Prolog: Auf dem Parkplatz
„Was willst Du hören?“, frage ich, als wir in mein Auto steigen und ich nach meinem iPod greife. „Was hast Du denn anzubieten?“, antwortet Robert Misik mit der unvermeidlichen Gegenfrage. „Alles, was gut ist“, sage ich, und entscheide mich kurzerhand für die Stones. Und so machen wir uns also zu „Gimme shelter“ auf den Weg, vom Hamburger Schanzenviertel, wo der österreichische Journalist und Schriftsteller gerade eine Lesung seiner „Politik der Paranoia“ hinter sich gebracht hat, in das gar nicht weit entfernte Szenelokal. Eigentlich wäre es ja auch in der Kneipe am Veranstaltungsort weiterhin ganz nett gewesen, im „Haus 73″, mit der charmanten Dame von der Heinrich-Böll-Stiftung neben mir und dem freundlichen Herrn vom Radio gegenüber; aber einerseits war es mir an dem Abend zu fröstelig geworden, um weiterhin draußen zu sitzen und Astra-Bier aus der Flasche zu trinken, und andererseits gibt es Dinge, die Ösis in der Fremde wirklich nur unter vier Augen besprechen können.
Aperitif und Hors d’oeuvre
Als was bezeichnest du dich eigentlich, Journalist, Philosoph, Schriftsteller?
Misik: Als Journalist. Ist ja auch mein eigentlicher Beruf, seit ich damals mein VWL- und Geschichtsstudium abgebrochen habe und zur „AZ“ gegangen bin. Kennst Du die „AZ“ noch?
Ja, klar. Die wollte doch der Dings wieder hochpäppeln, wie hieß er denn noch gleich, dieser GGK-Werbefritze?
Misik: Schmid. Du meinst Hans Schmid.
Ja, genau der. Und dann, was hast du gemacht, als es dort zu Ende ging?
Misik: Ich wechselte zum „Profil“, dem Nachrichtenmagazin. Als Deutschlandkorrespondent, von Berlin aus. Und von dort ging ich zu „Format“, aber das war eher eine kurze Geschichte.
Du nimmst es mir nicht übel, wenn ich Dir sage, dass dich in Deutschland nur wenige Leute kennen, die „Insider“ sozusagen. Wie sieht’s damit in Österreich aus?
Misik: Da kennt man mich durchaus. Doch, doch… durch die Video-Bloggerei, die ich für den „Standard“ mache. Das verschafft schon eine gewisse Popularität.
Lass uns mal über dein Buch „Politik der Paranoia“ sprechen. Dass ich das anders sehe als du, habe ich dir schon gesagt, oder?
Misik: Wie? – Ich dachte wir wären da einer Meinung?
Hinsichtlich der Zustandsbeschreibung, ja. Aber nicht hinsichtlich der Schlussfolgerungen.
Misik: Soll heißen?
Ich glaube nicht, dass die Konservativen auf dem Rückzug sind, wie du schreibst. Auch der Moderator deiner Lesung vorhin war meines Erachtens gänzlich auf dem falschen Dampfer: dass der Staat jetzt an allen Ecken und Enden in die Wirtschaft eingreift, ist mitnichten als Rückzug der Konservativen zu deuten, eher im Gegenteil: sie haben den Staat für ihre Zwecke in gewisser Weise gekapert. Die Teilverstaatlichungen, die bislang stattgefunden haben und vermutlich auch weiterhin noch stattfinden werden, haben nur peripher mit Arbeitnehmerinteressen zu tun, sondern dienen primär dem Schutz von Gläubiger- und Eigentümerpositionen. Das kann man begrüßen oder verteufeln, ganz wie man mag, aber jedenfalls hat das nicht das Geringste mit Kollektivierungen im Sinne der Linken zu tun.Da ging man ja selbst in den USA noch forscher ans Werk, bei der Quasi-Verstaatlichung von Chrysler zum Beispiel, bei der die bisherigen Eigentümer und ein Teil der Gläubiger fast alles verloren.
Misik: Schon. Aber dass es einen gewissen Paradigmen-Wechsel gibt, dass die Töne aus dem konservativen Lager leiser werden, dass ihre Galionsfiguren nicht mehr ganz so forsch auftreten, das kannst Du doch nicht abstreiten?! – Dass sie Leute wie dich plötzlich in der FAZ schreiben lassen, das zeigt doch, dass tektonische Verschiebungen im Gange sind.
Ich bin aber auch ein „Bürgerlicher“ und kein „Linker“. Dass man heutzutage mit Ansichten, die vor 20 Jahren noch zum festen Programm der CDU gehörten wie auch zum unbedingten christlich-sozialen Wertekanon, plötzlich als „Linker“ tituliert wird, mag ja durchaus sein, aber im Grunde kann es sich dabei ja nur um eine zeitweilige Irritation des bürgerlichen Bewußtseins handeln. Neulich schrieb einer in meinem Blog, ich würde für eine „sozialistische Ökonomie“ plädieren – das ist natürlich im Heimatland des „Rheinischen Kapitalismus“ der Witz des Jahrhunderts! Und an Müller-Armack und Röpke wollen sie sich plötzlich auch alle nicht mehr erinnern. Meine These ist: der Neoliberalismus hat die Konservativen überrannt. Wie und wann genau, weiß ich auch nicht, vielleicht war es auch eine schleichende Infiltration, aber die „Paranoia“, von der du schreibst, ist womöglich keine konservative der Liberalen, sondern eine liberale der Konservativen.
Misik: Die Neokonservativen heißen ja auch deshalb „Neo“, weil sie Positionen vertreten, die dem klassischen Konservativismus fremd gewesen wären. Die Begeisterung für einen ungehemmten Kapitalismus und die Eigentumsgesellschaft per se machten sich die Konservativen vergangener Jahrhunderte nicht zu eigen. Und selbst im 20. Jahrhundert: Das erste Nachkriegsparteiprogramm der CDU war keineswegs eine Ode an die Marktwirtschaft. Die Herausbildung des Neokonservativismus verlief allmählich, eher in Etappen von Jahrzehnten denn Jahren. Der Frankfurter Soziologe Helmut Dubiel schrieb vor rund 20 Jahren, der Neokonservativismus wäre nicht neu im Sinne von Einsicht, die zuvor noch niemand gehabt hätte. Sondern er wäre eine Reaktionsbildung. Der aggressive Neokonservativismus, den wir seit den sechziger Jahren in den USA sahen, der sich mit der Wahl von Ronald Reagan dann erstmals Zugriff auf die Macht verschaffte, der Amerika in Kulturkämpfe verstrickte – der erlitt mit der Wahl Barack Obamas die ganz große, historische Niederlage. Deklassiert wurden sie, die Konservativen, obwohl sie mit McCain und Sarah Palin alles in die Waagschale warfen, was sie an reaktionären Überzeugungen und Symbolen aufzubringen vermochten. Einen progressiven Präsidenten haben sie stattdessen gewählt, die Amerikaner, noch dazu einen schwarzen – doch, ich denken schon, dass hier das liberale Amerika wieder zu sich zurückgefunden hat. Barack Obama ist ein lupenreiner Progressiver, der linksliberale Positionen in einer Sprache formuliert, die die große Mehrheit der Bürger auch versteht. Klar: eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und auch Obama muss sich jetzt mit einem politischen und bürokratischen Umfeld arrangieren, das noch vom Geist der marktradikalen Epoche geprägt ist. Klar kann er auch scheitern, so wie vor ihm schon Clinton gescheitert ist oder in Großbritannien Tony Blair. Oder nimm die rot-grüne Regierung in Deutschland: das war doch geradezu das Paradebeispiel des politischen Scheiterns, eine richtiggehende Kapitulation vor dem Zeitgeist.
Hauptgericht
Worin besteht also konkret die „Paranoia“, von der du in deinem Buch schreibst?
Misik: Nimm den Marktradikalismus als Beispiel. Die Neokonservativen sind glühende Verfechter eines liberalen kapitalistischen Systems. Denke in Deutschland etwa an Friedrich Merz und sein letztes Buch „Mehr Kapitalismus wagen“. Gleichzeitig wissen sie aber, dass der Kapitalismus eine hedonistische Konsumkultur hervorbringt, ja sogar hervorbringen muss, die aber in ihren eigenen Worten gleichbedeutend ist mit Nihilismus. Die Neoliberalen wissen das auch, aber es bereitet ihnen keinerlei Stress. Und den ultraliberalen Anarchokapitalisten sowieso nicht. Die Neokonservativen aber stört das kolossal, ja es empört sie richtiggehend. Dass die globale Turboökonomie keinen Stein auf dem anderen lässt, die moderne Gesellschaft zunehmend zersetzt wird: das schmeckt ihnen überhaupt nicht. Gegen die ökonomische Dynamik wollen sie sich aber nicht stellen, weil die ist ihnen – als überzeugte Marktwirtschaftler – ja heilig. Also müssen die Werte ran. Ihre eigenen Werte, ganz zufälligerweise. Denn es geht ihnen dabei nicht um individuelle Moralvorstellungen, die einzelne Menschen aus Überzeugung haben, sondern um einen gesellschaftlichen Imperativ, eine allgemeine Sittlichkeit. Stell dir das am besten als eine Art „Kodex“ vor, eine Sammlung von Verboten. Verbote sind ja neuerdings wieder sehr populär, im politischen Tagesgeschäft.
Wie verteilt sich das auf die beiden großen Volksparteien, deiner Meinung nach. Oder ist das nur ein Phänomen der konservativen Parteien?
Misik: In meinen Augen ist es schlicht nicht wahr, dass es die großen Gegensätze zwischen „Links“ und „Rechts“ in der Politik nicht mehr gäbe, dass die großen Volksparteien quasi austauschbar geworden sind. Wenn überhaupt, dann rücken linke Positionen zunehmend in die „Mitte“. Die meisten sozialdemokratischen Parteien in Europa sind hingegen von klassischen linken Positionen abgerückt. Und die Rechte bewegt sich schon seit Jahren nicht mehr in Richtung Mitte, obwohl sie in ihren Parolen nach wie vor von nichts anderem redet. Gleichzeitig rücken aber die Bürger immer stärker nach links, zumindest wenn man den Statistiken glaubt. Demnach hätten sich in Deutschland in 1993 rund 24 Prozent der Bürger als „links“ eingeordnet, in 2007 schon 34 Prozent. Und wer weiß: in 2009 sind es vielleicht nochmals deutlich mehr geworden.
Kann aber auch sein, dass „links“ in 1993 nur schlicht eine andere Kategorie des politischen Bewusstseins war, als in 2007.
Misik: Natürlich. Allerdings scheint es darüber hinaus auch zunehmend wieder Mehrheitsmeinung zu werden, dass die Gewerkschaften einen stärkeren Einfluss haben sollten.
Warum kann dann aber die Links-Partei in Deutschland diese Stimmung nicht für sich nutzen? Sie verliert ja derzeit eher sogar an Zustimmung, während paradoxerweise ausgerechnet die FDP zulegt.
Misik: Das Problem mit der Links-Partei ist, dass sie offenbar als Protestpartei wahrgenommen wird, die man sich zwar gut in der Opposition vorstellen kann, aber nicht in Regierungsverantwortung. Die Linken sind meiner Meinung nach auch innerlich zerrissen und es grenzt für mich an ein Wunder, dass es die Partei in der Form überhaupt noch gibt. Der Bogen, denn sie politisch spannen will, wird ihr vermutlich eines nicht allzu fernen Tages das Genick brechen.
Was eigentlich kurios ist, oder? Wer sonst als die Links-Partei wäre im Stande gewesen, einen wirklich neuen Wirtschafts- und Politikentwurf konstruktiv zu formulieren und dafür bei breiten Bevölkerungsschichten zu werben?
Misik: Ganz genau. Zumal sie die Köpfe dafür ja durchaus hätte. Und mit einem Flassbeck hätte sie …
Uhh, ich habe nicht den Eindruck, dass Flassbeck auf die Linke noch groß was gibt. In seinem neuesten Buch „Gescheitert“ klingt er jedenfalls nicht danach.
Misik: Ja, aber immerhin kennen er und Lafontaine sich gut. Und ein Stück weit ist Lafontaine ja auch voll auf Flassbecks wirtschaftspolitischem Kurs. Aber Lafontaine alleine ist eben nicht die Linkspartei; und selbst er kann ab und an nicht davon lassen, aus reinem Populismus heraus auf Versatzstücke aus der sozialistischen Mottenkiste zurückzugreifen; wie etwa bei dieser Podiumsdiskussion, wo er plötzlich die „Rückenteignung“ von Schaeffler propagierte, weil deren Arbeiter seiner Ansicht nach zuvor enteignet worden wären. Das halte ich für ziemliche Fehlgriffe, das nimmt im Grunde auch keiner ernst, und ein Stück weit disqualifiziert sich die Linke damit auch. Andererseits machen sie aber in einer Reihe von Kommunal- und Landesregierungen offenbar einen recht ordentlichen Job.
Ja, aber auch nur innerhalb der etablierten Bahnen. Da kann man auch gleich SPD wählen, findest du nicht?
Misik: Vielleicht besinnt sich ja die SPD auf ihre Wurzeln und politischen Traditionen, das soll man nicht von vornherein ausschließen. Auf lange Sicht kann ich mir ohnehin nicht vorstellen, dass die Linkspartei und die SPD nebeneinander existieren. Früher oder später werden sie auch auf Bundesebene koalieren, da bin ich mir recht sicher.
Dessert und Espresso
Weißt du was ich glaube? – Dass wir auf eine Art Cross-Over aus Schumpeter und Hilferding zulaufen; der Staat steigt bei den Unternehmen ein und übernimmt die Banken, aber nicht etwa deshalb, weil es mit dem Kapitalismus so super gelaufen wäre, wie Schumpeter in seinem Spätwerk meinte. „Kann der Kapitalismus überleben? Nein, ich glaube nicht, dass er das kann“, schrieb der Weltökonom und Vater des innovativen Pionierunternehmers ja am Schluss seines lustigen Lebens. Aber die Gründe für das Ende werden wohl nicht die von ihm vorhergesehenen sein, sondern eher die von Rudolf Hilferding.
Misik: Da fällt mir immer diese Szene aus einer Podiumsveranstaltung in Harvard ein, die Paul Samuelson in einem seiner Werke 1969 schildert, mit Wassily Leontief, Joseph Schumpeter und Paul Sweezy, in der Leontief als Moderator wohl sinngemäß gesagt haben muss: „Zu meiner rechten hier ist Paul Sweezy, der mit Marx und Lenin behauptet, der Kapitalismus werde sterben, und zwar an einem bösartigen Krebsgeschwür, und absolut nichts kann dagegen helfen. Und zu meiner linken haben wir Joseph Schumpeter, der ebenfalls behauptet, der Kapitalismus werde sterben; und das sagt er auch noch in aller Heiterkeit, seit ihm die Tränen ausgegangen sind, nachdem er sie bereits 1914 beim Anfang vom Ende der Habsburgermonarchie vergossen hat. Aber laut Schumpeter stirbt der Kapitalismus nicht an Krebs, sondern an einer Neurose: er zerstört sich aus Hass auf sich selbst.“ – Aber zu Hilferding: er hat ja gegen Ende seines Lebens ebenfalls seine Position kräftig revidiert, angesichts dessen, was er in der Sowjetunion Stalins an Erfahrungen machte. „Der größte Gegensatz heute ist nicht Sozialismus und Kapitalismus, sondern Freiheit oder Staatssklaverei“, meinte er fortan. Das sollten insbesondere die beherzigen, die heutzutage andauernd von „Freiheit“ reden, dabei aber ausschließlich in ökonomischen Dimensionen denken. Die Freiheit und die Demokratie dürfen nicht als bloßes Abfallprodukt des ökonomischen Staatsinteresses verstanden werden.
Und das verleiht interessanterweise auch Hayeks „Road to serfdom“ wieder brennende Aktualität, das du in „Politik der Paranoia“ noch ziemlich kritisiert hast. Wenn auch in einem völlig anderen Kontext, als ihn sich Hayek ausmalte.
Misik: Wohl wahr. Es ist eine ziemlich verrückte Welt.