Chaos as usual

Carrie Bradshaw trifft Luhmann und die Laura Girls

Bei SPIEGEL Online lesen wir von einem interessanten Gerichtsurteil: Das Arbeitsamt muss einem Bordell keine Prostituierten vermitteln, entschied das Bundessozialgericht in Kassel am Mittwoch, und wies damit die Forderung eines Bordellbetreibers aus Speyer an die Bundesanstalt für Arbeit in dritter und letzter Instanz ab. „Eine solche Handlung der öffentlichen Gewalt lässt sich nicht mit der Werteordnung des Grundgesetzes vereinbaren“, heißt es laut SPIEGEL in der Urteilsbegründung.

Der Kläger betreibt unter der Marke „Lauras Girls“ zwei Bordelle. Deren Dienstleistungen will er zukünftig von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten anbieten lassen, daher bat er die Arbeitsagentur um Hilfe bei der Suche nach geeigneten Mitarbeiterinnen aus Deutschland und der Europäischen Union. Als Art der Tätigkeit gab er die „Vornahme sexueller Handlungen“ an. Sein Argument vor Gericht: Prostitution sei mittlerweile ein normales Gewerbe, die Bundesagentur dürfe ihm daher die Vermittlung von Arbeitskräften nicht verweigern, das dürfe sie nur bei kriminellen Aktivitäten. Zudem wären die Jobs sozialversicherungspflichtig und „Wenn sie in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, muss sich die Anstalt auch um sie kümmern.“ Damit ließen ihn die Richter jedoch abblitzen.

Ich kann mir nicht helfen, aber mich faszinieren derlei Geschichten total. Aus streng gesellschaftsphilosophischer Sicht, versteht sich. Genauso, wie letzte Woche schon die News über den baldigen Familienzuwachs im Hause Parker-Broderick; Zwillingen wie man hört – wir gratulieren! -, mit denen aktuell nicht Ms. Sarah Jessica Parker selbst schwanger geht, die Dame, die wir alle als real-life-Double von Schuhfetischistin Carrie Bradshaw aus „Sex and the City“ kennen, sondern eine Leihmutter mit dem schönen Namen „Michelle“. Über die genauen Hintergründe dieser reproduktiven Menage-à-trois wollen wir uns hier nicht weiter auslassen – sie gehen uns im Grunde auch gar nichts an -, festhalten wollen wir nur, dass das Leihmuttergewerbe in den USA offenbar floriert und dabei Margen abwirft, wie zu Pablo Escobars besten Zeiten der Kokainhandel: die Leihmütter selbst kassieren für 9 Monate Kopfschmerzen, Übelkeit und Geburtsstress zwar nur relativ bescheidene 30.000 Dollar, aber Vermittlungsagenturen, die im Auftrag der prospektiven Eltern eine geeignete Gebärmutterbesitzerin suchen, kassieren wohl in der Regel 100.000 Dollar und mehr für ihre Dienste, wenn man den wie üblich gut informierten einschlägigen Medien glauben darf. Und dieselben Medien erzählen uns, dass das im Land der unbegrenzten Möglichkeiten natürlich alles keine große Sache mehr wäre, diverse andere Prominente wären auf diesem Wege ebenfalls schon zu Kinderfreuden gekommen, der Latino-Barde Ricky Martin etwa, von unzähligen Homosexuellen-Paaren ganz zu schweigen, und eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft wird das alles als ganz und gar „normal“ gelten.

Schöne neue Welt also, die wir kurz mal verlassen wollen, um ins Jahr 1974 zu reisen. Damals schrieb der marxistische US Soziologe Harry Braverman folgendes:

„Die Bevölkerung verlässt sich nicht mehr auf soziale Organisationsformen in Gestalt von Familie, Freunden, Nachbarn, Gemeinschaft, Älteren und Kindern, sondern bedient sich des Marktes nicht nur für Nahrung, Kleidung und Wohnung, sondern auch für Erholung, Unterhaltung, Sicherheit, für die Betreuung der Jungen, der Alten, der Kranken, der Behinderten. Bald werden nicht nur die Material- und Dienstleistungsbedürfnisse der Gesellschaft durch den Markt bestimmt sein, sondern auch alle emotionalen Erscheinungsformen des Lebenszyklus.“

Runde 35 Jahre später sind wir also an einem Punkt angekommen, wo sich in der gesellschaftlichen Realität selbst der elementarste menschliche Vorgang, nämlich der von Zeugungsakt, Schwangerschaft und Geburt, in einem marktwirtschaftlichen Kontext präsentiert; oder – um mit dem Anthropologen Karl Polanyi zu sprechen – zur „Warenfiktion“ geworden ist, als solches mit einem Preisschild versehen wird und dem Gesetz von Angebot und Nachfrage unterliegt. Dass die Prostitution als vermeintlich „ältestes Gewerbe der Welt“ gilt, muss uns nicht weiter irritieren: Sie wurde – zumindest in unseren Breitengraden – niemals von der Gesellschaft als solches gelebt, sondern führt bis zum heutigen Tage eine Randexistenz in der sozialen und rechtlichen Grauzone. Tendenzen, sie von dort herauszuholen und in die Mitte des gesellschaftlichen Establishments zu führen, gibt es zwar durchaus, aber eben erst seit relativ kurzer Zeit. Und entsprechende Widerstände seitens der Gesellschaft ebenso, wie das oben zitierte Gerichtsurteil ja eindeutig belegt.

Wir können anhand dieser (und zahlreicher anderer) Beispiele also beobachten, dass sich das Marktwirtschaftliche in unserem Leben ständig ausbreitet, und dabei in Bereiche vordringt, die bislang intimsten menschlichen Zusammenhängen vorbehalten waren, in einem Rhythmus, der von autonomer Bewegung und gesellschaftlichem Widerstand bestimmt wird. Letzterer ergibt sich zumeist aus moralischen, rechtlichen oder religiöse Auffassungen, Traditionen, Sicherheitsbestimmungen und dergleichen mehr, und oft genug ist nicht klar mit welchem Argument man nun den „moral highground“ für sich reklamieren könnte, dem protagonistischen oder dem antagonistischen: Ist es begrüßenswert, dass Frauen ihre natürliche Gebärfähigkeit zur Einkommenserzielung nutzen können, oder sollte man das als „ausbeuterisch“, „unmenschlich“, „unethisch“ oder was auch immer ablehnen? Und warum sollte dann Prostitution, jenseits konservativer Moralvorstellungen, eigentlich nicht als „normale“ Dienstleistung gelten dürfen (kriminelle Machenschaften außen vor)? Es sind doch gerade die Apologeten des Liberalismus, die uns neuerdings immer von „Freiheit“ und „individueller Entfaltung“ predigen – wer bestimmt da, was jetzt noch als „erlaubt“ und was als „nicht mehr erlaubt“ gelten soll? Wer spielt den Richter? Und nach welchen Regeln? Und ist es nicht so, dass, wo die Fans des Liberalismus zufällig aus dem konservativen Lager entstammen, sich bisweilen krasse Widersprüche zwischen liberalem Leitmotiv und konservativem Wertebewusstsein ergeben, wie das Robert Misik kürzlich so erfrischend in seinem neuen Buch „Politik der Paranoia“ dargestellt hat?

Wir werden uns zukünftig mit derlei Fragen intensiver und öfter zu beschäftigen haben, das ist für mich so sicher wie das sprichwörtliche Amen in der Kirche. Alleine schon deshalb, weil wesentliche Elemente unseres Gemeinwesens noch immer auf einem Gesellschaftsbild beruhen, das dem heutigen ja schon nicht mehr wirklich entspricht, der gesamte Apparat der sozialen Sicherung etwa; und weil das Vordringen der Marktwirtschaft in noch tiefer liegende Bereiche des Menschseins nicht aufzuhalten sein wird – die moderne Medizin und die Genforschung eröffnen da ein weites Spielfeld. Der deutsche Mediziner, Psychotherapeut und Professor für Organisationslehre Fritz B. Simon schreibt in seiner stark an Luhmann angelehnten „Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie“:

„Der Tausch Geld gegen Gut hat den Vorteil, dass der Einzelne der Geiselhaft seines sozialen Herkunftssystems und dessen Anpassungsforderungen entkommen kann. Nun ist es im Prinzip möglich, auch als isoliertes Individuum zu überleben, dem sich niemand zur Hilfe oder Solidarität verpflichtet fühlt, und das selbst keine derartigen Verpflichtungen eingeht.“

Wir sehen heute bereits, dass gelebte Individualität, sofern man sie sich leisten kann, vor keinen moralischen, sozialen oder biologischen Grenzen mehr halt macht. Zukünftige Gesellschaften werden daher völlig anders funktionieren, als es unserer traditionellen Sicht entspricht: Entscheidungen für oder gegen eine bestimmte Lebensweise sind dann keine Frage mehr von Moral, Tradition oder familiärem Hintergrund, sondern schlicht eine des Preises. Und in einer solchen Gesellschaft, in der Begriffe wie „Individualität“ und „Freiheit“ unmittelbar an den Begriff „Geld“ geknüpft sind, wird logischerweise auch alles, was Geld „kostet“, als Einschränkung von Individualität und Freiheit empfunden: eigene Kinder zum Beispiel. Insofern ist die Prognose nicht schwierig, dass das weitere Voranschreiten einer von Geld- bzw Marktprozessen getragenen Individualisierung gleichzeitig auch zu DER entscheidenden Herausforderung für das Gemeinwesen werden wird, wovon unsere heutigen Rentendebatten bereits erste Vorahnungen liefern; wie auch die News vom amerikanischen Leihmutter-Gewerbe oder das Gerichtsurteil zum Prostitutionsgewerbe.

 

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