Chaos as usual

Mögen Sie ABBA?

I work all night, I work all day, to pay the bills I have to pay
Aint it sad
And still there never seems to be a single penny left for me
That’s too bad
In my dreams I have a plan
If I got me a wealthy man
I wouldn’t have to work at all, I’d fool around and have a ball…

(ABBA, „Money, Money, Money“)

In Zeiten einstürzender Paradigmen und allgemeiner Ratlosigkeit, gepaart mit zunehmenden Zweifeln hinsichtlich traditioneller Erklärungen dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, greift man zur intellektuellen Selbstaufrichtung immer wieder gerne auf Denker früherer Epochen zurück; mit Vorliebe solche, die nicht den hohen Türmen des Mainstreams entstammen, sondern dezidierte Außenseiterpositionen vertreten; weil den Mainstream kennt man ja zumeist eh schon von A bis Z, und schließlich waren es ja nicht zuletzt dessen Exegeten, wegen denen wir jetzt pudelnass im strömenden Regen stehen.

Soweit es die Ökonomie und insbesondere die Wirtschaftspolitik betrifft, war der ursprünglich aus Rumänien stammende US Ökonom Abba P. Lerner zweifellos ein derartiger Außenseiter. Der von ihm entwickelte Ansatz der „Functional Finance“ unterscheidet sich radikal von allem, was wir heute gemeinhin unter „solider“ Wirtschaftspolitik verstehen. Er ist aber gerade heute umso interessanter, als er sowohl das Problem immenser staatlicher Verschuldung als auch die Notwendigkeit zu verstärktem staatlichen Engagement adressiert. Wie sieht er aus?

„Die zentrale Idee ist, dass der Staat seine Wirtschaftspolitik, d.h. Haushaltsausgaben und Steuereinnahmen, Neuverschuldung und Schuldentilgung sowie Emission und Vernichtung von Geld, alleine an den Auswirkungen ausrichtet, die seine Maßnahmen auf die Wirtschaft haben, und nicht daran, ob eine gewisse Politik nach herrschender Doktrin als „vernünftig“ oder „unvernünftig“ angesehen wird. Dieses Prinzip der Beurteilung von Maßnahmen ausschließlich nach ihrer Wirkung, wurde bereits auf viele andere Gebiete menschlicher Tätigkeit übertragen, und wird dort als „wissenschaftliche Methode“ den Methoden der Scholastik gegenübergestellt. Das Prinzip, wirtschaftspolitische Methoden nur nach ihren Auswirkungen auf die Wirtschaft zu beurteilen, wollen wir „Functional Finance“ nennen.

Regierungen sollten ihre Haushaltsausgaben und ihre Steuereinnahmen der Höhe nach so planen, dass die aggregierten Ausgaben in der Volkswirtschaft gerade dafür ausreichen, den aggregierten Vollbeschäftigungs-Output zu aktuellen Preisen zu kaufen. Falls das ein Haushaltsdefizit bedeutet, höhere Schulden, Gelddrucken etc, dann sind diese Dinge per se weder gut noch schlecht, sondern sie sind schlicht die für ein gewünschtes Ergebnis von Vollbeschäftigung bei Preisstabilität erforderlichen Maßnahmen.“

Oder anders gesagt: Vernünftige Wirtschaftspolitik ist Vollbeschäftigungspolitik. Eine Regierung mag nach „ausgeglichenen Haushalten“ streben oder aber eine chronische Defizitpolitik betreiben – ob das im Einzelfall als „vernünftig“ zu beurteilen ist, richtet sich ausschließlich danach, ob es dem Ziel der Vollbeschäftigung (bei Preisstabilität) dient.

Der gute Herr Lerner schrieb das anno 1943, im Kielwasser von Keynes‘ General Theory, zu deren wichtigsten Interpreten er seinerzeit gerechnet wurde. Heutzutage mag man dagegen einwenden, dass die westlichen Regierungen ohnehin alle ordnungspolitischen Grundsätze längst über Bord geschmissen hätten, sich stattdessen schon seit Jahrzehnten nur noch am Ziel der Vollbeschäftigung orientieren. Aber das ist nicht, was Lerner damit meinte: der tiefe Graben zwischen öffentlichen Lippenbekenntnissen und tatsächlicher Politik war auch ihm nicht unbekannt. Wie man an den jüngsten deutschen Äußerungen, auch und vor allem von unserer sehr geschätzten Frau Bundeskanzlerin, zu „Schuldenbremse“ und Geldpolitik von Fed und BoE ersehen kann, ist das Ziel der Vollbeschäftigung in der Realität der deutschen Wirtschaftspolitik bestenfalls eines von mehreren. Und daher ist es kein großes Wunder, dass alle Bundesregierungen der letzten 20 Jahre an ihm grandios gescheitert sind; und zwar unabhängig davon, ob es nun ihr alleiniges Ziel oder nur eines von mehreren gewesen ist.

Demzufolge zielt Lerners Ansatz in eine ganze andere Richtung. Um das zu illustrieren, betrachten wir mal jenen Teil seiner Theorie, der den aktuell gültigen Dogmen am extremsten zuwiderläuft: Die Geldpolitik.

„Der moderne Staat kann alles, was er dafür geeignet hält, zum allgemeinen Geld erklären, und damit dessen Wert unabhängig von jeglicher Verbindung zu Gold oder anderen Formen der Deckung etablieren. Zwar ist es richtig, dass die bloße Deklaration, wonach dieses oder jenes nun Geld sein solle, für dessen allgemeine Akzeptanz nicht ausreichend wäre, selbst wenn keinerlei Zweifel darüber bestünde, dass der Staat eine solche Festlegung in absoluter, verfassungsgemäßer Souveränität träfe. Aber wenn der Staat das so deklarierte Geld auch als Mittel festlegt, in welchem Steuern und Abgaben zu entrichten sind, dann funktioniert dieser Trick. Jeder, der Schulden gegenüber dem Staat hat, wird das neue Geld akzeptieren, weil er mit seiner Hilfe seine Schulden tilgen kann; und alle anderen werden es ebenfalls annehmen, weil sie wissen, dass alle Steuerpflichtigen es akzeptieren werden, und sie bei diesen daher damit bezahlen können.“

Lerner schließt sich hier also ziemlich offensichtlich der chartalistischen Geldauffassung des Deutschen Georg Friedrich Knapp an, die der um 1900 als „Staatliche Theorie des Geldes“ veröffentlichte. Auf Knapps Gelddefinition rekurrierten in der Folge eine ganze Reihe bedeutender Theoretiker, Max Weber zum Beispiel oder auch John Maynard Keynes.

Aber was bedeutet das konkret?

Wie aus vorstehendem Zitat ersichtlich, leitet Lerner den Wert des Geldes aus nichts anderem ab, als dessen staatliche Akzeptanz für Zwecke der Besteuerung und des Abgabenwesens. Es bedarf also keiner wie immer gearteten „Deckung“, sei es durch Gold, Devisenreserven oder was auch immer sonst, sondern bezieht seinen Wert direkt aus einer (künftigen) Steuerzahlung: Wenn auf einer Banknote „100 Euro“ aufgedruckt ist, und sie vom Finanzamt auch mit einem Wert von 100 Euro zur Begleichung von Steuerschulden akzeptiert wird, dann hat sie auch im allgemeinen Zahlungsverkehr einen Wert von 100 Euro. Was auch immer dann schlussendlich als Material verwendet wird, aus dem das Zahlungsmittel physisch besteht, sei es Gold oder auch nur Papier, ist hingegen völlig egal.

Es bedarf wohl keiner weiteren Erwähnung, dass eine derartige Geldauffassung heute weder Mainstream ist, noch mit den Ansichten prominenter Offstream-Autoren übereinstimmt, wie etwa der von Gunnar Heinsohn, die man in seinem jüngsten FAZ-Artikel nachlesen kann. Heinsohn besteht darin auf einer strikten Eigentumsdeckung von Geld. Wenn man so will, dann kann man sich Lerner und Heinsohn als die zwei Gegenpole des geldtheoretischen Offstreams vorstellen, mit dem aktuellen Mainstream à la Bernanke, Weber und Trichet irgendwo dazwischen.

Aus Lerners Auffassung ergeben sich unerhörte Folgen für die Geld- und Fiskalpolitik: Wenn der Staat zwecks Erreichung des Vollbeschäftigungsziels Haushaltsdefizite vorsieht, dann muss er sich in dessen Höhe nicht extra verschulden: Er druckt dieses Geld einfach. Oder praktisch gesprochen: er lässt sich bei den Geschäftsbanken einen Kredit einräumen, drückt ihnen dafür im Gegenzug auch eigene Schuldverschreibungen in die Hand, welche von den Geschäftsbanken aber unmittelbar an die Zentralbank weitergereicht werden. Wenn diese nicht als „unabhängig“ tituliert wird, sondern schlicht als staatlicher Regiebetrieb agiert, dann bedeutet das für den Staat nichts anderes als einen Kredit bei sich selbst aufzunehmen. Und selbstverständlich käme es auf das exakt Gleiche raus, wenn der Staat sich den Kredit gleich von der Zentralbank direkt einräumen ließe.

Staatliche Verschuldung im herkömmlichen Sinn sieht Lerner zwar weiterhin auch vor, aber aus einem ganz anderen Grund: wenn zuviel Geld in Umlauf gelangt und Preisstabilität nicht mehr gewährleistet ist, dann muss der Staat dieses Zuviel an Kaufkraft irgendwie aus dem Verkehr ziehen. Das kann er entweder über Steuererhöhungen machen, oder aber über die Emission von Anleihen an das Publikum. Die staatliche Verschuldung im landläufigen Sinn wird damit also – so paradox das klingen mag – zu einer Maßnahme staatlicher Anti-Inflationspolitik.

Spiegelbildlich zu den öffentlichen Ausgaben – und natürlich erneut völlig konträr zur etablierten Fiskallogik –  sieht Lerner in den Steuern kein Mittel staatlicher Finanzierung.

„Steuern sollten niemals für Zwecke der Haushaltsfinanzierung erhoben werden.“

Wozu auch, wenn die Regierung ohnehin alles mit Geld bezahlen kann, dass sie selbst druckt? Denn Zweck von Steuern sieht Lerner denn auch in allen möglichen anderen Zusammenhängen, insbesondere zur Steuerung der im Umlauf befindlichen Geldmenge zwecks Aufrechterhaltung von Preisstabilität. Daneben müssen aber Steuern in nennenswertem Umfang aber auch deshalb erhoben werden, um den oben beschriebenen Wertzusammenhang des Geldes sicherzustellen. Falls keine Steuern erhoben würden, könnte man ja schlecht davon ausgehen, dass das Publikum staatlichem Geld deswegen einen Wert beimisst, weil es damit seine Steuern begleichen kann.

Eine zentrale Erkenntnis Lerners bezüglich des staatlichen Gelddruckens machen derzeit diverse Zentralbanken dieser Welt. Nämlich die, dass auch das schönste frisch gedruckte Geld im Zweifel gar nichts bewirkt, wenn es nicht irgendwie in Umlauf gelangt:

„Die Geldemission hat keinerlei ökonomischen Effekt, solange das neu gedruckte Geld nicht in Umlauf gerät. Geld, das im Keller verbleibt, hätte man erst gar nicht zu drucken brauchen.“

Wer denkt – übertragen auf unsere modernen Zeiten – dabei nicht an das mittlerweile geflügelte Wort von der „Kreditklemme“?

Wie oben schon zum Ausdruck gebracht, sieht Lerner in der Vollbeschäftigung das wichtigste Ziel staatlicher Wirtschaftspolitik. Und zwar nicht primär aus sozialen Erwägungen, sondern weil

1) die Vorteile technischer Neuerungen, die zu Produktivitätssteigerungen führen, nur bei Vollbeschäftigung voll zum Tragen kommen:

 „Sobald Arbeitslosigkeit anliegt, ist es nicht wichtig oder gar nützlich, auf arbeitssparende, neue Technologien zu setzen. Die dadurch eingesparten Arbeitskräfte würden nämlich genauso wenig anderweitig beschäftigt werden, wie die, die bereits arbeitslos sind. Die Arbeitslosigkeit würde sich also nur vergrößern. Wo es Arbeitslosigkeit gibt, führen Effizienzsteigerungen in einem bestimmten, produktiven Prozess nicht automatisch zu einer Effizienzsteigerung in der Wirtschaft als Ganzes.“

2) ein Land ohne Vollbeschäftigungspolitik in der Gestaltung seiner Handelsbilanz Einschränkungen unterliegt, weil es nicht in dem Maße importieren kann, als es bei Vollbeschäftigung könnte.

Obwohl vermutlich die allerwenigsten Leute von Abba Lerner überhaupt auch nur je gehört hätten, findet sein Ansatz auch heute noch durchaus Befürworter. Insbesondere die sogenannten „Neo-Chartalisten“ um den US Ökonomen L. Randall Wray rekurrieren gerne und häufig auf Lerners „Functional Finance“. Auch der im Zuge der Krise zu posthumer Berühmtheit gelangte Hyman Minsky war einer seiner Anhänger. Wer sich näher dafür interessiert, über die vorstehend lediglich skizzenhafte Darstellung hinaus, dieser Link weist auf eine recht detaillierte Zusammenfassung von Lerners Theorie.

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