Der Kapitalismus fällt ins Koma und Barack Obama wird Präsident der USA: Ist es Zufall, dass beide Ereignisse zeitgleich auftreten oder verbirgt sich mehr dahinter, womöglich eine echte Zeitenwende? – Ja, meint der österreichische Autor Robert Misik in seinem neuesten Buch „Politik der Paranoia“, dahinter stecke tatsächlich viel, viel mehr, nämlich das herannahende Ende des neokonservativen Zeitalters. Noch könne man sich dessen zwar nicht ganz sicher sein, weiterhin bestünde Gefahr, dass die Gesellschaft auch diesmal nur in einer kurzlebigen Ahnung von Wechsel stecken bleibt, statt den vollständigen Durchbruch in eine neue, bessere Epoche zu schaffen. Aber immerhin: So gut wie jetzt hätten die Chancen dafür schon lange nicht mehr gestanden, schreibt Misik, und mit seinem Buch wolle er seinen Beitrag leisten, für einen echten Wechsel zu einer nachhaltigeren und gerechteren Politik; daher beschränke er sich darin auch nicht auf die bloße Kritik an neokonservativem Gedankengut, sondern stelle diesem die eigenen „progressiven“ Konzepte als die überzeugenderen politischen Lösungen gegenüber.
Aber zunächst mal: Was heißt hier eigentlich „neokonservativ“? – War es nicht vielmehr das genaue Gegenteil, der Neoliberalismus nämlich, der uns die aktuelle Krise eingebrockt hat? Der Banker und internationale Investoren dazu veranlasste, unter dem Banner des freien Marktes und dem lautstarken Beifall der Regierungen weltweit ein immer größeres Rad zu drehen, mit den obskursten Finanzinstrumenten, bis sie die Chose schließlich selbst nicht mehr durchschauten, und ihnen ihr ganzes, schönes Finanzkarussell mit lautem Getöse um die Ohren flog?
Einerseits schon, schreibt Misik: Als Wirtschaftsphilosophie herrschte natürlich der Neoliberalismus vor, und den hätten selbstredend auch die Konservativen gut gefunden. Aber nicht alle, die sich für wirtschaftliche Freiheit stark machten, verlangten gleichzeitig die Assimilierung von Zuwanderern in eine deutsche „Leitkultur“; und nicht alle, die vehement die Zurückdrängung des Staatlichen propagierten, beschlossen kurz darauf unter dem Schlagwort „Krieg gegen den Terror“ massive Einschnitte in die Bürgerrechte: Eine Verschränkung von widersprüchlichen Leitbildern wie diesen bliebe laut Misik wirklich nur einer sehr speziellen Ideologie vorbehalten, eben der des Neokonservativismus. Dabei wären dessen Überzeugungen natürlich nicht immer neu sondern – ganz im Gegenteil – in vielen Fällen uralt: Die Besinnung auf die „wahren“ Werte, die zufälligerweise konservative Werte sind: Die Moral, die Familie, die traditionelle gesellschaftliche Ordnung – das kannten wir schon seit eh und je. Neu hingegen wäre laut Misik, dass die Neokonservativen es nun nicht mehr beim bloßen „Bewahren“ belassen, sondern lautstark und kampagnentauglich gegen den von ihnen diagnostizierten „Werteverfall“ ankämpfen, der allenthalben anzutreffen sei, bei jugendlichen Dissidenten, Religionsfremden, Homosexuellen, Patchwork-Familien, Alleinerziehenden, Hartz-IV-Empfängern und sonstigen Nonkonformisten aller Art. Individualismus sei ja gut und schön, aber wo wirklich jeder versuche, nach seiner ganz eigenen Facon glücklich zu werden, da wäre der Weg in den allgemeinen Nihilismus und zur Antikultur nur noch ein kurzer. Und damit würden die Neokonservativen sich keinesfalls abfinden wollen. Klar: Dass der Kapitalismus den Individualismus braucht wie der Mensch die Luft zum atmen, das hätten auch sie erkannt und akzeptiert; aber dass der moralische Rahmen zerstört wird, im Zuge des Vordringens der kapitalistischen Warenwelt in die intimsten Bereiche des menschlichen Daseins, dagegen müsse man ihrer Überzeugung nach angehen: Durch Sanktionen aller Art, von der bloßen gesellschaftlichen Ächtung bis zur vollen Härte des Strafgesetzbuches. Das sei das paranoide Wesen neokonservativer Politik, schreibt Misik, nur dadurch lasse sich erklären, wie sich unter einem gemeinsamen Oberbegriff ein heterogenes Bündel höchst widersprüchlicher politischer Ansichten vereinen lasse, das den Staat mal verdammt und dann wieder nicht, der individuellen Freiheit einerseits ständig das Wort redet, sie aber andererseits – wenn’s drauf ankommt – gesellschaftlichen Wertpostulaten unterordnen will.
Es sei nur auf den ersten Blick zutreffend, so Misik, dass die beiden großen Volksparteien ihren politischen Positionen in der gesellschaftlichen „Mitte“ angenähert hätten; während die Sozialdemokraten tatsächlich auf dem Weg in die Mitte einen Teil ihrer einstmals egalitären Überzeugungen preisgegeben hätten, träfe dies auf die Konservativen keineswegs zu: Sie seien vielmehr weiter nach rechts abgedriftet und gefielen sich insgeheim in der Stigmatisierung gesellschaftlich benachteiligter Gruppen, auf eine perfide Art und Weise, die mitunter der von rechtsradikalen Scharfmachern gleicht: Die sozial Schwachen, die Arbeitslosen und die Hartz-IV-Empfänger – sie mutieren in Talkshows und Bierzeltreden schon mal schnell zum „Rand der Gesellschaft“, der die staatliche Stütze ohnehin nur für die Befriedigung von Alkohol- und Tabaksucht oder sonstiger niederer Instinkte zweckentfremdet, und dem daher eher geholfen wäre, wenn man ihm die Hilfen kürzt.
Und überhaupt: Der soziale Wohlfahrtsstaat, der stelle für die Neokonservativen das Übel schlechthin dar; nicht nur weil er angeblich Unsummen verschlänge, sondern weil er sich die Nivellierung von Ungleichheit zum Ziel gesetzt hätte, die aus neokonservativer Sicht jedoch positiv für die Gesellschaft zu werten sei. Darüber hinaus erschüttere die soziale Wohlfahrt aber auch das traditionelle Familienbild der Neokonservativen: Mütter samt Kinder sind nicht mehr länger auf Gedeih und Verderb an ungeliebte oder rabiate Väter gekettet, sondern wissen sich und den Nachwuchs im Trennungsfall versorgt. Rekordscheidungsquoten und eine starke Zunahme Alleinerziehender sind bedauernswerte Folgen, stellt auch Misik fest. Aber andererseits: Was wäre gewonnen, wenn in derartigen Fällen Familienbande nur aufgrund materieller Versorgungsaspekte Bestand hätten, allen persönlichen Differenzen und Abneigungen zum Trotz?
Das übergeordnete, politische Credo der Neokonservativen lautet „Freiheit“, aber natürlich auch wiederum gemäß der eigenen Lesart, nämlich entweder als bloß formales Recht ohne materielle Auskleidung, womit es gleichsam der Irrelevanz anheimfällt in einer Gesellschaft, in welcher der Zugang zu allem und jedem fast nur noch über den Schlüssel „Geld“ möglich ist; oder aber die materielle Dimension des Begriffs wird sehr wohl erkannt, aber gleichzeitig auf das Minimum des absolut Lebensnotwendigen reduziert. Dass der Kapitalismus von sich aus keineswegs für Verteilungsgerechtigkeit sorgt, ignorieren neokonservative Vordenker geflissentlich, klagt Misik. Stattdessen flüchten sie sich in eine Ideologie der „Leistungsgerechtigkeit“, in welcher die Verteilung von gesellschaftlichen Resourcen ausschließlich durch das Primat des Ökonomischen bestimmt wird, weil jeder anderweitige Ausgleich unterbleibt. Indem der ökonomische Erfolg zur moralischen Kategorie hochstilisiert wird, wären die Reichen nicht nur in der Lage, größeren materiellen Wohlstand auf sich zu vereinen, sondern dürften sich darüberhinaus auch noch als die moralisch „Überlegenen“ fühlen und auf den Rest der Gesellschaft hinabsehen. Das sei nicht zuletzt aus volkswirtschaftlicher Sicht absolut irrsinnig, meint Misik, weil eine Gesellschaft, die einen Großteil ihrer Mitglieder nicht nur ökonomisch ins Hintertreffen geraten läßt, sondern sie auch darüber hinaus als Underdogs stigmatisiert, künstliche Barrieren errichtet und die Teilhabe an den Chancen auf einen selektiven Personenkreis einschränkt, was einer massiven Verschwendung von Talenten gleichkommt.
Die Guten im bösen Spiel, das sind bei Misik die „Progressiven“, diejenigen, die den Neokonservativen argumentativ Paroli bieten: Paul Krugman etwa, der Ökonomie-Nobelpreisträger des Jahres 2008; zudem die „liberalen Eliten“ in Medien, Kunst und Kultur; und natürlich, als der ganz große politische Hoffnungsträger, der neugewählte US Präsident Barack Obama. „Yes, we can“, lautete dessen Botschaft bekanntlich, und an sie will auch Misik gerne glauben, und das keineswegs nur mit Bezug auf die USA. Wer könnte in unseren Breitengraden auf Obamas Spuren wandeln, und einen echten „Change“ herbeiführen? Misik neigt in dieser Frage der Linken zu, sprich Leuten wie Lafontaine oder Bisky. Diese Ansicht könnte man zwar ohne weiteres teilen, jedoch wäre meine Lesart des Buches zunächst mal eine andere, nämlich im Sinne eines „Manifests einer echten liberalen Partei, wenn es sie denn gäbe“. Vieles an Misiks Ansichten erscheint mir nämlich weniger „links“ als vielmehr „liberal“ im besten Sinne des Wortes.
Die eigentliche Frage aber, die sich mir nach Lektüre des Buches stellt, ist die, ob die neokonservative Ära tatsächlich ihrem Ende nahe ist, wie Misik meint. Ich bin da keineswegs so sicher, zumal in der aktuellen politischen Debatte die selbsternannten Moralisten wieder Morgenluft zu wittern scheinen. Zudem sieht es auch weiterhin eher nach Einschränkungen bei den Bürgerrechten aus und angesichts der Umfragewerte für Merkel, Schäuble und Co und dem offensichtlichen Versagen der Linken, aus den Ereignissen der letzten Monate politisches Kapital zu schlagen, fällt es mir ehrlich gesagt auch schwer, in die Wahl von Barack Obama etwas reinzulesen, das für den politischen Kontext außerhalb der USA von entscheidender Bedeutung wäre. Aber egal: Misiks „Politik der Paranoia“ ist jedenfalls eine recht interessante und zugleich unterhaltsame Polemik für all diejenigen, die dem argumentativen Spagat eines Friedrich Merz zwischen „Freiheit“ und „Leitkultur“ auf den Grund gehen wollen, und die hinter verbalen Ausfällen gegenüber sozial Schwachen, wie sie für konservative Politiker vom Schlage eines Philipp Mißfelder bereits zum politischen Tagesgeschäft zu gehören scheinen, mehr vermuten als bloß unbeabsichtigte, sprachliche Ausrutscher.