Es ist 2 oder 3 Jahre her, da saß ich in den USA in einer Veranstaltung und lauschte dem Herausgeber eines bekannten US Nachrichtenmagazins, gleichzeitig bekennender Republikaner, bei seinem Vortrag; es ging um die Politik von Präsident George W. Bush, das Auditorium bestand zu 80% aus amerikanischen Managern, insofern war die zur Schau getragene Kritik am damaligen Kurs des US Präsidenten entsprechend verhalten, zumindest nach europäischen Maßstäben. In seiner Rede machte der Vortragende aber an einer Stelle eine Bemerkung, die bei mir offenbar hängen geblieben ist und gestern spontan in mein aktives Bewusstsein schoss: Er wüsste auch nicht genau einzuordnen, was Bush und die Neocons da eigentlich im Irak und in Afghanistan genau bezweckten, er glaube jedoch – ja, er hätte da so ein diffuses Gefühl -, da sei vielleicht mehr, als mit bloßem Auge sichtbar wäre: „I believe the President is on to something“.
Nun ist Horst Köhler nicht George W. Bush, und die Soziale Marktwirtschaft ist nicht Afghanistan, und wenn ich nicht gestern die Gedanken eines wiederum ganz anderen Mannes auf mich wirken lassen hätte, dann wäre ich im Leben nicht auf die Idee gekommen, derartig schräge Assoziationen zwischen Köhlers Berliner Rede und diesem USA-Erlebnis überhaupt zum Besten zu geben. Aber sei’s drum: Ich habe gestern Oswald von Nell-Breunings „Worauf es mir ankommt“ gelesen, einen unscheinbaren, nicht mal 100 Seiten starken Vortragsband, in welchem die Meilenstein-Reden des legendären katholischen Sozialethikers abgedruckt sind. Und darin findet sich folgende Passage, im Anschluss an seine zutreffende Feststellung, dass in Zeiten schneller Produktivitätszuwächse Arbeitsplatzabbau stattfindet, der nicht ohne weiteres kompensiert werden kann:
„Um dieser Kalamität abzuhelfen, betreiben wir oder haben wenigstens bisher „Beschäftigungspolitik“ betrieben. Wir bemühten uns, für die Menschen, die durch die gestiegene Arbeitsproduktivität ihre Arbeitsplätze verloren hatten, neue Arbeitsplätze zu schaffen; schon die Erstellung dieser neuen Arbeitsplätze („Investition“) schafft „Arbeit“ und schafft weitere Beschäftigungsgelegenheit an diesen neugeschaffenen Arbeitsplätzen. Da aber das an den alten Arbeitsplätzen Erzeugte ausreichte, um allen vernünftigen Bedürfnissen zu genügen, wird jetzt offenbar mehr produziert, wofür oder wonach kein dringender Bedarf besteht und das daher durchaus entbehrt werden könnte; diese um der „Beschäftigung“ willen betriebene Mehrproduktion erfordert nun aber einen entsprechend größeren Einsatz von Sachmitteln, Roh- und Halbstoffen sowie Energie.[…] So wie wir unsere Wirtschaft organisiert haben, stehen wir unter dem irrsinnigen Zwang, nur damit unsere Menschen hier Arbeit und Verdienst haben, Wirtschaftswachstum zu betreiben.“
Diesen Gedanken spinnt er weiter zur Erkenntnis eines im Grunde genommen ungeheuren Paradoxons unserer Wirtschaftsordnung: Arbeitsersparnis und damit verbundener Zeitgewinn durch Produktivitätsfortschritte können nicht zur Muße oder anderweitig sinnvollen Tätigkeiten genutzt werden, sondern führen bei den Betroffenen zu Lebensängsten und Stigmatisierung, und auf gesellschaftlicher Ebene zu gravierenden Problemen politischer und finanzieller Natur. Der große Vorzug unseres Wirtschaftssystems, effizient wie kein anderes zu sein, wird dadurch gewissermaßen ad absurdum geführt.
Was wären die Alternativen? – Die Standardantwort, auf die auch Nell-Breuning etwas näher eingeht, lautet: Dienstleistungsindustrie, insbesondere in Pflege und pflegenahen Bereichen. Aber klar: bei 5 bis 6 Millionen Arbeitslosen reicht das allein natürlich nicht aus. Für wirklich nachhaltige Lösungen bräuchten wir eine umfassende Neuorientierung, der eine breite gesellschaftliche Diskussion über die unterschiedlichen Optionen einer neuen wirtschaftspolitischen Agenda vorausgehen müsste.
Und das bringt mich auf meine einleitenden Sätze zurück: Wenn der Ökonom Horst Köhler, in seiner Funktion als Bundespräsident plötzlich aus heiterem Himmel davon spricht, dass wir unseren gesellschaftlichen Wohlstand nicht mehr allein der Wachstumspolitik anvertrauen dürften – ist das dann wirklich nur eine wohlklingende aber gänzlich inhaltsleere Plattitüde? Das Zeugnis billiger Semantik, aus der Feder politisch taktierender Redenschreiber und Wahlhelfer, die nichts weiter als das latente Unbehagen unentschlossener, sozialdemokratischer Stimmberechtigter bei der nächsten Bundespräsidentenwahl im Visier haben? – Ich will gerne gestehen, dass das auch meine erste Einschätzung war, nachdem ich Köhlers Rede in der Berliner Elisabeth Kirche gehört hatte. Und natürlich weiß ich um den enttäuschenden Track record derartiger Reden, die kurzlebigen und bedeutungslosen Beliebigkeiten des politischen Zeitgeists.
Aber andererseits: Vielleicht bestehen tatsächlich die Chance und die Hoffnung zurecht, dass Horst Köhler die Zeichen der Zeit in Nell-Breunings Sinne deutet, und mit seiner Rede die Türe aufstoßen wollte, in die große, gesellschaftliche Debatte über Sinnhaftigkeit und Verantwortbarkeit unserer aktuellen Art des Wirtschaftens? Einige Formulierungen in seiner Rede klingen jedenfalls denen von Nell-Breuning nicht unähnlich.
Falls dem tatsächlich so ist, dann wäre ihm mein „Chapeau, Herr Bundespräsident!“ sicher. Denn Köhler würde dann der nobelsten Verantwortung nachkommen, die das Bundespräsidentenamt, den ideologischen Tretmühlen des parteipolitischen Tagesgeschäfts enthoben, gleichzeitig aber mit beachtlicher gesellschaftlicher Strahlkraft ausgestattet, mit sich bringt: Probleme anzusprechen und die großen Debatten anzustoßen. Die Antworten zu liefern – das ist nicht seine Aufgabe. Den Finger in die Wunde zu legen allerdings sehr wohl. Mit einer Rede ist es natürlich nicht getan, keine Frage, aber immerhin: Ein Anfang. Falls es ihm wirklich ernst ist, dann sollten wir jedenfalls in nächster Zeit noch häufiger in der Angelegenheit von ihm hören.
Wer weiß: Vielleicht ist der Bundespräsident ja tatsächlich „on to something“.
Danke - endlich wird mit...
Danke – endlich wird mit diesem Artikel das Kernthema unserer Wirtschaftskrise angesporchen!
Ich möchte der Dienstleistungsgesellschaft eine Wissengesellschaft entgegenhalten. Es ist zwar durchaus so, dass unsere Gesellschaft aktuell in der Lage ist, alle direkten Bedürfnisse zu befridigen, allerdings hat unsere Technologie und Gesellschaft 2 Hauptprobleme:
Endliche Rohstoffe
Die endlichkeit des natürlichen Umfeldes
Wir müssen technologisch noch weit Forschreiten um wirklich sicher zu sein, vor Katastrophen der Klimaerwärmung etc.
Die Arbeitszeit, die offensichtlich selbst von den intelligentesten unserer Spezies in sinnlose CDO gesteckt wurde, (um sich gegenseitig zu betrügen), könnte viel viel sinnvoller in der Forschung aufgewendet werden.
Mein Ansatz zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise:
a) Mehr Arbeitsplätze im soziaen Bereich, Bildung, Pfelge, soz. Kontakte
b) Wissenschaft, Wissenschaft, Wissenschaft, Wissenschaft.
Als Basisabsicherung für jeden ein Bedingungslose Mindesteinkommen bzw. Grundjobs. Hautsache keiner muss mehr fürchten in die Mühlen von Hartz Iv zu geraten.
Tja, wgnx, jetzt hat's auch...
Tja, wgnx, jetzt hat’s auch bei dir geklingelt, was?
Wie schön, dass es ein so honorables Amt war, dass bei dir diese herrlichen Ausblicke aus der eigenen Haustür eröffnet hat. Vor einiger Zeit warst du ja noch ein Vertreter der „Arbeitspflicht“. Das ist natürlich ein absurdes Residuum, so absurd wie die Tatsache, dass wir die Produktivität steigern, um den Output zu steigern und nicht etwa, um ihn mit weniger Arbeitseinsatz erreichen zu können. Der Arbeitslosigkeit, die auf diese Weise geschaffen wird, können wir nur mit „Wachstum“ begegnen. Es ist Zeit für ein anderes System, wie las ich neulich? „Kapitalismus funktioniert nicht“. Dem würde ich angesichts der aktuellen Lage allenfalls noch ein „mehr“ hinzusetzen…
Buckminster Fuller lesen:...
Buckminster Fuller lesen: Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde. Da ist das alles lang und breit erklärt. Wie es aktuell ist, warum das auf Dauer nicht gut geht, wie es sein sollte, wer verhindert, dass wir da hin kommen und so weiter.
Ich glaube, sehr kompetent und...
Ich glaube, sehr kompetent und detailliert läßt sich das auch bei Binswanger nachlesen, in „Die Wachstumsspirale“. Habe das Buch erst seit ein paar Tagen und noch nicht richtig reingeguckt, aber alleine schon das Personenregister deutet darauf hin, dass er die Sache wirklich sehr breit angeht (nota bene: aus ökonomischer Sicht, vermutlich weniger ökologisch-energetischer).
Lieber Herr Strobl, Ihre...
Lieber Herr Strobl, Ihre Einschätzung sortiere ich — soweit es Herrn Köhler betrifft — unter der Schublade ein: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“
Bzgl. ihres ersten Bloggs gazu...
Bzgl. ihres ersten Bloggs gazu die zweite Ent-Täuschung also (die Erste klang ja schon bei Köhler an):
Es gibt in unserem (!) endlichen Kosmos kein wirkliches Ziel, nichts zu erreichen. Das Erkennen dessen bzw. DIE eigentliche Diskrepanz klingt also schon bei Nell-Bräunigs an, setzt sich bei Köhler nur fort. Das liegt an deren Alter. Der Mensch auf der Strasse möchte aber einen Sinn, daher das Wirtschaften, Bauen, Schaffen, Leiden. Und damit dieses SYSTEM; so wie es ist. Die Frage nach dem Sinn wird daher nie erörtert werden. Oder kennen Sie viele, die sich ihre ‚Selbstreferentialität‘ infragestellen würden. Das ist m.E. das eigentliche Geheimnis, was Sie in Köhler und Nell-Br. erkennen könnten. Diese Menschen waren und sind aber nur auf der Spur…
@Wolf-Dieter
Ja, eben. Das...
@Wolf-Dieter
Ja, eben. Das ist ja das schöne an ihr, deshalb sollte man sie sich auch bewahren, finde ich.
Ja, die letzte Rede des...
Ja, die letzte Rede des Bundespräsidenten zeugt von einer beträchtlichen Wandlungsfähigkeit. Vom Banker mit höchstem Gehalt seiner Zunft Deutschlands in internationale Bankerposition, Manager in der Asien-Krise, Geldverleih gegen drastische Auflagen zum Staatsabbau in betroffenen Ländern zum Bankerkritiker. Ob ihm irgendeiner, der nur eine einzige seiner Reden vor 2008 gehört hat, nur noch ein Wort glauben könnte ?
Der G20-Gipfel hat ja wieder schön gezeigt, daß von Wandel keine Rede sein kann. Bankenrettung hui, Menschen pfui. Aber zahlen werden nur überdurchschnittlich die Steuerzahler. Inflation, Wechselkurse, Steuerlast. Es ist einfach an der Zeit, dieser Politik die ROTE Karte zu zeigen. Man hört immer mal von Generalstreiks aus südlichen Gefilden. Die etwas lebendigere Lebensart sollte hier auch eingeführt werden. Platzverweis, auch für Helmut Köhler. Wir brauchen einen neuen Richard von Weizsäcker. Einen Repräsentanten, keinen Einpeitscher.
Köhler stellt das...
Köhler stellt das Wirtschaftswachstum in Frage?
So weit ist es jetzt also schon gekommen. „Wir brauchen mehr Wachstum“ – das predigen uns alle Parteien unisono seit Jahrzehnten und quer durch alle Medien. Wachstum ist das Fundament unserer Wirtschaftsordnung, unsere heilige Kuh – und daran zu zweifeln grenzt an Ketzerei. Und jetzt das!
Als Banker – der natürlich genau weiss, dass Kapitalismus ohne Wachstum gar nicht funktionieren kann – hat Köhler sein Leben lang an ewiges Wachstum geglaubt. Wenn er jetzt vom Glauben abfällt, dann kann das eigentlich nur bedeuten: ja, er ist „on to something“. Und dieses „something“ ist sicher nichts Gutes.
Helmut Köhler sagte in seiner...
Helmut Köhler sagte in seiner zitierten Rede: „WIR haben über unsere Verhältnisse gelebt.“ Die „ehrwürdigen Bankiers“, gewiss. Aber WIR ganz gewiß nicht. Die Rede war eine schallende Ohrfeige für alle Menschen, die ihr Geld durch Arbeit verdienen müssen.