen Weise hervor, geht an die Grenzen, will es wissen, ja legt sich, gebändigt nur noch durch die offensichtlichen Fesseln seines Gesundheitszustands, förmlich physisch in die Musik hinein und gibt ihr etwas bestürzend Existentielles.
Musikalisch betont er im Verhältnis zu früher die einzelnen Phrasen fast über, und überlässt die abfedernde, zu einem Ganzen ausgleichende Aufnahme seiner Impulse der klugen Wachsamkeit eines sowieso ganz auf Spontanes und insbesondere auf ihn eingestellten Opernorchesters – was eine aufrüttelnd spannende, wie vieles große Musizieren riskante Zusammenarbeit ergibt. Auf den Schluss des Vorspiels, den kontrastierenden Wechsel zum tänzerischen Holzbläsersatz, ließe sich anwenden, was Levine im in der Pause gezeigten Interview über die Mischung von alten und neuen Sängern sagt: dass er in höchst reizvoller Weise „spicy“ klang, konkret wie von alten Instrumenten aus dem Germanischen Nationalmuseum.

Der Katzenjammer des „Tages danach“: Nach dem Aus-dem-Ruder-Laufen und völligen Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung am Ende des vorigen Aufzugs ist der dritte zunächst als Kammerspiel in Sachsens Schusterstube inszeniert. Volle kehrt im Wahnmonolog zugleich noch mehr als sonst üblich die Wut (wie schon vorher die Ohnmacht) hervor. Umso ergreifender das zarte Band zwischen Eva und ihm – die reale Möglichkeit einer erotischen Beziehung zwischen beiden wurde selten so konkret spürbar. Die Verzichtsleistung andererseits wirkte, angenehm Wagner-untypisch, nicht-katastrophal – wobei Annette Dasch hier wie überall sonst und auch im Pausen-Interview einen auf Dauer befremdlichen, wenn auch hübschen, strahlenden Gesichtsausdruck mit Reklamelächeln zeigt, ohne gesangstechnisch ihre Rolle differenzierter anlegen zu können – so ist Eva nur Spielball.
Zu ungeschlacht leider auch die hier völlig deplaziert wirkende strahlende Selbstgewissheit, mit der Botha die Schusterstube betritt und ausfüllt – auch stimmlich. Auch seine sprachliche Artikulation lässt am meisten zu wünschen übrig. Man fragt sich öfters, ob er vielleicht nicht versteht, was er singt – was bei einem so erprobten Wagner-Sänger doch gar nicht sein kann. An ihm liegt es wohl auch, dass das traumhaft schöne Quintett nicht so gut gerät, wie es das verdient hätte.

Bei der abschließenden fünften Szene vor den Toren Nürnbergs könnte die Fahne auf der Stadtmauer nicht munterer flattern. Ein kleiner Moment historischen Schauers beschleicht den deutschen Zuschauer beim Anblick der sich realistisch abzeichnenden Silhouette der Kaiserburg schon. Hier beweist Levine noch einmal seine Dispositionskunst. Selber ein Meister, schafft er es, die vor Vitalität platzenden Einzelszenen in einen Gesamtrahmen einzufügen und nie in Gewalttätigkeit abgleiten zu lassen. Nicht einmal die Demontage des unglücklichen Beckmesser wirkt menschenfeindlich. Nur bei Sachs selbst – dessen fast unmenschlich fordernden Part Volle anständig, klug disponierend, unüberhörbar an seinen Reserven angekommen zu Ende bringt – bleibt diesmal mehr Trauer und Schmerz fühlbar.
Nachspiel
Das Ganze erscheint regelrecht als Paradox von großzügigster zeitlicher Dimension und Kurzweiligkeit, höchst detaillierter Raffinesse und resultierendem einfachen Gesamteindruck. Wie sehr guten Bruckner-Dirigenten bei dessen 8. Symphonie (zu denen Levine nicht gehört – er scheint mehr oder weniger gar keinen Bruckner dirigiert zu haben), gelingt es Levine, indem er sich in die weiten Dimensionen des Werkes mit Mut zum Ausmusizieren rückhaltslos einlässt, diese vergessen zu machen. Nach den sechs Stunden möchte man auf diese Art von Ausführlichkeit gar nicht mehr verzichten und wird scheinbar unterhaltsamere kürzere Werke anstrengend lang finden. Genau das ist wohl eines der Wunder der Kunst Wagners.

Auch scheint sich bei Levines tendenziell breiten Tempi ein Phänomen einzustellen, das bei einigen wenigen anderen großen Opern- (besonders Wagner-)Dirigenten der Gegenwart und in Aufnahmen und Berichten aus der Vergangenheit festzustellen ist: Anscheinend sehr breite Tempi müssen hoher einfühlender Begleitqualität, dem Eingehen auf die Phrasierung der Sänger und dem Mitatmen nicht widersprechen, sondern können vielmehr sehr wohl damit einhergehen. Ein musikalischer Idealzustand, eine für einen kurzen Moment wahr werdende interpretatorische Utopie.
Ein nicht geringer Ertrag dieser späten, so unselbstverständlichen und kostbaren Levine-Abende scheint zu sein, dass in den großen Werken neben erwartungsgemäßen Weltklasse-Besetzungen der Titel- und Hauptpartien auf eine neue Weise das Potential der nachgeordneten Rollen erschlossen wird und damit die Sicht auf das Werk eine neue Breite gewinnt. So war es auch etwa in der sensationellen Übertragung der „Walküre“ aus dem Lepage-Ring unter Levine: Noch nie hatte man die einzelnen Walküren in ihrer beträchtlichen jeweiligen eigenen Qualität so vernehmen können. Und vielleicht kommt nun in dieser an echten Ensembles untypisch reichen Oper Wagners, dessen Figuren sonst aus musikalischen Gründen eher zum Monologisieren tendieren, Levines kapellmeisterliche Kunst besonders zum Zuge. Titelfiguren im Plural gibt es so nur in diesem Werk Wagners.
Jedenfalls tut dem Werk Levines unpathetische Art gut. Vielleicht ist der Humor des Werkes ja auch nicht in der Weise unheimlich, wie es einem manchmal erschienen ist. Das könnte man auch bei der nächsten Inszenierung von Herheim bestätigt bekommen. Im Text ist fast überraschend viel und anscheinend arglos von König David, dem Jordan und Johannes die Rede. Die „Naivität“ von Schenks Inszenierung mag dem deutschen Zuschauer auch dazu verhelfen, sich abseits der allfälligen Exorzismen böser historischer Geister in dieser Hinsicht ein klein wenig zu beruhigen und eine gelassenere Haltung dem Stück gegenüber einzunehmen. Und typisch deutsch ist am Ende sowieso wohl am ehesten, als deutscher Michel mit der Schlagmütze, der Beckmesser.
Es dürfte für Anfänger und Fortgeschrittene kaum einen intensiveren Schnellkurs in Operntext-Kenntnis geben als die zum Glück oft ziemlich guten Texteinblendungen im Rahmen dieser konservativen Inszenierungen mit ihrer hohen musikalischen Qualität und der Intensität solch einer Direktübertragung. Und das gilt auch bei Werken in der eigenen Sprache (die heute zum Glück international in der Originalsprache aufgeführt werden). Also die Neu- oder Wieder-Geburt nicht nur dieser komischen Ensemble-Oper durch die kleine technische Nachhilfe des Zooms und der hier nicht so störenden Texteinblendung, auf der Grundlage des Gleichzeitigkeits- und Gemeinschafts-Gefühls der Kino-Übertragung? Zumindest in unserer Zeit einer schon alarmierend fortgeschrittenen Erosion des Bildungs-Gemeingutes?
Die Meistersinger - die Meisterstars
Ich habe diese grandiose Aufführung in einem Kino in Baltimore gesehen. Anders als in München – mit lange vorher ausverkauften Vorstellungen – waren hier noch gut hundert Sitze frei. Die Meistersinger waren so grandios, dass man gar nicht merkte, tatsächlich sechs Stunden im Kino gesessen zu haben. Ich bin ein großer Met-Fan und freue mich, große Oper bald auch wieder in Deutschland genießen zu können.
Warum Katharina Wagner angefeindet wird
Danke, eine wahrlich erstklassige Kritik, etwas das ja letztlich nicht dazu da ist, jedermanns persönliche Auffassung wiederzugeben.
Aber es gibt auch andere Beurteilungen. Ich fand, man hätte bei solchem Aufwand etwas Besseres verdient gehabt als eine uralte Schenk-Inszenierung. Wie so viele Wagner-Opern, einmal abgesehen vom Ring oder dem Tristan, sind natürlich auch die Meistersinger vom Inhalt her nur schwer zu ertragen. Katharina Wagner hat da in Bayreuth Erfreuliches riskiert. Um der wunderbaren Musik wegen sollte ein Regisseur schon versuchen, den Inhalt mit heutigen Verständnis zu inszenieren, nicht die unwissenden Verklemmtheiten eines Schenk oder gar eines Everding ad nauseam wiederzugeben. Diese hatten ihre Zeit…
Passenderweise erscheint diese Kritik an dem Morgen nach einer Nacht, in der ich eine der beeindruckendsten Wagner-Inszenierungen meines Lebens genossen habe, den Bayreuther Tannhäuser. Unfassbar, welche Intelligenz, welche Phantasie, welches Verständnis da durch heutiges Denken ermöglicht wurden. Und trotzden, kein Buh. Ich war stolz auf das Publikum.
So nett die Meistersinger im Kino auch sind, man kann auch Domingos Carmen-Film nehmen, ich erwarte heute mehr beim Opernbesuch, Besseres, als das Interpretationsniveau, das solche kulturelle Großtaten wie „Wetten dass“ als deutsche Qualität bietet. Denn genau das bietet Schenk. Ich habe beim Tannhäuser gestern abend auch begriffen, weshalb Katharina Wagner soviel absurde Kritik entgegenschlägt und ihre Macht in Bayreuth von jenen, die sich für das kulturelle Deutschland halten, hinter den Kulissen so angefeindet wird.
Opern in Kinos mit qualitativ maximaler Soundanlage sollten und werden wohl auch die Zukunft sein. Auch gegen TV-Aufführungen, wenn man gutes Equipement besitzt, ist nichts einzuwenden, wenn man nebenbei auch ein Opernhaus in Reichweite hat. Aber, weg von den Stars mit ihren wahnsinnigen Abendgagen. Gerade solche Aufführungen mit Netrebko & Co, sollten nicht länger subventioniert werden. Wer das konsumieren will, der, und nicht der Steuerzahler, soll die ganz real anfallenden Kosten dafür bezahlen.
Allerdings kosteten auch die Kinokarten für die Meistersinger hier bei mir schon dasselbe wie die 3. Kategorie in der Bayrischen Staatsoper.