Trübselige Krisenzeiten offenbaren eines in aller Schonungslosigkeit: der Kapitalismus – er hat viele Feinde: Von links und von rechts kommen sie, manchmal sogar aus der Mitte, überfallsartig bei Nacht und Nebel oder klammheimlich sich heranpirschend; in jedem Fall aber findet sich der Kapitalismus überrumpelt und schwer unter Druck gesetzt, versucht sich zu wehren, so gut er kann, mit aller Kraft – jedoch: eine Übermacht feindlicher Kräfte steht ihm gegenüber – Gewerkschaftsführer, Bürokraten, Intellektuelle, Schauspieler, Rechtsanwälte, Lehrer, Ärzte, Literaten sowie all die anderen, die ihm Böses wollen, ihm in dunklen Gassen nachstellen, um ihn feige von hinten zu überfallen, in ihrer ganzen Niederträchtigkeit, diese elenden Schurken! Dabei hat er ihnen gar nichts getan, nicht das Geringste, der Kapitalismus ist an allem unschuldig, lediglich als Sündenbock herhalten muss er – Jawohl, als Sündenbock! – für all das Schlechte, das eine Politik der staatlichen Wohlfahrt über die Menschen bringt, für das sie aber die Schuld mit Vorliebe anderen in die Schuhe schiebt.
In etwa so lässt sich in aller Kürze das Spätwerk von Ludwig von Mises „Die Wurzeln des Antikapitalismus“ zusammenfassen, eine Abrechnung des berühmten österreichischen Nationalökonomen mit den aus seiner Sicht zahlreichen Feinden des Kapitalismus bzw. der „Freiheit“, wie er häufig und gerne die beiden Begriffe synonym verwendet. Es handelt sich bei dem Werk – eher Essay denn Buch – in meinen Augen nicht gerade um das Highlight des Miseschen Oeuvres, es ist inhaltlich eindimensional und sprachlich uninspiriert, insgesamt eher fade und kein Vergleich mit den deutlich anspruchsvolleren Hauptwerken des Meisters aus früheren Schaffensperioden. Mit einer Ausnahme allerdings, die ist tatsächlich lesenswert, weil einigermaßen kurios, und der widme ich diesen Beitrag.
In seinem Rundumschlag nimmt Mises nämlich auch einen ganz besonderen Übeltäter ins Visier – irrtümlich, wie ich glaube-, den unsereins wohl von vornherein nicht auf der Liste gehabt hätte, auch nach gründlichster Überlegung und mehrfacher Ausweitung des Kreises potenzieller Verdächtiger nicht. Es handelt sich dabei um keinen Menschen und keine politische Ideologie, keine Partei und keine Arbeitnehmerorganisation, nein: all das nicht. Der Übeltäter, von dem hier die Rede ist, ist aus ganz anderem Holz geschnitzt, und er scheint gefährlich – überaus gefährlich – denn Mises widmet ihm ein eigenes Unterkapitel – eine Ehre, die er nicht allen Kombattanten zuteil werden lässt. Es muss also ein ganz besonderer Feind sein, den sich der arme, unschuldige Kapitalismus da angelacht hat, ein Gegner von beispielloser Brutalität und eiskalter Gnadenlosigkeit, gewissermaßen der Osama Bin Laden des Antikapitalismus. Meine Damen und Herren, bitte halten Sie sich nun zu Ihrem eigenen Schutz irgendwo fest, bevor ich den großen Unbekannten entlarve: Es ist kein Geringerer als – der Detektiv-Roman!
Nein, das ist kein Scherz: Arthur Conan Doyle, Edgar Wallace und Agatha Christie – nach Misesscher Deutung insgeheim Speerspitzen der roten Front.
Aber was missfiel unserem Ludwig an Sherlock Holmes, Hercule Poirot und Co so dermaßen, dass er sie in einen Topf mit Lenin, Trotzki und ähnlichen Kalibern warf? Sehen wir uns das mal in Auszügen an:
„Das Zeitalter, in welchem die radikale antikapitalistische Bewegung anscheinend unwiderstehliche Macht gewann, brachte eine neue literarische Gattung hervor – die Detektivgeschichte. Die gleiche Generation der Engländer, deren Stimmen die Arbeiterpartei zur Regierung emporrissen, begeisterten sich für solche Autoren wie Edgar Wallace. Einer der bedeutendsten britischen sozialistischen Autoren, G. D. H. Cole, ist genauso hervorragend als Verfasser von Detektivgeschichten. Ein konsequenter Marxist müsste die Detektivgeschichte – vielleicht gemeinsam mit den Hollywoodfilmen, den Witzblättern und der Striptease „Kunst“ – als den künstlerischen Überbau der Epoche der Arbeitnehmerverbände und der Sozialisierung bezeichnen.“
Ich glaube: Damit befindet er sich gleich von Beginn an auf dem Holzweg. Denn mit „Der Detektiv-Roman – Ein philosophisches Traktat“ von Siegfried Kracauer aus 1925 liegt tatsächlich eine eingehende Analyse des Genres aus der Sicht eines Marxisten vor – alleine, sie weist in eine völlig andere Richtung, aus meiner Sicht auch eine deutlich plausiblere. Mises‘ „Wurzeln des Antikapitalismus“ erschien über 30 Jahre später, doch er erwähnt darin das an die Religionsphilosophie Kierkegaards‘ angelehnte Traktat Kracauers mit keinem Wort. Schade für ihn, denn seine eigene Analyse hat damit nicht mal ansatzweise die existenzialistische Tiefe, bis in die Kracauer vordrang, um den Detektivroman zu dekonstruieren und seine einzelnen Elemente einer intensiven Würdigung zu unterziehen. Und aus diesem Grunde entgeht ihm auch, dass es nicht der Hass der Arbeiterklasse auf die kapitalistische Bourgeoisie ist, die Sherlock Holmes antreibt; sondern die leibhaftige Ratio selbst, deren Personifikation der Detektiv ist – allwissend, gottgleich, allerdings nur in einer Welt, die von Gott verlassen wurde; einer „Zwischenwelt“ – nach oben begrenzt durch Kierkegaards „religiöse“ Sphäre, nach unten durch die vielschichtigen Niederungen des menschlichen Seins.
Was passiert nun eigentlich im Detektivroman? Mises:
„Der typische Gang der Ereignisse in einer Detektivgeschichte ist der folgende: Ein Mensch, den alle als ehrbar und einer gemeinen Handlung unfähig betrachten, hat ein abscheuliches Verbrechen begangen. Niemand verdächtigt ihn. Doch den scharfsinnigen Detektiv kann niemand zum Narren halten. Er kennt solche scheinheiligen Heuchler ganz genau. Er sammelt alle Beweise, um den Verbrecher zu überführen. Dank seiner Bemühungen wird die gute Sache zum siegreichen Ende gebracht.“
Und damit liegt er eigentlich auf einer Linie mit Kracauer, dem es allerdings weniger um den ehrbaren Menschen und seine niederen Motive geht, und schon gar nicht um seine Klassenzugehörigkeit. Stattdessen setzt er den Schwerpunkt auf das Prädikat „scharfsinnig“ – in den Augen Kracauers das A&O der ganzen Geschichte, deren einzelne, vielfach verästelte Handlungsstränge mitunter nur zu dem einen und einzigen Zweck ablaufen, nämlich die Scharfsinnigkeit des Detektivs unter Beweis zu stellen:
„Es hat seinen guten Grund, dass sowohl August Dupin wie Sherlock Holmes, ehe sie zur Bearbeitung der jeweiligen Fälle schreiten, spielerische Denkübungen vornehmen, die rein der Darbietung der Methode dienen. „Aber weshalb türkisch?“ fragt Holmes den eintretenden Watson. Watson versteht nicht, er meint, die Frage beziehe sich auf seine Schuhe; diese seien bei Latiner in der Oxford Schritt gekauft, antwortete er, also englisch, und Holmes – Holmes lächelt mit einem Ausdruck „milder Geduld“. Er lächelt müd und entwickelt dem schwerfälligen Trabanten die lange Kette von Überlegungen, die unwiderstehlich zu dem Schlusse drängt, dass Watson heute morgen in einer Droschke gefahren sei, nachdem er zuvor ein türkisches Bad genommen. Wie immer, so findet Watson nachträglich alles sehr plausibel und nun geht die eigentliche Geschichte an. Präludien dieser Art sind typisch und entkräften die sachliche Bedeutung der Entwirrung des Falles. Sie beweisen ästhetisch, dass der Detektiv nicht eingesetzt wird, um ein Verbrechen aufzudecken, sondern dass das Verbrechen geschieht, damit er den Zusammenhang des Mannigfaltigen stifte.“
Es geht also nicht darum, dass ein Verbrechen geschieht, wie, warum und durch wen, und schon gar nicht drehen sich Detektivgeschichten pauschal um die Demaskierung des Schwindlers im Gewand des ehrbaren Bürgers, und weisen damit eine „latent gegen den Mittelstand gerichteten Tendenz“ auf, wie Mises sich in Rage schreibt; sondern es geht um die Figur des
„großen Detektivs, der sich seines Könnens sicher ist und dem die Welt deshalb lediglich zur Quelle des Abenteuers, die Verbrecherjagd zum Selbstzweck und nervenanspannenden Sport werden“
wie Kracauer den Theoretiker Karl Lerbs zitiert. Oder, um es mit Sherlock Holmes selbst auf den Punkt zu bringen:
„Ich spiele das Spiel lediglich um des Spieles willen.“
Wenn Mises daher schlussfolgert:
„Das ist der Grund, weswegen die Detektivgeschichte bei den Leuten, die unter unerfülltem Ehrgeiz leiden, so populär ist. […] Sie träumen Tag und Nacht davon, wie sie an ihren erfolgreichen Konkurrenten Rache üben sollen.“
dann unterliegt er einer Fehldeutung: nicht der billige Neidreflex ist es, den der Detektivroman bedient, sondern die Begeisterung des Lesers für den Scharfsinn. Der Täter mag aus der Gosse kommen oder der besseren Gesellschaft entstammen, jung oder alt, attraktiv oder hässlich, eine Zier der menschlichen Rasse oder ein verabscheuungswürdiges Ekelpaket sein, es ist lediglich Beiwerk – Dekor, einzig und alleine dazu da, dem Helden des Stücks einen ansprechenden Rahmen zu bieten: dem Detektiv und seinem überlegenen Verstand.
Und daran hätte Mises, dessen Lehre von der Praxeologie ganz wesentlich auf der axiomatischen Annahme rationalen Handelns fußt, eigentlich seine Freude haben sollen. So aber wurde seine oberflächliche Abhandlung des Detektivromans nur zu einem kuriosen Kapitel in einem ganz und gar belanglosen Buch.