Die New Yorker Philharmoniker sind auf Deutschlandtournee. Alan Gilbert, Chefdirigent seit 2009, gab im Februar bekannt, dass er 2017 aus seinem Amt scheiden wird. Im Gespräch zieht er einen ersten Rückblick. Was hat er gewollt? Was hat er erreicht? Wie entwickelt sich die Rolle des Orchesterleiters? Eine Veränderung ist die Erwartung, dass ein Chefdirigent programmatische Erklärungen abzugeben hat wie ein Regierungschef. Gilbert verrät, dass er einige der Zielvorstellungen, mit denen er ins Amt kam, der Öffentlichkeit noch nicht verraten hat.
Alan Gilbert wurde 2007 mit vierzig Jahren als Nachfolger von Lorin Maazel zum Chefdirigenten bestellt. Er ist der erste gebürtige New Yorker an der Spitze des 1842 gegründeten Orchesters und sein Leonard Bernstein, der 1969 zurücktrat, der erste Amerikaner in diesem Spitzenjob der Musikwelt. Der Sohn zweier New Yorker Philharmoniker studierte Geige und Bratsche in Harvard, am Curtis Institute of Music in Philadelphia und an der Juilliard School seiner Heimatstadt und leitete die Oper von Santa Fe sowie das Königliche Philharmonische Orchester in Stockholm, wo er seine Frau, die Cellistin Kajsa William-Olsson, kennenlernte. Seit 2004 ist er Erster Gastdirigent beim NDR Sinfonieorchester in Hamburg.
In der Frankfurter Alten Oper dirigiert Alan Gilbert am 28. April Strawinskys „Petruschka“, Ravels „Valses nobles et sentimentales“ und die „Rosenkavalier-Suite“ von Richard Strauss. Das gleiche Programm wird zwei Tage später in der Kölner Philharmonie geboten, wo das Orchester am 1. Mai „Senza sangue“ zur Uraufführung bringen wird, die neue Oper von Peter Eötvös. Als Solisten sind Anne-Sofie von Otter und Russell Braun engagiert, vorangehen werden der Uraufführung „Nyx“ von Esa-Pekka Salonen, dem Composer-in-Residence des Orchesters und möglichen Nachfolger Gilberts, und Bartóks Konzertsuite „Der wunderbare Mandarin“. Die Uraufführung der Tanzpantomime, die Bartók später zur Suite umarbeitete, löste 1926 in Köln einen Skandal aus.
Mr. Gilbert, stellen wir uns vor, im Radio wird Beethovens Fünfte Symphonie gespielt, jemand hört zu und sagt: Das müssen die New Yorker Philharmoniker sein. Was macht Ihr Orchester unverwechselbar?
Das ist eine interessante Frage, denn dahinter steckt die größere Frage: Klingen Orchester tatsächlich unterschiedlich? Vielleicht ist jetzt für mich ein guter Zeitpunkt für den Versuch einer Antwort, denn ich bin gerade dabei, mir Konzertaufnahmen anzuhören, die ich gemacht habe. Nicht nur weil ich meinen Abschied angekündigt habe, bin ich ein wenig nostalgisch gestimmt. In manchen Hinsichten habe ich erlebt, was ich erwartete: Die Stücke bewegen sich in die Richtung, auf die ich gehofft hatte. Und so sollte es wohl sein, da ich ja der Dirigent in diesen Konzerten war. Aber was mich frappiert, ist schlicht die Qualität des Orchesterklangs. Es ist ein so ausdrucksvoller, warmer Klang, so homogen im besten Sinne des Wortes. Wenn Dinge herausstechen sollen, dann ist das natürlich der Fall, aber die Kultur des Klangs ist so subtil! Bei schlechteren Orchestern hört man in den Geigen verschiedene Arten von Klang. Mich beeindruckt das Gespür dieser Musiker für Einheitlichkeit, wenn ich die Aufnahmen höre: ein Außenseiter oder vielleicht gleichzeitig Insider und Außenseiter. In jeder Stimme ist die Ausführung der musikalischen Anweisungen so konsistent, dass es keine Fragen gibt. Das Ergebnis hat etwas Unausweichliches, und das gefällt mir.
Dann wäre jedes Orchesterstück eine Schicksalssymphonie?
Ich habe nichts übrig für Interpretationen, die auf sich als Interpretationen aufmerksam machen. Es gibt ein verbreitetes Missverständnis darüber, was eine Interpretation ist. Wenn die Leute nichts entdecken, das sich als Entscheidung zu erkennen gibt, dann glauben sie, es liege gar keine Interpretation vor. Ich habe dafür ein Wort erfunden: Interpretationismus! Ich glaube, Musik sollte unvermeidlich und natürlich ihren Gang gehen. Selbstverständlich muss man in manchen Stücken Brüche zur Darstellung bringen, aber was die New Yorker Philharmoniker auszeichnet, ist ein tiefer, natürlicher Fluss. Ich höre zu und sage: Wow! Nur die New Yorker Philharmoniker können so klingen.
Glechwohl deuten Sie an, in der gängigen Rede von den Persönlichkeiten unterschiedlicher Orchester oder auch von Nationalstilen des Orchesterklangs stecke ein Moment der Idealisierung.
All das existiert natürlich. Aber wegen der Globalisierung und der allgemeinen Verfügbarkeit von Aufnahmen, jetzt auch über Streaming im Internet, werden die Unterschiede wahrscheinlich allmählich geglättet. Das ist ein natürlicher Trend gemäß den Gesetzen von Statistik und Wahrscheinlichkeit. Mathematisch gesehen werden die Extrempositionen auf beiden Seiten zurückgedrängt. Aber wir reden über Menschen, und Menschen haben nun einmal individuelle Charaktereigenschaften und Hintergründe. Es ist ein interessantes Experiment, sich im Radio eine Übertragung oder Aufnahme anzuhören und nicht zu wissen, wer spielt. Leute gehen mit Vorurteilen ans Hören heran, und dann hören sie manchmal mehr mit den Augen als mit den Ohren.
Als Chefdirigent Ihres Orchesters engagieren Sie auch Gastdirigenten, umgekehrt treten Sie selbst auch bei anderen Orchestern ans Pult, und die modernen Reisemöglichkeiten dürften diesen Austausch immer mehr erleichtern. Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die Funktion eines Chefdirigenten, seine Fähigkeit, sein Orchester zu formen? Wäre es ein lohnendes Experiment, bei einem Orchester wie den New Yorker Philharmonikern für eine gewisse Zeit auf die Berufung eines Chefdirigenten zu verzichten, um herauszufinden, ob das Orchester von noch mehr Gastdirigenten noch mehr lernen könnte?
Was macht ein Chefdirigent eigentlich, und warum sollte es einen Chefdirigenten gaben? Das ist eine wichtige Frage. Orchester haben den Versuch gemacht, ohne Chefdirigenten auszukommen. Ich mag Partei sein, aber ich glaube nicht, dass dieses Modell für Orchester aufgeht. Es ist wichtig, dass es einen persönlichen, einzigartigen Standpunkt gibt, der den Dingen Form gibt. Um etwas Extremes und vielleicht auch Absurdes zu sagen: Es kommt gar nicht darauf an, ob dieser Standpunkt gut oder schlecht ist, entscheidend ist das persönliche Element, der menschliche Faktor, etwas Unvermitteltes, das nicht erst durch Diskussion entsteht. Orchester haben sich sehr stark verändert. Früher war der Dirigent ein totaler Autokrat. Er konnte die Musiker nach Laune entlassen. Glücklicherweise ist das nicht mehr das Gesellschaftsmodell der Orchesterarbeit.
Wie arbeiten Sie heute?
Viel mehr wird auf der Grundlage von Diskussionen gemacht. Es ist wichtig, dass die Musiker ihre Mitgestaltungsmacht erleben, dass sie am Entscheidungsprozess beteiligt sind. Man braucht Musiker, die sozusagen Aktien am Unternehmen besitzen und alles einbringen, was sie haben. Sie arbeiten schließlich nicht als Aushilfen. Nach meiner Erfahrung ist bei Orchestern mit mehreren Chefs oder ohne Chef das künstlerische Ergebnis nicht in gleicher Weise befriedigend. Es gibt Ausnahmen: Die Wiener Philharmoniker sind berühmt dafür, ohne Chefdirigenten auszukommen, aber sogar bei den Wiener Philharmonikern gibt es über die Jahre ein Auf und Ab. Eine Organisation wie die New Yorker Philharmoniker braucht ein Gesicht. Trotz aller Demokratie ist das künstlerische Profil am schärfsten, wenn es von einer Persönlichkeit bestimmt wird. Wir wollen ein künstlerisches Team formen, mit dem ich arbeiten kann. Alle Dirigentenkollegen haben mir bestätigt, dass unser Profil im Lauf der Jahre schärfer geworden ist. Das freut mich, denn ich habe versucht, das ohne autokratische Mittel zu erreichen.
Sie sind ganz wörtlich mit den New Yorker Philharmonikern aufgewachsen, als Sohn zweier Geiger des Orchesters. Ihre Mutter ist immer noch Orchestermitglied. Da Sie das Orchester schon so gut kannten, als Sie zum Leiter berufen wurden: Gab es aus der neuen Perspektive vom Dirigentenpult Überraschungen, was das Leben dieses sozialen Organismus betrifft?
Tatsächlich hatte ich eine ganz besondere Beziehung zum Orchester, die sich auf einen Schlag drastisch änderte. Ich war plötzlich nicht mehr das Musikerkind, sondern der Chefdirigent, und musste mich in dieser neuen Beziehung zurechtfinden. Und die Musiker ihrerseits mussten herausfinden, wie sie nun mit mir umgehen wollten. Ich brachte eine Menge Ideen mit, Vorstellungen von dem, was sich bewegen sollte. Über einige dieser Ideen habe ich gesprochen, als ich die Stelle antrat, aber andere behalte ich nach wie vor für mich, sozusagen als meinen privaten Ehrgeiz. In meinen ersten Interviews habe ich oft vage darüber geredet, ich wolle „unsere Chemie entdecken“. Über meine wahren Ziele habe ich nicht viel gesagt, denn ich wollte nicht den Eindruck eines Provokateurs machen.
Welche Sicht der Lage des Orchesters ist der Hintergrund dieser Zielvorstellungen?
Orchester müssen einen Paradigmenwechsel vollziehen, was ihre Operationsweise betrifft. Einiges wird sich nicht verändern und sollte sich nicht verändern: die Grundform des Konzerts, dessen Programm wir einstudieren und vor einem Saalpublikum zur Aufführung bringen. Das ist eine perfekte Formel; das Konzert ermöglicht uns den unersetzlichen Kontakt mit anwesenden Zuhörern. Von den Musikern wird aber heute viel mehr erwartet als je zuvor, eine ganz andere Art von öffentlichem Engagement. Seit etwa dreißig bis vierzig Jahren werden Musiker als Erzieher in die Pflicht genommen. So hat sich die Idee durchgesetzt, dass das, was die Musiker tun, für jedermann zugänglich sein sollte. Der Übergang ist holprig: Viele Orchester haben sich dieser Aufgaben angenommen, aber erledigen sie oberflächlich, nur scheinbar professionell. Sie haben sich sozusagen Anbauten zugelegt, die mit der eigentlichen Arbeit auf dem Konzertpodium gar nicht in Verbindung stehen. In Schulen findet leider immer weniger Musikunterricht statt, also bauen die Orchester eigene Unterrichtsabteilungen auf. Stiftungsgelder für multikulturelle Initiativen stehen zur Verfügung und werden abgerufen. Es ist nobel, dass die Orchester diese Lücke füllen, aber lange hatte diese neue Form von Arbeit nur wenig mit dem zu tun, was ein Orchester ausmacht.
Und jetzt?
Mittlerweile leben wir in der zweiten oder dritten Generation dieses Trends, und die erfolgreichen Orchester haben erkannt, dass diese Initiativen des Ausgreifens in die Gesellschaft tatsächlich stimulierend auf das Musizieren wirken können und am wirkungsvollsten sind, wenn sie wirklich eine Verbindung zur Essenz der musikalischen Arbeit herstellen. Nicht jeder hat das Talent, Vorträge vor Schülern zu halten. Aber jeder muss verstehen, dass solche Verpflichtungen heute wesentlich zum Beruf des Musikers gehören. Es reicht nicht, Partituren zu studieren und Konzerte zu spielen. In allem, was wir tun, nimmt der Musiker heute eine gesellschaftliche Rolle in Besitz. Das ist spannend. Deshalb habe ich einiges getan, um das Orchester zum Teil eines Netzwerks der Institutionen dieser Stadt zu machen. Oper als Gesamtkunstwerk macht die Chancen besonders sinnfällig. Es ist kein Zufall, dass ich unbedingt Ligetis „Grand Macabre“ aufführen wollte oder Janáčeks „Schlaues Füchslein“. Dahinter steckt die Absicht, unsere Fühler in die Stadtgesellschaft auszustrecken. Die New Yorker Philharmoniker sollen eine zentrale Rolle im kulturellen Leben der Stadt spielen, nicht nur musikalisch. Wir wollen eine Antriebskraft sein für echte Kommunikation.
In Europa werden Sie „Senza sangue“ zur Uraufführung bringen, die neue Oper von Peter Eötvös. Was hat der Hörer von diesem Werk zu erwarten?
Die Geschichte ist faszinierend. Es geht um die Wunden des Krieges, um Vergebung und Liebe, um die Möglichkeiten eines Paares angesichts entsetzlicher Prüfungen. Die Musik ist unglaublich subtil und farbig. Sie ist sehr intellektuell, obwohl ich vor diesem Wort zurückscheue, weil es die falsche Erwartung von Distanziertheit erzeugt. Man wird von der Musik hineingezogen und gezwungen, sich mit den Details der Landschaft zu befassen. Dass wir diesen Auftrag bekommen haben, ist für mich eine Bestätigung für das, was wir hier versuchen. Welches andere Orchester würde eine Welturaufführung auf Tournee präsentieren? Ich habe so etwas noch nie gehört. Es ist mutig. Normalerweise arbeitet man vor einer Tournee monatelang am Standardrepertoire, um sich von der besten Seite zu zeigen.
Im Magazin der „New York Times“ haben Sie kürzlich den Fragebogen der Rubrik „By the Book“ ausgefüllt und als Ihr Lieblingsbuch über Musik Thomas Manns „Doktor Faustus“ genannt. Taugt der Roman mit seiner Einführung in die Zwölftontechnik als Lehrbuch für ein privates Education-Programm?
Es hat mich überrascht, wie viele Leute mich auf diesen Kolumnenbeitrag angesprochen haben, sogar auf der Straße! Thomas Manns Buch ist ein Meisterwerk. Es kann auf so vielen verschiedenen Ebenen gelesen werden! Natürlich ist es ein Buch „über“ Schönberg, aber es geht auch um den künstlerischen Prozess im Allgemeinen. Was richtet es mit deiner Seele an, dass du ein Künstler bist? Wenn man das Buch aus der Hand legt, hat diese Frage mit der Frage der Qualität der Zwölftonmusik nichts mehr zu tun.