Chaos as usual

Ist die ZEIT reif für die Post-Wachstums-Ökonomie?

In der jüngsten Ausgabe der ZEIT beschäftigt sich Wolfgang Uchatius sehr eingehend mit dem Thema „Wirtschaftswachstum“; oder besser: mit der Abwesenheit desselbigen, denn sein Beitrag mit dem Titel „Wir könnten auch anders“ dreht sich ausschließlich um die Frage, ob eine Post-Wachstums-Gesellschaft vorstellbar wäre, und wenn ja wie. Ich halte seinen Beitrag insgesamt für sehr gut, zudem verständlich auch für Leser ohne Doppeldoktor in Ökonomie und Sozialwissenschaften, daher will ich mich gerne etwas eingehender damit beschäftigen. Die Kollegen von der ZEIT haben sicherlich nichts dagegen, wenn ich die sagenhafte Popularität der FAZ-Website dazu nutze, einem gelungenen Artikel wie diesem zu einem deutlich höheren Share of Voice zu verhelfen.

Quasi zur Einstimmung auf das schwierige Thema verwendet Uchatius zunächst mal eine volle Seite auf das Dekor, spricht viel über die Adam Opel GmbH und ihre anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, präsentiert uns kurz deren Finanzchef Marco Molinari, dem – so Uchatius – als Privatmann ein bisschen weniger Wirtschaftswachstum womöglich ganz recht wäre, als Opel-Geschäftsführer aber definitiv nicht; dazu die statistischen Durchschnitts-Meyers, Heike und Martin samt Sohnemann Max, die ein monatliches Haushaltseinkommen von 3.250 Euro erzielen, einen Mittelklassewagen der Kategorie Opel Astra fahren, und die in 20 Jahren das anderthalbfache von heute verdienen würden, wenn – ja, wenn – die deutsche Wirtschaft stetig um 2% wächst und Meyers voll daran partizipieren. Und dann könnten sie sich theoretisch viel mehr kaufen als heute, sagt Uchatius; das würde sie aber keinen Deut glücklicher machen, sagt die Glücksforschung. Daher die Frage an Radio Eriwan: Wozu das Ganze?

Bevor diese Frage beantwortet wird, tritt auch Keynes auf – der bei solchen Debatten natürlich nie fehlen darf -, und präsentiert seine angebliche Überzeugung, dass eine hochentwickelte Wirtschaft kein Wachstum mehr braucht. An dieser Stelle müssen wir ein wenig korrigierend eingreifen, denn Keynes war der Meinung, dass eine entwickelte Wirtschaft unter ganz bestimmten Umständen kein Wachstum mehr braucht, die man kurz mit „Frieden“ und „Beschränkung auf Basisbedürfnisse“ zusammenfassen kann. Bedingungen, die bekanntlich heutzutage keinesfalls vorliegen, weder was die überproportionale Ressourcenverwendung für Rüstungs- und Militärausgaben betrifft, noch was die durch Werbung und Marketing sorgsam unterfütterten künstlichen Bedürfnisse des modernen Zeitalters anbelangt. Keynes‘ Traum vom „sanften Tod des Rentiers“ wird sich daher auf absehbare Zeit nicht erfüllen, und falls doch, dann nur deshalb, weil ihm ein allgemeiner sozio-kultureller Bewusstseinswandel vorausging, statt simpler ökonomischer Einsicht.

Soweit, so gut, und hätte sich Uchatius in seinem Dossier auf derlei Fingerübungen beschränkt: Ich würde bestimmt nicht hier sitzen und jetzt einen eigenen Beitrag dazu tippen.

Auf Seite 2 seines Vortrages kommt er aber dann zum Punkt:

„Nahezu jedes große Unternehmen muss sich Geld leihen, um Geld zu verdienen. Es braucht den Kredit, um Arbeit zu bezahlen, Maschinen zu betreiben, Autos zu bauen. Hinterher, wenn die Autos verkauft sind, werden die Schulden beglichen. Nur leider kann man sich Geld nicht umsonst leihen. Jeder Finanzvorstand wird versuchen, mit Banken und anderen Geldgebern möglichst günstige Konditionen auszuhandeln, aber das ändert nichts am Kern des Problems: Schulden haben die unangenehme Eigenschaft zu wachsen. Und deshalb wird jedes Unternehmen von seinen Schulden erdrückt. Außer es wächst ebenfalls. Deshalb also ist Opel in diesen Tagen der Krise von der Insolvenz bedroht, obwohl es immer noch ziemlich viele Autos verkauft, nur eben nicht genug. Und deshalb müssen sich die Ingenieure ständig Gedanken über neue Erfindungen machen.

 Es ist nicht der Durchschnitts-Meyer, der das Wachstum braucht. Es ist auch nicht die Arbeitsgesellschaft. Es ist der Kapitalismus selbst. Ohne Wachstum würde Opel nicht einfach nur einige Arbeiter entlassen. Es würde schlicht aufhören zu existieren. Genauso wie Daimler und Siemens und Bayer und BASF. Als Nächstes gingen die Banken pleite, die den Unternehmen das Geld geliehen haben. Und dann würde es auch nicht mehr helfen, die Arbeitszeit zu verkürzen, denn dann hätte überhaupt niemand mehr Arbeit.“

Dazu meint die schwedische Jury des diesjährigen Eurovisions-Song-Contests: Douze Points!

In ganz ähnlichen Worten lässt sich das übrigens in einem Meilenstein-Artikel des Bremer Professors Gunnar Heinsohn in der gestrigen FAZ (Serie „Zukunft des Kapitalismus“) nachlesen, die auch heute noch am Kiosk erhältlich ist. So sieht es aus, und kein Bisschen anders: Der Kapitalismus selbst ist es, der den Wachstumszwang erzeugt, und ob wir ihn nun schöngeistig „Marktwirtschaft“ oder „nachhaltiges Wirtschaften“ nennen oder mit sonstigen Euphemismen belegen: das ändert an dieser simplen Tatsache schlicht überhaupt nichts. Der „Kapitalismus ist ein Kettenbrief“ (Version Paul C. Martin), die „Autopoiesis der Wirtschaft verlangt nach immer neuen Zahlungen, sonst hört sie auf zu existieren“ (Version Niklas Luhmann) oder „Wie schafft es die Kapitalistenklasse, beständig 600 Pfund aus der Zirkulation zu entnehmen, obwohl sie beständig nur 500 Pfund in die Zirkulation gibt?“ (Version Karl Marx). Mann kann es also ideologisch drehen und wenden, wie man will, aber eines steht fest: Ohne neue Schulden, und damit zwangsweise neues Wachstum, läuft im Kapitalismus gar nichts. Wäre die Akkumulation des kapitalistischen Systems tatsächlich so verlaufen, wie sich die Lieschens und die Hans-Werners das so vorstellen, wir würden heute noch mechanische Webstühle betreiben oder in Kohlegruben unser karges Dasein fristen.

Weil Uchatius wirklich gut ist, belässt er es aber nicht bei saloppen Sprüchen, sondern fragt einen der wenigen Experten, die sich tatsächlich mit so was auskennen: Den ehrenwerten Schweizer Professor emeritus Hans-Christoph Binswanger, zufällig der Doktorvater von unserem Joe „Mister 25 Prozent“ Ackermann:

„Als ersten Schritt, den Wachstumszwang zu mildern, schlägt Binswanger vor, Aktiengesellschaften in Stiftungen zu verwandeln. Der Opel-Mutterkonzern General Motors zum Beispiel wäre dann noch immer in privater Hand. Aber er stünde nicht mehr unter einem solchen Expansionsdruck, wie ihn heute Kapitalgeber aus der ganzen Welt auf die Vorstände der Aktiengesellschaften ausüben.“

Binswanger kann sich zudem für Regionalwährungen und alle möglichen anderen Alternativen erwärmen, einige praktikabler als andere, aber allesamt zumindest wert, in aller Öffentlichkeit diskutiert zu werden. Binswanger ist kein alternativer Spinner und kein post-marxistischer Pseudo. Er weiß, wovon er redet, aber keinen interessiert’s.

Und genau da liegt der Hase im Pfeffer: Die öffentliche Diskussion über Alternativen zum Wachstumszwang findet nicht statt. Eine offenbar von Industrielobbys ganz und gar ferngesteuerte Politik zeigt keinerlei Interesse, jenseits des wohlfeilen „Nachhaltigkeits“-Bruhahas in derartige Themen mal konkreter einzusteigen; mal zu sehen, was es überhaupt an Ideen gibt, was davon kurzfristig umsetzbar wäre, was – wenn überhaupt –  nur langfristig. Ich hatte vor kurzem an dieser Stelle mit dem Gedanken gespielt, dass Bundespräsident Köhler bei seiner Berliner Rede, in der er die Abkehr vom Wachstumszwang in den Raum stellte, vielleicht tatsächlich mehr im Hinterkopf hatte, als bloß massentaugliche Rhetorik. Eine glatte Stunde hatte ich auf den Text verwendet, und in der Retrospektive kann ich nur frustriert feststellen: Was für eine Zeitverschwendung!

Wer es noch deutlicher haben will, für den ein kurzes Ständchen unserer hochverehrten Frau Bundeskanzlerin aus jüngsten Tagen:

„Die deutsche Wirtschaft ist sehr exportabhängig, und das ist nicht etwas, was Sie in zwei Jahren ändern können. Es ist auch nichts, was wir ändern wollen“

Genau. Müssen wir auch gar nicht, Angie. Das ändert sich nämlich alles ganz von selbst, wirst schon sehen.

Wird nur nicht sehr schön werden, fürchte ich.

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