Chaos as usual

Follow-up zu "Europa in größter Gefahr"

Auf den gestrigen Artikel im Feuilleton gab es eine Reihe höchst interessanter Leserkommentare, und ich möchte dieses Follow-Up dazu nutzen, auf ein paar der darin aufgeworfenen Argumente noch mal etwas konkreter einzugehen.

Zunächst mal: natürlich ging es in dem Beitrag auch um Krugman und seine wirtschaftspolitischen Ansichten, als Aufhänger, und wenn man so will, dann das Ganze auch durch die „amerikanische Brille“: Der Mann lieferte mit seinem offenherzigen Statement den Anlass, so weit so richtig; aber dennoch dürfte es doch jedermann klar sein, dass diese Debatte keine ist, die primär von den Amerikanern zu führen wäre, oder bei der es uns interessieren müsste, was die Amerikaner konkret darüber denken; und bei der es zudem ganz egal ist, ob USA eine nachhaltige Fiskal- und Finanzpolitik betreiben oder nicht, und ob ihnen die Chinesen deshalb ihre Defizite weiter finanzieren oder ihnen diesen Dienst demnächst versagen werden: das alles spielt zwar eine Rolle hinsichtlich unserer äußeren Umstände, ist aber dennoch im großen und ganzen deren Problem. Die eigentliche Debatte, um die es mir geht, hat mit USA, China, Keynes, Krugman und Co. wirklich nur am Rande zu tun; wir Europäer, ausschließlich wir sind es, die diese Debatte führen müssen, niemand sonst, und zwar über die inneren Verhältnisse, nicht die äußeren! Das interessante an Krugman für Zwecke dieses Artikels war lediglich, dass er 1) der diesjährige Nobelpreisträger für Ökonomie ist, und damit zu einer Menschengattung gehört, die üblicherweise nicht durch kesse Polemik und aggressive Sprüche auffällt und 2) dass er das Gros seiner akademischen Meriten auf genau dem Feld erworben hat, um das es hier im Prinzip geht: nämlich Fragen der Internationalen Wirtschaft und des globalen Warenaustauschs sowie der daraus resultierenden politischen Wechselwirkungen.

Darüber hinaus: ohne jeden Zweifel ist die europäische Integration auch ein „neoliberales“ Projekt – das in Abrede zu stellen wäre ziemlich naiv, selbst wenn man die überwältigende Menge an politologischen Veröffentlichungen, die in den letzten paar Jahren das Licht der akademischen Welt zu diesem Thema erblickt haben, nicht bis in die letzte Zeile studiert hätte. Intuitiv wissen wir das alle, die Nachrichtenlage der jüngeren Vergangenheit spricht dazu Bände, und wiewohl das natürlich keinen Anspruch auf „Wissenschaftlichkeit“ erhebt, kann die im Volk weitverbreitete Ansicht so falsch nicht sein. Nur: wenn dem so ist, und Europa von der Wirtschaft quasi „gekapert“ wurde: wie sollte man sinnigerweise drauf reagieren? – Mein Vorschlag wäre, indem man den Rückstand der politischen Integration so schnell wie möglich wettmacht: durch gemeinsame Institutionen, gemeinsame Fiskalpolitik, gemeinsame Sozialstandards, usw. – Alles andere ist in meinen Augen reine Heuchelei, Selbstverleugnung im großen Stil, die nicht wahrhaben will, was einen Sarkozy wohl antreibt, wenn er plötzlich davon redet, dass Peugeot bitteschön seine Autos in Frankreich und nicht in der Slowakei oder Tschechien bauen soll. Und die verdrängt, dass jedes Jahr so- und so viele Politiker vom Schlage eines Jürgen Rüttgers den Volkshelden spielen (müssen), weil wieder einmal eine Nokia, ein VW oder welches Unternehmen auch immer rausgefunden haben, dass man in Rumänien oder Bulgarien weitaus günstiger produzieren kann als in Deutschland, und flugs ihre Zelte abbrechen, um sie jenseits der Grenze wieder aufzubauen. Spätestens wenn die Produktivitätsentwicklungen innerhalb der Europäischen Union angeglichen sind – was nicht mehr allzu lange dauern wird – werden Standortfragen mit ernüchternder Regelmäßigkeit und voller Wucht über uns hereinbrechen, und sie werden das europäische Klima unweigerlich vergiften. – Es mag den einen oder anderen geben, der noch applaudiert, wenn es heute heißt, die Osteuropäer konkurrierten mittels niedrigerer Steuern: fein, dann eben bei uns auch runter mit den Steuern! – Aber was, wenn es demnächst heißen wird, die Osteuropäer konkurrieren nicht mittels Steuern, sondern Lohn- und Sozialstandards? – Klatschen wir dann immer noch? Oder lassen wir dann ähnlich markige Sprüche vom Stapel, wie unlängst Sarkozy?

Nota bene: der Waren- , Personen- und Kapitalverkehr innerhalb des Binnenmarktes soll sich völlig frei entfalten können, davon bin ich restlos überzeugt. Aber zum Ausgleich muss es einen wie immer gearteten politischen Rahmen geben, der dafür sorgt, dass die sich daraus ergebende Dynamik sozial verträglich abläuft: so, wie das auf Ebene der Einzelstaaten natürlich längst der Fall ist; nehmen wir Deutschland als Beispiel, so wird wohl niemand bestreiten, dass Nord-Süd und Ost-West-Verlagerungen zwar kurzfristig zu kommunalen und regionalen Irritationen führen, aber langfristig keine existenzielle Rolle spielen. Warum? – Der gesamtstaatliche Finanzausgleich sorgt für entsprechende Kompensation.

Das merkwürdigste Argument aber, das bei der Europa-Debatte stets vorgebracht wird, ist das des vermeintlichen „Wasserkopfes“: verschlingt nur Geld, macht aber ansonsten kaum was sinnvolles, geht nur seiner ungehemmten Regulierungswut nach, von der Krümmung der Banane bis zur Normierung der Weihnachtsbäume; und zu allem Überdruss ist Brüssel nicht demokratisch legitimiert, das stört natürlich am meisten. Und kein Zweifel: das letzte Argument trifft sogar zu – weshalb es mich aber umso mehr wundert, dass sich keine Begeisterung dafür einstellen will, an diesem elenden Zustand auch nur das Geringste zu ändern. Insbesondere aus deutscher Sicht, denn der deutsche Wähler hätte in den gemeinsamen politischen Institutionen der Union natürlich ein gewichtiges Wörtchen mitzureden; entsprechend verständlich sind in dieser Hinsicht eher die Ängste der kleineren EU-Staaten, die mit dem Verlust des Einstimmigkeitsprinzips tatsächlich einer gewissen Marginalisierungsgefahr ausgesetzt wären. Aber in Staaten wie Deutschland und Frankreich? – Was soll das Argument da konkret bedeuten? – Dass man die politische Verantwortung für ein gemeinsames, großes Europa scheut? – Dass man zwar gerne an allen Konferenztischen, Hinterzimmergesprächen und obskuren politischen Manövern teilnehmen will, sich aber ungern in der offiziellen Führungsrolle sähe? – Und was den „Wasserkopf“ selbst betrifft: das Haushaltsbudget der EU beträgt rund 1% des EU-BIP, bezogen auf Deutschland also rund 260 Euro pro Bürger und Jahr: das klingt in meinen Ohren ja nicht gerade nach Kosteneskapaden und Behördenwildwuchs. Aber OK, selbst wenn man diese Ansicht nicht teilt: eine vertiefte politische Integration würde zweifellos zu einem Abbau von politischen Redundanzen führen, und damit zu einer Konsolidierung und Effizienzsteigerung auf Behördenebene: Aufgaben, die aus einer Hand für 27+ Länder wahrgenommen werden, verursachen eben weniger Kosten, als wenn sie auf 27 nationale Behörden verteilt sind. Das scheint mir relativ offensichtlich zu sein.

Im Grunde genommen lautet die zentrale Frage aber: wollen wir Europa überhaupt? – Vielleicht hat sich die Idee – geboren als Friedensprojekt zur Aussöhnung Frankreichs und Deutschlands – ja mittlerweile überholt; vielleicht fahren wir mit den Nationalstaaten in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts tatsächlich besser, wer weiß… Zwar nicht mal ansatzweise meine Überzeugung, aber das hat ja nichts zu bedeuten: eine Mehrheit meiner österreichischen Landsleute scheint mittlerweile davon überzeugt zu sein, dass Europa keine so gute Idee war – vielleicht haben sie ja recht?

Die mobile Version verlassen