In der Essay-Sammlung „Literatur und Revolution“ von Leo Trotzkij findet sich ein Aufsatz aus dem März 1914, in welchem der spätere Sowjet-Revoluzzer in unmissverständlichen Worten verkündet, was von all den Dissidenten, progressiven Marx-Interpreten und sonstigen „Laientheologen“ zu halten sei, die „unermüdlich die Weltgeschichte durchschütteln, sich neuen Strömungen anpassen und von allem in der Welt – Tschechoffs Held beim Verkauf des Vögleins gleich – wenigstens einen kleinen Nutzen für ihr Leben nach dem Tode davontragen wollen.“ Über den Helden unseres heutigen Dramas schreibt er so zum Beispiel Folgendes:
„Wie ein Marlborough trat dieses Mal der Volkswirtschaftsprofessor Herr Tugan-Baranowskij gegen den Determinismus an, der dem ästhetischen Kontrastgesetz folgend eine Schwäche für die Grazie des Gedankens hegt. In der Zeitung „Retsch“, in der die Leute von Zeit zu Zeit einen Propheten loszulassen lieben, empfiehlt Herr Filossofoff die Methode des Herrn Tugan-Baranowskij von ihrer besten Seite als das sicherste Mittel gegen die Blasen, die der schwere Stiefel des Determinismus bei furchtsamen Seelen erzeugt.“
Michael Tugan-Baranowski war um die Jahrhundertwende ein bedeutender russischer Konjunkturtheoretiker, dessen Lehre von den langfristigen Konjunkturzyklen auf die damalige Nationalökonomie deutlichen Einfluss hatte. Manche schreiben sogar davon, seine Theorie hätte der Konjunkturforschung den „Königsweg“ gewiesen. Werner Sombart bezeichnete ihn als „Vater der neueren Krisentheorie“, Joseph A. Schumpeter als eine Synthese aus Marx, den englischen Klassikern und den Lehren der „Österreicher“. Der marxistische Theoretiker Rudolf Hilferding, von dem es bisweilen heißt, er hätte mit seinem Erstling „Das Finanzkapital“ den Band IV von Marxens „Kapital“ verfasst, sprach darin hingegen von „verrückt gewordenem Marxismus“:
„Auf die Spitze getrieben ist diese Verwechslung in der Krisentheorie Tugan-Baranowskis. Diese sieht nur die spezifischen ökonomischen Formbestimmtheiten kapitalistischer Produktion und übersieht dabei die aller Produktion, welch immer ihre historische Form, gemeinsamen natürlichen Bedingungen und kommt daher zu sonderbaren Vorstellung einer Produktion, die nur für die Produktion vorhanden ist, während die Konsumtion nur als ein lästiges Akzidenz erscheint. Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode, und zwar marxistische, da eben diese Analyse der historischen Formbestimmtheit der kapitalistischen Produktion spezifisch marxistisch ist. Es ist verrückt gewordener Marxismus, aber doch Marxismus, was die Tugansche Theorie zugleich so sonderbar und so anregend macht.“
Worin also bestand dieser „verrückt gewordene Marxismus“ des Tugan-Baranowski, der selbst Nichtökonomen wie Trotzkij die Zornesröte in die Schreibfeder trieb? In einer sehr simplen Erkenntnis, die auch in den Reden von deutschen Bundespräsidenten und -kanzlerinnen neuerdings wieder mitschwingt: Der Kapitalismus braucht alles mögliche, aber er benötigt – zumindest eine gewisse Zeit lang – keine „Konsumenten“ und keine „Realwirtschaft“. Nein: Er kann bequem ohne sie auskommen. Oder übersetzt auf die Verhältnisse des Jahres 2009: Ein globales Spielcasino aus Finanzkontrakten kann wunderbar in Selbstreflexion verharren und seine Erträge durch nichts weiter als finanzielle Oszillation darstellen. So etwas Altbackenes wie Qualitätswaren, Bedürfnisbefriedigung, zufriedene Verbraucher? – Braucht vielleicht der Mensch, aber kein Investmentbanker.
Nun gab es zu Tugans Zeiten natürlich noch keine CDOs und keine ABS-Verbriefungskonstruktionen. Aber trotzdem legte er mit seiner Theorie den Grundstein für ein schematisches Verständnis des Kapitalismus, das uns selbst und vor allem heute unbedingt von Nutzen sein kann.
Im Prinzip ist seine Theorie simpel: Zu jedem beliebigen Niveau an Konsumgüternachfrage, schreibt er, gibt es ein entsprechendes Niveau an Investitionsgüternachfrage, durch das die insgesamt entstehenden und verteilten Einkommen ausreichen, das komplette Volksprodukt auch tatsächlich zu verkaufen. Wie niedrig das Konsumniveau auch sein mag, solange das Investitionsniveau hoch genug ist, kann es Unterkonsumtionskrisen, wie etwa die von Tugans prominenter Zeitgenossin Rosa Luxemburg, nicht geben. Zwei Sektoren der Volkswirtschaft könnten sich gewissermaßen gegenseitig „hochschaukeln“, damit einen rekursiven Prozess in Gang setzen, in dessen Verlauf Gewinne und Einkommen entstehen. Zum Beispiel der Art, dass mehr Stahl für Maschinen in der Kohleproduktion erzeugt wird, was wiederum zu einem erhöhten Bedarf an Kohle führt, was wieder die Stahlproduktion erhöht, was erneut die Kohleproduktion erhöht, usw. Der Kapitalismus sei kein „harmonisches“ System, schreibt Tugan-Baranowski, dessen Zweck die Bedürfnisbefriedigung der Bürger wäre, sondern vielmehr ein Antagonismus, bei dem es um nichts weiter als monetäre Akkumulation geht.
Was aber Trotzki, Hilferding und diverse andere Galionsfiguren des Marxismus auf die Palme brachte war, dass Tugan darüber hinaus eine ganze Reihe zentraler Elemente von Marx in Grund und Boden theorisierte: Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate sei „unhaltbar“, schrieb er zum Beispiel, aber vor allem: „Die gesamte Zusammenbruchstheorie von Marx ist unbedingt zu verwerfen.“ Mit solchen Sprüchen machte man sich im Lager der Bolschewiki natürlich keine Freunde.
Wir müssen uns an dieser Stelle nicht näher mit Tugans Theorie beschäftigen, die im Übrigen in den 1930er-Jahren von einem anderen bedeutenden Theoretiker, Michael Kalecki, in großen Teilen widerlegt wurde. Aber seine Einsicht bleibt gleichwohl für heutige Verhältnisse von Interesse, wie uns die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise vor Augen führt: ein Finanzsektor, der außer Rand und Band gerät, kann sich problemlos eine Zeit lang in einem reflexiven, rekursiven Prozess aufschaukeln, ohne dass die sogenannte „Realwirtschaft“ auch nur im geringsten davon profitieren würde (von Luxusjachten-Herstellern und Fith-Avenue-Penthouse-Verkäufern mal abgesehen). Tugans Kohle-und-Stahl-Beispiel aus 1900 könnte sich in unserem modernen Zeitalter z.B. aus den beiden Komplexen „Investmentbanking“ und „Private Equity“ zusammensetzen: Kredite führen zu Unternehmensübernahmen, das steigert den Marktwert aller Unternehmen, das führt zu höheren Krediten für die nächste Runde von Übernahmen, was die Unternehmenswerte erneut steigert, usw. Solange sich das Rad dreht, sind der Werte-Phantasie keinerlei Grenzen gesetzt. Und da die Politik bislang außer schönen Worten nicht das geringste unternommen hat, um den Finanzsektor wieder stärker auf die Realwirtschaft zu fokussieren, werden sich selbstverstärkende Prozesse schon bald erneut hochschaukeln. Tugan-Baranowski mag sich zwar in einigen Teilen seiner Theorie geirrt haben, aber sooo verrückt war sein Marxismus dann offenbar doch nicht.
Ah, nun ist mir auch...
Ah, nun ist mir auch vollkommen klar, woher Sie, verehrter Herr Strobl, Ihre eingriffsfreundlichen Ansichten haben.
Irgendwas von Trotzki & Co. bleibt dann doch im Kopf hängen. Nun ja, Täuschung ist immer nur Selbsttäuschung.
Auf die Revolution!
@Dipsy
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Ich wusste, dass Sie...
@Dipsy
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Ich wusste, dass Sie das schreiben würden. Das nächste mal zitiere ich – extra für Sie – Thomas Jefferson.
Und vergessen sie Benjamin...
Und vergessen sie Benjamin Franklin nicht! 😉
Oh, verehrter Strobl, mein...
Oh, verehrter Strobl, mein Name scheint Ihnen also in Erinnerung. Tut mir leid, Ihr Weltbild immer einmal ankratzen zu müssen. Aber, Euch Hegelianer fehlt (natürlich aus meiner Sicht) manchmal der Blick auf das Wesen einer Sache. Da wird über die Erscheinung lamentiert … dabei bleibt es dann aber. Ich darf Ihnen ausdrücklich Kant empfehlen (wobei, aus entwicklungspsychologischer Sicht wäre das reine Zeitverschwendung, bei Ihnen -also nur Ihres Alters wegen- ist es schlicht zu spät).
Eine ganz ausgesprochene Freude würden Sie mir mit Bastiat machen. Ich empfehle eine Flasche Chablis dazu – zur Beruhigung der staatsgläubigen Seele.
Aber, verehrter Strobl, allein die Tatsache, dass Sie hier ein solches Forum erhalten, zeigt doch die innovative Kraft des bösen, ungebändigten Kapitalismus. Davon war schon Marx überzeugt.
Der mAn springende Punkt in...
Der mAn springende Punkt in Tugans Aussagen ist einerseits die (starke) Abkopplung einiger Sektoren vom Makrotrend und andererseits die Endogenität der im Artikel erwähnten „Oszillation“, die uU resonant wird.
Für diverse Blasen ist es daher eine der interessantesten Fragen, woran man diesen endogenen Charakter des Hochschaukels direkt festmachen könnte, dem ja auch bei Minsky eine zentrale Bedeutung zukommt.
@ Thomas Strobel
Gibt es Leute (evtl. Minsky selbst), die versucht haben, eine derartige Endogenität nachzuweisen ?
@Dipsy
Bitte: Mußte das mit...
@Dipsy
Bitte: Mußte das mit dem „Hegelianer“ jetzt wirklich sein? Ich zitiere hier am laufenden Band Luhmann und Popper, präsentiere Heinz von Foerster als Kronzeugen wider jeglichen ontogenetischen Determinismus, und dann hauen Sie mir so dermaßen eine rein? Das habe ich nicht verdient.
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Ich finde Kant auch sehr schön. Das blöde ist nur: er ist nie da, wenn man ihn braucht…
So nebenher erfährt man, dass...
So nebenher erfährt man, dass es innerhalb der Ökonomenzunft möglich war,
andere Theorien anzugreifen, in Teilen zu widerlegen usf. Diese Handlungsweise von Gelehrten, die wir zum Teil als Väter bezeichnen, mutet heute geradezu frühgeschichtlich an. Wir haben heute gefestigtes Wissen. Oder sagt man besser unerschütterliches?
Was für ein schöner,...
Was für ein schöner, allegorischer Parallelklang; wäre es denn nicht interessanter und vielleicht auch realitätsnäher, sich mit einem Schüler Tugans zu befassen: Kondratieff.
Wenn ich die Zeichen der Zeit richtig deute, bricht jetzt gerade ein K-Winter mit aller Macht über uns herein – endlich: nicht wertend, sondern weil überfällig.
Die finanzwirtschaftlichen Exzesse sind nach meiner Beobachtung auf die verzweifelten Bemühungen von Politik und Notenbanken zurückzuführen, die Zyklen abzuschaffen (sie nennen es verstetigen, verhalten sich dabei aber wie kleine Kinder, die noch ein Mätzchen aufführen, um nicht ins Bett gehen zu müssen). Andererseits: zweites Motiv der aus der Sicht konservativer Ökonomen (Österreichische Schule) zu lockeren Geld- und Fiskalpolitiken war die Erhaltung des sozialen Friedens zwischen den Ober- und Mittelschichten.
Mich interessiert, inwieweit realwirtschaftliche und Kreditzyklen parallel verlaufen oder sich entkoppeln können; mir scheint, sie treffen sich gerade wieder.
Wie viel Porzellan „muß“ dieser K-Winter zerschlagen? Welche Fallschirme kann die Politik aufspannen? Kommt die Alternative – laissez faire – „billiger?“ Ich schlage vor, „laissez faire“ zu verwerfen vor dem Hintergrund der historischen Parallele ab 1933!
Die Marxisten wetzen ja schon die Messer (siehe wgn-Blog), weil die aktuelle Entwicklung „jetzt aber endgültig, weil zum xten mal“ beweist, dass der Kapitalismus „zwangsläufig untergehen muß“…
Gegenentwürfe…?
@bommel
Bin zwar nur...
@bommel
Bin zwar nur ahnungslos, aber der da fällt mir zur Frage ein:
https://www.er.ethz.ch/essays/marketcrashes
@Zykliker
>Die Marxisten...
@Zykliker
>Die Marxisten wetzen ja schon die Messer (siehe wgn-Blog), weil die aktuelle >Entwicklung „jetzt aber endgültig, weil zum xten mal“ beweist, dass der >Kapitalismus „zwangsläufig untergehen muß“…
>
>Gegenentwürfe…?
Der Zweite Weltkrieg war ein Untergang, oder was sonst?
Gruß