Chaos as usual

Looking backward – eine friedliche Utopie

Am Abend des 30. Mai 1887 bedient sich der junge Bostoner Aristokrat Julian West wieder einmal der Hilfe von Dr. Pillsbury: Julian leidet unter starker Schlaflosigkeit, und nur unter dem Einfluss von Dr. Pillsburys „animalischem Magnetismus“ will es ihm gelingen, in einen tiefschlafähnlichen Zustand zu fallen. Um das Einschlafen nicht durch Straßenlärm zusätzlich zu erschweren, hat er sich im Keller seines Hauses eine schalldichte Schlafkammer bauen lassen, und dort versetzt ihn Dr. Pillsbury auch an diesem Abend wieder in den Hypnoseschlaf. Es wird das letzte mal sein, denn einerseits wird Dr. Pillsbury sich unmittelbar im Anschluss an die Seance nach New Orleans aufmachen, wo eine neue, berufliche Herausforderung wartet; andererseits bricht ausgerechnet in dieser Nacht ein entsetzlicher Brand aus, der Julians Haus in Schutt und Asche legt. Und weil niemand um die im Keller verborgene Schlafkammer weiß, wird allgemein angenommen, Julian hätte den Feuertod gefunden.

Über hundert Jahre später, wir schreiben das Jahr 2000, erwacht Julian in seiner unterirdischen Kammer, und blickt in das verdutzte Gesicht von Dr. Leete, dem nunmehrigen Besitzer des Grundstücks; der entdeckte die Kammer bei Ausgrabungsarbeiten für einen Laborneubau im Garten seines Hauses. – Und, oh Wunder: nicht nur, dass unser Julian das Feuer unversehrt überstanden hat, nein: er ist seit 1887 auch keinen einzigen Tag gealtert. Dr. Leete nimmt ihn mit zu sich nach Hause, gemeinsam steigen sie aufs Dach und betrachten das sich ihren Blicken darbietende Panorama des modernen Boston: die rauchenden Schlote von einst sind verschwunden, schmucke Hochhäuser nehmen ihren Platz ein, die Szenerie wirkt sauber und aufgeräumt, der Himmel ist blau, die Luft rein und klar; nichts mehr von dem Schmutz und dem beißenden Rauch, und dem Gestank und dem Elend vergangener Zeiten: „Wie ist das möglich?“, fragt der erstaunte Julian seinen Gastgeber. Der erwidert:

„Ich würde viel darum geben, wenn ich einen Blick auf das Boston Ihrer Zeit tun könnte. Ohne Zweifel waren die Städte von damals, wie Sie andeuten, recht armselig. Wenn Sie sie hätten glänzend machen wollen, und ich bin nicht so unhöflich dies zu bezweifeln, so würden bei der herrschenden Armut, welche das Resultat Ihres merkwürdigen industriellen Systems war, die Mittel dazu gefehlt haben. Außerdem vertrug sich der weitgehende Individualismus, welcher damals herrschte, nicht mit dem Gemeinsinn. Das bisschen Reichtum, das Sie besaßen, scheint fast lediglich für Privatluxus verschwendet worden zu sein. Heutzutage dagegen ist keine Verwendung des Überschusses an Reichtum so allgemein beliebt als die für Verschönerung der Stadt, die alle gleichmäßig genießen.“

Und wenig später, nachdem Dr. Leete seinem jungen Gast seine Tochter vorgestellt hat, die liebreizende Edith, die unser wiederauferstandener Held gegen Ende des Werkes zum glücklichen Weib nehmen wird, erklärt er ihm, dass das 20. Jahrhundert, während er schlief, einige gravierende gesellschaftliche Änderungen gesehen hatte: Das Privateigentum wurde abgeschafft, nachdem es sich zunehmend in den Händen weniger Monopolunternehmer konzentriert hatte; der Staat organisierte nunmehr die Wirtschaft in Eigenregie, die soziale Wohlfahrt erreichte nie zuvor gekannte Ausmaße. Das Bildungswesen sowie das komplette kulturelle Angebot sind kostenlos zugänglich; es herrscht so gut wie freie Berufswahl, allerdings besteht eine Art allgemeine „Arbeitspflicht“, die alle Bürger zwischen dem 21. und dem 45. Lebensjahr zur aktiven Erwerbsarbeit verpflichtet; danach stünde es aber allen frei, staatlich alimentiert ihren ganz persönlichen Interessen nachzugehen. Die Frau ist unabhängig und in allen Belangen dem Mann gleichgestellt; Kriege gibt es keine mehr, Kriminalität auch nicht, demzufolge wurden alle Gefängnisse geschlossen.

Ob die Intelligenzia des Jahres 1887 angesichts der seinerzeitigen Umstände nicht das Gefühl gehabt hätte, dass mit ihrem System etwas nicht in Ordnung sein könne, will Dr. Leete von Julian wissen: hätten nicht Ungleichheit und Arbeiterelend zu entsprechenden Vorahnungen führen müssen?

„Das haben wir allerdings klar genug gesehen“, erwiderte Julian. „Wir fühlten, dass die Gesellschaft keinen Ankergrund mehr hatte und in Gefahr war, ein Spiel der Wellen zu werden. Wohin sie treiben würde, konnte niemand sagen, aber alle fürchteten die Klippen. Ich kann nur sagen, »dass, als ich in den langen Schlaf fiel, die Aussichten derart waren, dass ich mich nicht gewundert haben würde, wenn ich heute von Ihrem Dache aus auf einen Haufen verkohlter und mit Moos bedeckter Ruinen, anstatt auf diese herrliche Stadt geblickt hätte.“

Julian seinerseits will von Dr. Leete wissen, wie sich der gesellschaftliche Wandel des 20. Jahrhunderts genau vollzog, ob es schlimme Revolutionen gab, mit viel Gewalt und Blutvergießen?

„Im Gegenteil“, erwiderte Dr. Leete, „es fand nicht der geringste Gewaltakt statt. Man hatte den Wechsel lange vorhergesehen. Die öffentliche Meinung war reif dafür und die ganze Masse des Volkes unterstützte ihn. Weder Gewalt noch Gründe konnten ihm widerstehen. Auf der anderen Seite fühlte man keine Bitterkeit mehr gegen die großen Korporationen, da man gelernt hatte, dieselben als notwendige Verbindungsglieder und Übergänge in der Entwicklung des wahren industriellen Systems anzusehen. Die bittersten Feinde der großen privaten Syndikate mussten jetzt anerkennen, wie unschätzbar und unentbehrlich ihre Dienste gewesen waren, um das Volk dafür zu erziehen, sein Geschäft selbst in die Hand zu nehmen. Fünfzig Jahre früher würde die Konsolidation der Industrie unter nationale Kontrolle selbst dem Sanguiniker ein sehr gewagtes Experiment geschienen haben. Aber die großen Korporationen hatten dem Volke durch Anschauung ganz neue Begriffe darüber beigebracht. Es hatte viele Jahre lang gesehen, wie Syndikate über Einkünfte verfügten, größer als die von Staaten, wie sie Hunderttausende von Arbeitern mit einer Geschicklichkeit und Wirtschaftlichkeit regierten, die in kleinen Verhältnissen nicht zu erreichen gewesen wären. Man hatte es als ein Axiom anerkannt, dass je größer das Geschäft, desto einfacher die zur Anwendung kommenden Grundsätze seien; dass das System, welches in einem großen Geschäftsbetrieb dasselbe ist, was in einem kleinen des Meisters Auge, zu besseren Resultaten führt. So kam es, dass als der Vorschlag gemacht wurde, die Nation solle die Funktionen der Korporationen selbst übernehmen, selbst der Furchtsame sich der Sache gewachsen fühlte. Gewiss war es ein großer Schritt, aber die Tatsache, dass die Nation die einzige Korporation wurde, befreite das Unternehmen von vielen Schwierigkeiten, gegen welche die einzelnen Syndikate hatten kämpfen müssen.“

Halten wir an dieser Stelle mal an: Die vorstehenden Passagen stammen aus dem Roman „Looking Backward or Life in the Year 2000″ von Edward Bellamy, veröffentlicht 1887; eine der meistgelesenen Sozialutopien des 19. Jahrhunderts, übersetzt in diverse Sprachen und vieldiskutiert, Blaupause für eine ganze Reihe späterer politischer Parolen von Arbeiter- und Studentenbewegungen; Bellamy verarbeitet darin seine Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Zuständen seiner Epoche, wählte angesichts der auf ihn einwirkenden Zwänge aber die Ausdrucksform der fantastischen Utopie. Das Buch erregte nach seinem Erscheinen ein gewaltiges Aufsehen, für viele Zeitgenossen Bellamys war es eine Offenbarung, in welcher der Autor das konkret aussprach, was sie selbst nur als diffuses Gefühl wahrnahmen, was sie insgeheim dachten oder träumten. Reformer, Frauenrechtlerinnen, Intellektuelle jeglicher Couleur, die Studentenbewegung: sie alle fanden ihre eigenen Visionen in Bellamys Werk in aller Ausführlichkeit wieder; die liberale Presse überschüttete es mit positiven Rezensionen, von der konservativen Seite hagelte es selbstredend die schärfsten Angriffe.

Bei allen Parallelen zum sozialistischen Staat, wurde „Looking backward“ in Marxisten-Kreisen eher lauwarm aufgenommen. Warum? – Bellamys Vorstellungen darüber, wie die Transformation der alten industriellen Ordnung vonstatten gehen sollte, konnte natürlich niemandem so recht gefallen, der von der Revolution des Proletariats träumte; der Klassenkampf will sich in Bellamys Welt irgendwie nicht gewaltsam entladen, Gleichheit wird in Frieden und aus Einsicht hergestellt. Aus der heutigen Retrospektive liest sich Bellamy denn auch weniger wie Karl Marx, sondern eher wie der späte Joseph Schumpeter oder der Psychoanalytiker Erich Fromm, und beide wurden hinsichtlich ihrer eigenen Utopien vom linken Lager bekanntlich aus ganz ähnlichen Gründen gescholten.

Wie die obigen Zitate aus der deutschen Fassung zeigen, bietet das Werk höchst aktuellen und interessanten Lesestoff; weniger wegen seiner sozialpolitischen Quintessenz, zu der jeder stehen kann, wie er mag, sondern vielmehr der zahllosen Fragmente wegen: Fans des bedingungslosen Grundeinkommens werden darin genauso auf ihre Kosten kommen wie Vertreter des post-keynesianischen Lagers, die Diskussion um öffentliches Eigentum sowie alle möglichen Spielarten von Kooperation zwischen Staat und Privatsektor wird im Werk vorweggenommen, die Arbeitszeitverkürzung  – bekanntlich das große beschäftigungspolitische Thema des ausgehenden 20. Jahrhunderts – von Bellamy durchaus richtig antizipiert. Den späteren Ernst Bloch findet man wieder, wo Bellamy die Saat einer zukünftigen Wendung zum Besseren bereits in den elenden Zustände des 19. Jahrhunderts keimen sieht: „Irgendetwas stimmt nicht!“, ein diffuses, penetrantes Gefühl, das selbst in Aristokratenkreisen verbreitet ist und früher oder später nach Abhilfe schreit; der quasi zeitreisende Julian West ist ob seiner sich daraus ergebenden historischen Rolle ziemlich konsterniert, als Vertreter einer Generation, die „es“ wohl ahnte, jedoch nichts getan hat, und jetzt erkennen muss, wie schön die Zukunft schon viel eher hätte sein können, wenn sie was getan hätte. Was denken die Bewohner des schönen 20. Jahrhunderts über ihn? Ihn, das Relikt einer barbarischen Epoche, den „Elephant Man“ des kapitalistischen Zeitalters? Werden sie ihn jemals als einen der ihren akzeptieren und respektieren können? Wird seine Liebe zu Edith die krassen Gegensätze in den sozio-kulturellen Biographien der beiden überbrücken können? – Aber nein, welch ein Schreck: Julian erwacht – war die ganze schöne neue Welt nur ein Traum? – Oder ist das Erwachen aus diesem Traum nur ein Albtraum? – Lest und seht selbst, liebe Freunde. Aber als kleiner Hinweis: Werke wie dieses enden nicht ohne Happy End; das wußte Edward Bellamy auch schon anno 1887.

Interessantweise hatte Bellamy anfangs gar nicht vor, mit „Looking backward“ ein Programm zur Reform der Gesellschaft vorzulegen: eine fantastische Novelle sollte es werden, nichts weiter, ein „Märchen des sozialen Glücks“, wie er es selbst nannte. Aber je tiefer er in das Werk vordrang, umso klarer sei ihm geworden, dass er aus Versehen über die „vorherbestimmten Grenzsteine einer neuen Gesellschaftsordnung“ gestolpert war, und in dem Moment wandelte sich das unschuldige Märchen zum brisanten Manifest.

Wem Vorahnungen des Krieges, wie ich sie im letzten Beitrag skizzierte, nicht behagen, wem Marx zu gewalttätig ist, und wer Schumpeters Prophezeiung angesichts der aktuellen Nachrichtenlage nicht glauben mag, dass der Kapitalismus ausgerechnet seines großen Erfolges wegen in den Sozialismus übergehen wird, für den bietet Bellamy einen durchaus friedfertigen und in Einzelaspekten gar nicht mal so utopische Blick auf eine neue, bessere Welt. Das Werk erscheint noch immer als Taschenbuch, und ist an diversen Stellen im Web sowohl im englischen Original als auch in der deutschen Übersetzung online verfügbar.

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