Im „Weltinnenraum des Kapitals„ gibt es eine Stelle, an der Peter Sloterdijk den Finger des Philosophen in eine klaffende Wunde legt; dies mag dem flüchtigen Leser bei der Lektüre entgangen sein, denn leichtsinnigerweise montiert Sloterdijk den betreffenden Passus im Nachgang zu seitenlangen Zitaten von Adam Smith und Rainer Maria Rilke, die des Lesers Konzentrationsfähigkeit zu diesem Zeitpunkt womöglich gänzlich konsumiert haben, und unmittelbar nachfolgende Passagen daher mit einem schweren Handicap in Sachen Aufmerksamkeit belegen. – Wie dem auch sei, Sloterdijk schreibt an besagter Stelle folgendes:
„Wenn Kaufen, Verkaufen, Mieten, Vermieten, Kredit nehmen und Verleihen Operationen sind, die sämtliche Lebensaspekte in der Großen Installation berühren, kann es nicht ausbleiben, dass die Erreichbarkeit der Dinge durch Geldvermittlung ein korrespondierendes Weltgefühl erzeugt.[…]
Fassen wir zusammen, was wir vom großen Übergang ins Gelduniversum wissen, so erweist sich, wie sehr alle maßgeblichen Daseinsdimensionen von der monetären Vermittlung modifiziert werden: Wir haben Zugang zu Orten vor allem als Käufer von Transporttiteln; wir haben Zugang zu Daten vor allem als Benutzer von Medien; wir haben Zugang zu materiellen Gütern vor allem als Besitzer von Zahlungsmitteln; und wir erreichen Personen überwiegend in dem Maß, wie wir uns den Eintritt zu den Schauplätzen möglicher Begegnungen mit ihnen leisten können. Das scheinen Trivialitäten zu sein; dass sie es nicht sind, zeigt die inzwischen knapp gewordene Erinnerung an Zeiten, als das Geld noch keine alles durchdringende Größe war. In vor-monetär geprägten Verhältnissen wurden so gut wie sämtliche Zugänge zu Personen und Dingen durch Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe und ihrer Zeug-Umwelt erschlossen; Zugehörigkeit war vor der Moderne der Preis der Welt. Um eine Welt zu haben, musste man sich einst von seinem Ort verzehren lassen. Ohne Besessenheit durch die (später neutralisierend so genannte) eigene Kultur kein Zugang zu den Menschen und Dingen.
Nach der Wende zu geldbestimmten Verhältnissen ergeben sich Zugänge viel eher durch Akte des Sich-Einkaufens und des Anschließens an Offerten oder offene Adressen. Von den Erfolgreichen erwartet man heute, dass sie ihre Zugehörigkeiten in den Hintergrund stellen können.“
Der Meister selbst mag diese Stelle womöglich anders verstanden wissen wollen, aber für mich ist sie eine der zentralen Passagen im Buch, wenn nicht gar dessen dramaturgischer Höhepunkt: Sloterdijk erzählt hier nicht von irgendeiner gesellschaftlichen Umwälzung, sondern von DER gesellschaftlichen Umwälzung schlechthin; von einer Wegscheide, deren Beschreiten unweigerlich zur Abkehr von den Institutionen und Traditionen des Gemeinschaftlichen führt, und den Aufbruch in das individualistische Zeitalter bedeutet; ohne wenn und aber, mit so dramatischen Folgen für alle Beteiligten, dass es ihnen im buchstäblichen Sinne die Sprache verschlägt; eine Umwälzung, für die der Anthropologe Karl Polanyi daher mit Recht keinen bescheideneren Begriff prägen konnte, als „The Great Transformation„.
Aber schon lange vor Polanyi stand eine ganze Reihe großer Denker im Geiste bereits an besagter Wegscheide: von den üblichen Verdächtigen Hegel und Marx, über den englischen Rechtshistoriker und Anthropologen Henry Sumner Maine, dessen deutschen Schüler Ferdinand Tönnies, bis schließlich zu Max Weber und in dessen Gefolge diversen anderen. Und an exakt derselben Stelle tobte unter dem Schlagwort „Substantivismus vs. Formalismus“ auch eine Jahrzehnte lange und bis heute keineswegs beigelegte Schlacht in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, für die der Begriff „Streit“ angesichts der inhaltlichen Bedeutungsschwere und der verbalen Heftigkeit, mit der die Kontrahenten aufeinander prallten, wirklich nur als krasser Euphemismus abgelehnt werden kann: bedeutende Namen der Anthropologie ritten in ihrem Verlauf wahre Frontalangriffe auf die formalistischen Dogmen der Neoklassik, allen voran Malinowski, neben Polanyi selbst auch seine Schüler Dalton, Humphreys und Sahlins, sowie – wenn auch nicht direkt unter dem Banner des Substantivismus – die Amerikanerin Margaret Mead und in jüngerer Zeit die beiden Deutschen Gunnar Heinsohn und Otto Steiger.
Im Kern ging es dabei einmal mehr um Adam Smiths Postulat vom „menschlichen Hang zum Tausch“: aus der Sicht der Klassik muss dieses notwendigerweise implizieren, dass die Menschen zu allen Zeiten Tauschhandel betrieben, aufgrund ihrer angeborenen Neigung, die sie laut Smith von den Tieren unterschied, in quasi-marktwirtschaftlichen Strukturen, so primitiv diese im Einzelfall auch gewesen sein mögen; ein Grundsatz, an dem die Neoklassik bis heute eisern festhält, was verständlich ist, denn wenn der „Hang zu tauschen“ kein angeborener wäre, dann hätte sie eine Menge zu erklären, das sie aus ihrem Theoriegebäude heraus schlicht nicht erklären kann; sie wäre im wahrsten Sinne des Wortes „nackt“. Eine Befürchtung, die einer der führenden neoklassischen Köpfe seiner Zeit, Goodfellow, in den 1930ern folgendermaßen auf den Punkt brachte:
„Es ist seit langem anerkannt, dass die Ökonomische Theorie einen universellen Anspruch in sich trägt. Das Ziel ist, aufzuzeigen, dass die Konzepte der ökonomischen Theorie einen derartigen Anspruch auf universelle Gültigkeit auch haben müssen; und dass, falls dem nicht so wäre, das Resultat nicht nur zu wissenschaftlicher Konfusion, sondern darüber hinaus zu praktischem Chaos führen würde.“
Angesichts solcher Empfindsamkeiten wundert es daher nicht, dass das Festhalten an den Postulaten Adam Smiths bis in die unmittelbare Gegenwart zum unerschütterlichen Selbstverständnis zählt. Und auf Basis ebendieser Grundsätze erschuf die Neoklassik ihre Fiktion einer von der übrigen Gesellschaft „losgelösten“ ökonomischen Sphäre, die, analog der universellen Gültigkeit des Tauschparadigmas, auf alle Gesellschaften der Gegenwart und Vergangenheit projiziert wird; sie besagt – salopp gesprochen -, dass der steinzeitliche Höhlenmensch, wenn er mit seinem Kollegen von nebenan Speerspitzen gegen Faustkeile tauschte, von exakt denselben Neigungen angetrieben wurde, die auch amerikanische Investmentbanker des Jahres 2008 dazu bewegten, im großen Stil riskante Kreditengagements im US Immobilienmarkt einzugehen, und damit – wie sich später herausstellen sollte – die finanzielle Ostküste der USA quasi im Atlantik zu versenken.
Diese losgelöste, ökonomische Sphäre erkennen wir heute natürlich in jeder x-beliebigen Marktwirtschaft modernen Zuschnitts wieder: es herrscht Privatautonomie, das Ökonomische ist vom Politischen getrennt, ein System preisbildender und mehr oder weniger selbstregulierender Märkte organisiert Erzeugung und Verteilung materieller Güter, die vorherrschenden ökonomischen Gesetze sind die von Angebot und Nachfrage, und die Motivation der Akteure liegt in der Erzielung von Einkommen bzw. Gewinn; nicht-ökonomische Aspekte wie Geburtsrecht, Blutsverwandtschaft, Lehenstreue, religiöse Pflicht und dergleichen spielen für das wirtschaftliche Geschehen keinerlei Rolle, der Lebensunterhalt der Menschen wird über spezifische Institutionen gesichert, die aus ökonomischen Motiven begründet und von ökonomischen Gesetzen beherrscht werden.
Soweit alles verstanden? – Halten wir also nochmal fest: Dass eine Trennung des Ökonomischen und des Gesellschaftlichen in einer modernen Marktwirtschaft tatsächlich vorliegt, von Fall zu Fall mehr oder weniger stark ausgeprägt: darüber besteht kein Streit. Spannend wird es jedoch, wenn man die Frage stellt: „Wie war das denn früher?“; und da halten Polanyi & Co der Neoklassik ihre eigene, anthropologisch wie archäologisch gefestigte Position der sogenannten „eingebetteten“ Wirtschaft entgegen: alle wesentlichen Reproduktionsvorgänge waren in vor-monetären Gesellschaften in die soziale Organisation integriert, die üblichen Institutionen des täglichen Lebens (Familie, Clan, Stamm, Dorf, Religionsgemeinschaft,…) ihre Träger. Gewinnerzielung ist in einem solchen Kollektiv von Blutsverwandten, Dorf- oder Inselbewohnern als Handlungsmotiv kein Thema, sozio-kulturelle und religiöse Verpflichtungen geben stattdessen den Takt an. Polanyis Kriegserklärung an die Klassik mithin in einem Satz:
„Ob Tauschwirtschaft oder nicht, ist dem Menschen nicht angeboren, sondern schlicht eine Funktion der sozio-ökonomischen Umstände.“
Ein Statement, das für sich alleine genommen gänzlich unschuldig und harmlos daher kommen mag, für unseren Freund Goodfellow von oben aber natürlich nichts weniger als den casus belli bedeutete und für spätere Generationen formalistischer Ökonomie-Versteher ebenso.
Der bereits erwähnte Engländer Sumner Maine und sein deutscher Schüler Ferdinand Tönnies trafen bereits Jahrzehnte früher die empirische Unterscheidung zwischen einer auf status, sprich: aus Geburt und Herkunft abgeleiteten Rechten und Pflichten, basierenden „Gemeinschaft“ und der auf Vertragswesen (contractus) beruhenden, modernen „Gesellschaft„. An letzterer schätzte Tönnies zwar die individuellen Freiheiten, die wirtschaftliche Effizienz und den technologischen Fortschritt, mochte sie aber wegen ihrer vermeintlichen „Unpersönlichkeit“ nicht wirklich leiden, zog ihr stattdessen das Modell der traditionellen Gemeinschaft vor, ihrer vermeintlichen „Innigkeit“ wegen; sein Ideal war deren Wiederherstellung, wenn auch nicht als Rückkehr zu vorgesellschaftlichen Zuständen von Autorität und Paternalismus, sondern als eine Art Hybride aus dem „besten beider Welten“. Eine Utopie, an der sich bekanntlich schon viele versucht haben, unter wechselnden Formen und Farben, aber allesamt grandios gescheitert sind; und die, wie wir spätestens seit Dunbar und dessen magischer Höchstgrenze für die Mitgliederzahl in funktionierenden Gemeinschaften wissen (sie liegt bei etwa 150), bis auf weiteres vermutlich eine Utopie bleiben wird und im gesamtstaatlichen Kontext wohl auch besser bleiben sollte.
Aber kehren wir zurück zu unserem Zitat aus dem Sloterdijkschen Weltinnenraum: laut Polanyi hätten die Mitglieder vor-monetärer Kollektivgesellschaften keinerlei ökonomisches Bewusstsein ausgebildet, wären vielmehr bar jeder Vorstellung etwa zu „Gewinn“ oder „Zins“ gewesen; zumeist gab es dafür noch nicht mal sprachliche Begriffe, sie waren also buchstäblich „sprachlos“; diese These überprüfte die moderne Anthropologie an zahlreichen Naturvölkern quer über den Globus: sie stellte sich als zutreffend heraus. Wenn Sloterdijk im Eingangssatz seines Zitats daher vom „korrespondierenden Weltgefühl“ schreibt, das einsetzt, sobald sich die Geldwirtschaft allgemein entfaltet – aber eben auch nicht früher! -, dann macht er sich damit implizit Polanyis These von der Great Transformation zueigen.
Die „Sprachlosigkeit“ lässt sich übrigens bei niemand geringerem als Aristoteles beobachten, der im 4. Jahrhundert v.Chr. eine solche Wende des ökonomischen Zeitalters persönlich miterlebte: mangels konkreter Vorstellung zur Herkunft des Zinses bezeichnete er ihn mit dem Begriff tokos, abgeleitet aus dem Verb tíktein (= gebären):
„Ähnlich ist nämlich das Geborene selber dem Gebärenden, und so bedeutet der Zins Geld vom Geld.“
Rund 2300 Jahre nach Aristoteles sollten Studien an den Stammesgesellschaften Südamerikas belegen, dass der antike Philosoph mit seiner Analogie zur „fruchtbaren Frau“ keineswegs alleine stand, sondern sie vielmehr typisch ist für sich kollektiv reproduzierende Gemeinschaften, die erstmals mit der Marktwirtschaft in Berührung kommen; und zwar aus dem einfachen Grund, dass in Stammes- und Frühgesellschaften, deren materielle Versorgung auf den Prinzipien der Autarkie und der Gegenseitigkeit fußt, die biologische Fortpflanzung natürlich im Zentrum des reproduktiven Interesses steht; die Aus- und Einheiratung gebärfähiger Frauen wird aus dieser Sicht zu einem „biologischen Investment“, welches junge, starke Nachkommen gewissermaßen als „Zins“ abwirft. Aus der Sicht derartiger Gesellschaften ist es daher naheliegend, einen solchen „Zuwachs“ analog auch auf ein proto-marktwirtschaftliches Phänomen anzuwenden, das man anders nicht zu deuten vermag.
Soweit, so gut. – An dieser Stelle mag sich der eine oder andere Leser vielleicht fragen:
„Zweifellos spannend, das alles, aber muss es mich im hier und heute interessieren?“
Na ja: angesichts der aktuell beobachtbaren, allgemeinen Sprach- und Orientierungslosigkeit, in Medien, Wissenschaften und Politik, beim „kleinen Mann“ auf der Straße bis hoch zu den „Spitzen der Gesellschaft“, drängt sich natürlich die Frage auf, ob wir nicht erneut an einem Epochenwechsel stehen: einer Polanyischen „Great Re-Transformation“ vielleicht; oder gar einer Tönniesschen Wiederkehr der „innigen“ Gemeinschaft auf höherem Level: wer weiß… Womöglich auch dem exakten Gegenteil, vielleicht entdecken wir alle zusammen Hayek und von Mises wieder? – An Utopien, Visionen und konkreten Zukunftskonzepten herrscht jedenfalls kein Mangel, sodass der veränderungswillige Bürger gegebenenfalls auch in diesem Punkt – typisches Zeichen unserer hochentwickelten Marktwirtschaft – die „Qual der Wahl“ hätte. Welches Zukunftsvorhaben dabei schlussendlich in die Tat umgesetzt werden würde, durch welche politischen Kräfte und unter welchen Begleitumständen; oder ob stattdessen einfach alles beim Alten bleibt und die aktuelle Aufregung weiter nichts ist als Hysterie und sozio-ökonomische Schwarzmalerei – das sind mit Sicherheit die spannenden Fragen der nächsten Monate, Jahre und Jahrzehnte. Stoff ohne Ende also für diesen Blog.
Aber, meine lieben Freunde: nicht heute…