Chaos as usual

Beerdigte Köhler gerade die Soziale Marktwirtschaft?

Interessante Ansprache, die der Herr Bundespräsident da gerade in Berlin gehalten hat. Das übliche Gerede von Moral und Regeln und den bösen Märkten will ich hier erst gar nicht kommentieren, weil um nichts anderes drehte sich der gestrige Beitrag, und meine Meinung dazu darf mittlerweile wohl als bekannt vorausgesetzt werden. Wollen wir an dieser Stelle nur festhalten, dass derselbe Horst Köhler, der heute was vom „starken Staat“ erzählt und bedauert, dass trotz der Warnungen der Wille gefehlt hätte „das Primat der Politik über die Finanzmärkte durchzusetzen“, noch im Juni 2002 als Vorsitzender des Internationalen Währungsfonds ganz anders klang:

„Wir müssen akzeptieren, dass Übertreibungen und nachfolgende Korrekturen immer ein Teil dieses Prozesses sein werden, wenn wir ein System aufrechterhalten wollen, das auf Freiheit, Marktwirtschaft und Eigenverantwortung aufbaut.“

Aber OK: selbst ein Bundespräsident muss lernen und seine Meinung ändern dürfen; gestehen wir das also auch Herrn Köhler zu, und hören wir seine heutige Botschaft mit wohlwollender Genugtuung; ob wir daran glauben, ist ja bekanntlich wiederum eine ganz andere Geschichte, und das soll jeder für sich halten, wie er mag. Wesentlich spannender fand ich in seiner Rede ohnehin die folgende Passage:

„Wir haben uns eingeredet, permanentes Wirtschaftswachstum sei die Antwort auf alle Fragen. Solange das Bruttoinlandsprodukt wächst, so die Logik, können wir alle Ansprüche finanzieren, die uns so sehr ans Herz gewachsen sind – und zugleich die Kosten dafür aufbringen, dass wir uns auf eine neue Welt einstellen müssen.“

Und ein paar Zeilen weiter:

„Deshalb: Gerade die Krise bestätigt den Wert der Sozialen Marktwirtschaft. Sie ist mehr als eine Wirtschaftsordnung. Sie ist eine Werteordnung. Sie vereinigt Freiheit und Verantwortung zum Nutzen aller. Gegen diese Kultur wurde verstoßen. Lassen Sie uns die kulturelle Leistung der Sozialen Marktwirtschaft neu entdecken. Es steht allen, insbesondere den Akteuren auf den Finanzmärkten, gut an, daraus auch Bescheidenheit abzuleiten und zu lernen.“

Beide Statements für sich genommen haben zweifellos ihre Berechtigung, aber gemeinsam in ein- und derselben Rede machen sie meiner Meinung nach keinen Sinn; die simple Wahrheit lautet nämlich: Die Soziale Marktwirtschaft beruht ausdrücklich auf einer Wachstumsprämisse! – Und die Schwierigkeiten, die wir in den letzten Jahren mit dieser liebgewonnenen Wohlfühl-Variante des Kapitalismus haben, resultieren mitunter aus keinem anderen Umstand, als dass die heute erzielbaren Wachstumsraten eben nicht mehr so üppig ausfallen, wie noch zu Ludwig Erhards Wirtschaftswunderzeiten.

Aber lassen wir das doch der Einfachheit halber Ludwig Erhard selbst erzählen: In „Wohlstand für alle“ schreibt er gleich eingangs auf Seite 10:

„Diese Überlegung macht wohl auch deutlich, wie ungleich nützlicher es mir erscheint, die Wohlstandsmehrung durch die Expansion zu vollziehen als Wohlstand aus einem unfruchtbaren Streit über eine andere Verteilung des Sozialproduktes erhoffen zu wollen.“

Und:

„Dieser Hinweis auf den unbestreitbaren Erfolg dieser Politik lehrt, wie ungleich sinnvoller es ist, alle einer Volkswirtschaft zur Verfügung stehenden Energien auf die Mehrung des Ertrages der Volkswirtschaft zu richten als sich in Kämpfen um die Distribution des Ertrages zu zermürben und  sich dadurch von dem allein fruchtbaren Weg der Steigerung des Sozialproduktes abdrängen zu lassen. Es ist sehr viel leichter, jedem einzelnen aus einem immer größer werdenden Kuchen ein größeres Stück zu gewähren als einen Gewinn aus einer Auseinandersetzung um die Verteilung eines kleinen Kuchens ziehen zu wollen, weil auf solche Weise jeder Vorteil mit einem Nachteil bezahlt werden muss.“

Sowie 2 Seiten weiter:

„Diese Bejahung einer Expansionspolitik wird auch noch unter anderen Gesichtspunkten zu einem zwingenden Gebot. Der realpolitische Betrachter wird akzeptieren müssen, daß der moderne Staat heute Riesenaufgaben zu bewältigen hat“

Wir sind uns hoffentlich einig, dass Erhard mit „Mehrung des Ertrags“ exakt dasselbe in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellt, wie Köhler oben mit „Wachstum“ gerade für gescheitert erklärt hat. Und die Logik der Erhardschen Sozialen Marktwirtschaft ist damit im Prinzip auch einfach zu verstehen: von einem größeren Kuchen fällt für alle unterm Strich mehr ab, als wenn sie sich über die Verteilung eines kleineren Kuchens endlos streiten. Ganz ähnlich das politische Credo aller liberalen Parteien, so in den letzten Jahren auch oft gehört aus der Richtung der FDP.

Und im Prinzip hatte Erhard damit auch recht, überhaupt keine Frage. Doch in Wahrheit handelte es sich um eine Schönwetter-Politik, die nur so lange funktionieren konnte, wie die Wachstumsraten entsprechend hoch waren. Der soziale Wohlfahrtsstaat der 60er-, 70er- und 80er-Jahre beruhte ganz wesentlich auf der Wachstumsprämisse, und erste Schwierigkeiten traten prompt zu dem Zeitpunkt auf, als die realen Zuwachsraten sich abschwächten. Die Blümsche Formel „Die Rente ist sicher!“ beruhte unweigerlich auf der Fiktion steten Wirtschaftswachstums, und war im Prinzip bereits anfangs der 90er-Jahre Makulatur.

Wenn Köhler sich also nun hinstellt und das Wirtschaftswachstum als erklärtes Leitmotiv der Politik in Frage stellt, dann macht er damit implizit nichts anderes, als die Axt an den zentralen Pfeiler der Sozialen Marktwirtschaft zu legen; vermutlich war ihm das in diesem Moment nicht bewusst, anders lässt sich die spätere Passage seiner Rede kaum erklären, in der er der Welt ausgerechnet dieses Modell ans Herz legt.

Wie Erhard in seinem „Wohlstand für Alle“ ganz zutreffend ausführte: eine Volkswirtschaft, die nicht wächst, wird in Verteilungskämpfen enden. Eigentlich eine Binsenweisheit, dennoch bin ich überzeugt: Das wollte Köhler in seiner Rede ganz bestimmt nicht zum Ausdruck bringen. Jedoch: wer 1 und 1 zusammenzählen kann, der wird zu keinem anderen Schluss kommen; und liegt damit vermutlich auch richtig: die Welt der nächsten paar Jahre wird aller Voraussicht nach eine solche der globalen Verteilungskämpfe werden.

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