Chaos as usual

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Wer sich heutzutage in den Straßenschluchten des Kapitalismus bewegt, muss aufpassen, von einstürzenden Paradigmen und herabfallenden

Beerdigte Köhler gerade die Soziale Marktwirtschaft?

| 99 Lesermeinungen

Interessante Ansprache, die der Herr Bundespräsident da gerade in Berlin gehalten hat. Das übliche Gerede von Moral und Regeln und den bösen Märkten will ich hier erst gar nicht kommentieren, weil um nichts anderes drehte sich der gestrige Beitrag, und meine Meinung dazu darf mittlerweile wohl als bekannt vorausgesetzt werden. Wollen wir an dieser Stelle nur festhalten, dass derselbe Horst Köhler, der heute was vom „starken Staat" erzählt und bedauert, dass trotz der Warnungen der Wille gefehlt hätte „das Primat der Politik über die Finanzmärkte durchzusetzen", noch im Juni 2002 als Vorsitzender des Internationalen Währungsfonds ganz anders klang: „Wir müssen akzeptieren, dass Übertreibungen und nachfolgende Korrekturen immer ein Teil dieses Prozesses sein werden, wenn wir ein System aufrechterhalten wollen, das auf Freiheit, Marktwirtschaft und Eigenverantwortung aufbaut." Aber OK: auch ein Bundespräsident muss lernen und seine Meinung ändern dürfen. Gestehen wir das auch Herrn Köhler zu, und hören wir seine heutige Botschaft mit wohlwollender Genugtuung; ob wir daran glauben, ist ja bekanntlich wiederum eine ganz andere Geschichte, und das soll jeder für sich halten, wie er mag. Wesentlich spannender fand ich in seiner Rede ohnehin die folgende Passage:

Interessante Ansprache, die der Herr Bundespräsident da gerade in Berlin gehalten hat. Das übliche Gerede von Moral und Regeln und den bösen Märkten will ich hier erst gar nicht kommentieren, weil um nichts anderes drehte sich der gestrige Beitrag, und meine Meinung dazu darf mittlerweile wohl als bekannt vorausgesetzt werden. Wollen wir an dieser Stelle nur festhalten, dass derselbe Horst Köhler, der heute was vom „starken Staat“ erzählt und bedauert, dass trotz der Warnungen der Wille gefehlt hätte „das Primat der Politik über die Finanzmärkte durchzusetzen“, noch im Juni 2002 als Vorsitzender des Internationalen Währungsfonds ganz anders klang:

„Wir müssen akzeptieren, dass Übertreibungen und nachfolgende Korrekturen immer ein Teil dieses Prozesses sein werden, wenn wir ein System aufrechterhalten wollen, das auf Freiheit, Marktwirtschaft und Eigenverantwortung aufbaut.“

Aber OK: selbst ein Bundespräsident muss lernen und seine Meinung ändern dürfen; gestehen wir das also auch Herrn Köhler zu, und hören wir seine heutige Botschaft mit wohlwollender Genugtuung; ob wir daran glauben, ist ja bekanntlich wiederum eine ganz andere Geschichte, und das soll jeder für sich halten, wie er mag. Wesentlich spannender fand ich in seiner Rede ohnehin die folgende Passage:

„Wir haben uns eingeredet, permanentes Wirtschaftswachstum sei die Antwort auf alle Fragen. Solange das Bruttoinlandsprodukt wächst, so die Logik, können wir alle Ansprüche finanzieren, die uns so sehr ans Herz gewachsen sind – und zugleich die Kosten dafür aufbringen, dass wir uns auf eine neue Welt einstellen müssen.“

Und ein paar Zeilen weiter:

„Deshalb: Gerade die Krise bestätigt den Wert der Sozialen Marktwirtschaft. Sie ist mehr als eine Wirtschaftsordnung. Sie ist eine Werteordnung. Sie vereinigt Freiheit und Verantwortung zum Nutzen aller. Gegen diese Kultur wurde verstoßen. Lassen Sie uns die kulturelle Leistung der Sozialen Marktwirtschaft neu entdecken. Es steht allen, insbesondere den Akteuren auf den Finanzmärkten, gut an, daraus auch Bescheidenheit abzuleiten und zu lernen.“

Beide Statements für sich genommen haben zweifellos ihre Berechtigung, aber gemeinsam in ein- und derselben Rede machen sie meiner Meinung nach keinen Sinn; die simple Wahrheit lautet nämlich: Die Soziale Marktwirtschaft beruht ausdrücklich auf einer Wachstumsprämisse! – Und die Schwierigkeiten, die wir in den letzten Jahren mit dieser liebgewonnenen Wohlfühl-Variante des Kapitalismus haben, resultieren mitunter aus keinem anderen Umstand, als dass die heute erzielbaren Wachstumsraten eben nicht mehr so üppig ausfallen, wie noch zu Ludwig Erhards Wirtschaftswunderzeiten.

Aber lassen wir das doch der Einfachheit halber Ludwig Erhard selbst erzählen: In „Wohlstand für alle“ schreibt er gleich eingangs auf Seite 10:

„Diese Überlegung macht wohl auch deutlich, wie ungleich nützlicher es mir erscheint, die Wohlstandsmehrung durch die Expansion zu vollziehen als Wohlstand aus einem unfruchtbaren Streit über eine andere Verteilung des Sozialproduktes erhoffen zu wollen.“

Und:

„Dieser Hinweis auf den unbestreitbaren Erfolg dieser Politik lehrt, wie ungleich sinnvoller es ist, alle einer Volkswirtschaft zur Verfügung stehenden Energien auf die Mehrung des Ertrages der Volkswirtschaft zu richten als sich in Kämpfen um die Distribution des Ertrages zu zermürben und  sich dadurch von dem allein fruchtbaren Weg der Steigerung des Sozialproduktes abdrängen zu lassen. Es ist sehr viel leichter, jedem einzelnen aus einem immer größer werdenden Kuchen ein größeres Stück zu gewähren als einen Gewinn aus einer Auseinandersetzung um die Verteilung eines kleinen Kuchens ziehen zu wollen, weil auf solche Weise jeder Vorteil mit einem Nachteil bezahlt werden muss.“

Sowie 2 Seiten weiter:

„Diese Bejahung einer Expansionspolitik wird auch noch unter anderen Gesichtspunkten zu einem zwingenden Gebot. Der realpolitische Betrachter wird akzeptieren müssen, daß der moderne Staat heute Riesenaufgaben zu bewältigen hat“

Wir sind uns hoffentlich einig, dass Erhard mit „Mehrung des Ertrags“ exakt dasselbe in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellt, wie Köhler oben mit „Wachstum“ gerade für gescheitert erklärt hat. Und die Logik der Erhardschen Sozialen Marktwirtschaft ist damit im Prinzip auch einfach zu verstehen: von einem größeren Kuchen fällt für alle unterm Strich mehr ab, als wenn sie sich über die Verteilung eines kleineren Kuchens endlos streiten. Ganz ähnlich das politische Credo aller liberalen Parteien, so in den letzten Jahren auch oft gehört aus der Richtung der FDP.

Und im Prinzip hatte Erhard damit auch recht, überhaupt keine Frage. Doch in Wahrheit handelte es sich um eine Schönwetter-Politik, die nur so lange funktionieren konnte, wie die Wachstumsraten entsprechend hoch waren. Der soziale Wohlfahrtsstaat der 60er-, 70er- und 80er-Jahre beruhte ganz wesentlich auf der Wachstumsprämisse, und erste Schwierigkeiten traten prompt zu dem Zeitpunkt auf, als die realen Zuwachsraten sich abschwächten. Die Blümsche Formel „Die Rente ist sicher!“ beruhte unweigerlich auf der Fiktion steten Wirtschaftswachstums, und war im Prinzip bereits anfangs der 90er-Jahre Makulatur.

Wenn Köhler sich also nun hinstellt und das Wirtschaftswachstum als erklärtes Leitmotiv der Politik in Frage stellt, dann macht er damit implizit nichts anderes, als die Axt an den zentralen Pfeiler der Sozialen Marktwirtschaft zu legen; vermutlich war ihm das in diesem Moment nicht bewusst, anders lässt sich die spätere Passage seiner Rede kaum erklären, in der er der Welt ausgerechnet dieses Modell ans Herz legt.

Wie Erhard in seinem „Wohlstand für Alle“ ganz zutreffend ausführte: eine Volkswirtschaft, die nicht wächst, wird in Verteilungskämpfen enden. Eigentlich eine Binsenweisheit, dennoch bin ich überzeugt: Das wollte Köhler in seiner Rede ganz bestimmt nicht zum Ausdruck bringen. Jedoch: wer 1 und 1 zusammenzählen kann, der wird zu keinem anderen Schluss kommen; und liegt damit vermutlich auch richtig: die Welt der nächsten paar Jahre wird aller Voraussicht nach eine solche der globalen Verteilungskämpfe werden.


99 Lesermeinungen

  1. max sagt:

    mh......
    mh…

  2. Nanuk sagt:

    Na dann können wir ja alle...
    Na dann können wir ja alle beruhigt weiter schlafen es gibt ja den ATF Dingo…

  3. Black Jack sagt:

    Sehr weise gesprochen, aber...
    Sehr weise gesprochen, aber Politiker machen nur mal gerne große Worte, die dem Volke wohl gefällig sind. Die eigene Meinung muss das nicht zwangsläufig sein. Allerdings ist fraglich, wie Wachstum auszusehen hat. Betrachtet man das Wachstum wirtschaftlich global oder national. Wachsen wir auf dem Rücken anderer Staaten, dann ist das schon jetzt nichts anderes als ein Verteilungskampf.

  4. Aus der Ecke von Horst Köhler...
    Aus der Ecke von Horst Köhler kann man doch garnichts anderes erwarten als Unlogik. Es sind Sonntagsreden für die der Bundespräsident zuständig ist. Nicht so ernst nehmen.

  5. basilikum sagt:

    Ich kann nichts weises daran...
    Ich kann nichts weises daran finden.
    Alles was ich sehe, ist eine einseitige Perspektive und das hier unpassende Dinge miteinander verglichen werden ähnlich den Äpfeln und Birnen.

  6. Sehr geehrter Herr Strobel,...
    Sehr geehrter Herr Strobel, gestatten Sie bitte die Anmerkung, dass auch Ihnen – der Eile geschuldet, Ihren Text zu verfassen – u.U ein Aufmerksamkeitsfehler unterlaufen sein könnte. Sie Vergleichen Textstellen von Ehrhardt mit der Rede von Bundespräsident Köhler und dabei spielt die Zeit in der sie verfasst wurden (1960er Jahre ./. 2009) eine wesentliche Rolle: wenn in den 1960er noch die Expansion im Vordergrund stehen durfte, darf man in 2009 andere Ansprüche an Wirtschaftspolitik stellen. Meiner Meinung nach stünde es uns gut an, unsere alte und teilweise vorbehaltlos übernommene Konditionierung in Frage zustellen – d. h. unsere Identifikation nicht immer wieder über das quantitative „Mehr“ zu beziehen, sondern über das „qualitative Mehr bzw. Besser.“ Mit Blick auf die Natur könnten wir uns vielleicht zu folgendem weiter entwickeln: sobald das quantitative Wachstum (das es geben muß) abgeschlossen ist – beginnt das qualitative – bei einem Baum wie bei einem Krokus. Die Chance zur Zäsur besteht jetzt ohne Zweifel.
    Michael Anton

  7. lemming sagt:

    Eine >kapitalistische<...
    Eine >kapitalistische< Volkswirtschaft, die nicht wächst, endet damit, keine kapitalistische Volkswirtschaft mehr sein zu können. Was sagt denn der Debitismus zur Wachstumslosigkeit? Das Wachstum im Maße der Verschuldung simulierende Ponzi-System Finanzwirtschaft kollabiert doch gerade, die Erwartungen werden nur noch nominell eingelöst, aber nicht mehr real. Verteilungskampf hiesse, dass einzelne Akteure ihre Wachstumsannahmen individualisieren, also auch vom kleineren Kuchen ein noch größeres Stück wollen. Das ist immer noch "Wachstum", aber eben nicht mehr allgemeines Netto-Wachstum, sondern Umverteilung, meist von unten nach oben, also hin zu immer größeren Unterschieden der Kuchenstück-Größen. Das ist, wie das ehrhardsche Wachstum auch, eine Eskalationslogik, Wachstum und Verschuldung verschieben die Probleme in die Zukunft, statt sie zu lösen. Weil, so meine Vermutung, innerhalb der kapitalistischen Logik und Produktionsweise diese Probleme nicht lösbar sind.

  8. ppp sagt:

    Klar, Herr Köhler wollte die...
    Klar, Herr Köhler wollte die Verteilungsfrage sicherlich nicht zum Ausdruck bringen will:
    Das würde ja einigen in Erinnerung rufen, wie Köhler sich selber zu Verteilungsfrage noch vor ein paar Jährchen geäußert hat:
    Lohnverzicht, Unternehmenssteuern senken, Sozialsysteme abbauen, die Bürger haben sich mit Wohltaten eingedeckt…

  9. Ian sagt:

    Quintessenz dürfte sein, dass...
    Quintessenz dürfte sein, dass alle diese auf permanenten und stetigen Wachstum ausgerichteten Systeme irgendwann zwangsläufig an Ihre Grenzen kommen werden. Und ich denke auch, dass alle Politiker, Staatsoberhäupter, Weise und Gelehrten dies eigentlich begriffen haben, sie haben nur ein Problem, Sie haben jahrelang anderes gepredigt und keiner hat den Mut die Kapazitätsgrenze seiner Bevölkerung gegenüber darzulegen. Und Verteilungskämpfe ja, die haben wir ja wohl bereits jetzt schon weltweit. Das auf Kredit basierende System führt sich mittlerweile ad absurdum, anderes sollte her, nur keiner weiss, wie es aussehen soll, man hat es ja schon immer so gemacht und aus diesem Grund wird die wahrscheinlich auch die Verlängerung des altbewähten Systems propagiert. Super geschrieben, brilliant analysiert die Rede von Herrn Köhler, den man eigentlich mal zu den von ihm vorgetragenen Unstimmigkeiten befragen sollte. Schon einen Termin???

  10. GKalb sagt:

    Expandieren? Mir wird Angst...
    Expandieren? Mir wird Angst und Bange.
    Der ganz grosse Kuchen (die Erde) ist bereits verteilt und kann nicht mehr weiter erschlossen werden. Da ist Expansion genau die falsche Politik!

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