"So wie wir die kapitalistische Wirtschaftsweise kennen und erleben, hat sie zur Grundlage, daß die Gesellschaft in die beiden durch Besitz und Nichtbesitz von Erwerbsvermögen unterschiedenen gesellschaftlichen Gruppen "Kapital" und "Arbeit" auseinandergeschichtet ist, wobei erstere eine Minderheit, letztere die große Mehrheit bildet. Dieser Sachverhalt gestattet der ersteren Gruppe, die Initiative zu ergreifen und den Sozialprozeß der Wirtschaft zu organisieren, indem sie Angehörige der letzteren im Lohnarbeitsverhältnis in ihren Dienst nimmt. Bezeichnen wir die durch das Merkmal der von Besitz oder Nichtbesitz von Kapital gekennzeichneten Gruppen als "Klassen", so haben wir hier die "kapitalistische" Klassengesellschaft vor uns; sie liegt unserer kapitalistischen Wirtschaftsweise zugrunde, die ihrerseits wieder sehr dazu angetan ist, die ungleiche Verteilung von Vermögen ("Kapital") und damit den Charakter dieser Gesellschaft als Klassengesellschaft noch zu verschärfen."
Wer meint, dieses Zitat stamme von Karl Marx oder einem seiner neuerdings wieder recht zahlreichen Fans, der irrt: Diese Sätze stammen vom Nestor der katholischen Soziallehre Oswald von Nell-Breuning. Einer der bedeutendsten und beeindruckendsten christlichen Sozialethiker, die Deutschland je hatte, und damit jemand, der eigentlich auch im konservativen Lager als zitierfähig, wenn schon nicht sinngebend gelten müßte.
Nun legte die SPD also ihr Wahlprogramm auf den Tisch, eines, das auf den ersten Blick durchaus die Ethik Nell-Breunings aufgreift, eines, das man im besten Sinne des Wortes als „links-liberal" bezeichnen könnte, und die empörten Reaktionen der christlich-konservativen Republik sind heftig: „Ein tiefer Griff in die sozialistische Mottenkiste", schimpfen die einen, die gerade ihrer politischen Klientel aus Tegernsee-Villenbesitzern die Erbschaftssteuerfreiheit ihrer Pretiosen zugeschanzt haben; „Koalition? Mit uns keinesfalls!" empören sich die anderen, die unmittelbar nach der Wahl 2005 selbst nichts besseres zu tun hatten, als die größte Mehrwertsteuererhöhung aller Zeiten vom Stapel zu lassen; und alle zusammen haben dabei natürlich nur eines im Sinne, nämlich das Wohl der berühmten „Mitte" - nicht wahr? - den sprichwörtlichen Facharbeiter, die Krankenschwester, den Polizisten, mit einem Wort: den hart arbeitenden, ehrbaren Bürger dieses Landes, den die SPD mit ihren Vorschlägen jetzt weiter zu schröpfen droht, in ihrem „unverhüllten Linksruck", wie Ulf Poschardt, der selbsterklärte Guru der „Movers & Shakers" in seiner neuesten Wirkungsstätte lauthals dröhnt. Dass letzterer für das moderne "Geschmacksbürgertum" anderes im Sinn hat, als Nell-Breunig, ist bereits bestens bekannt und bedarf keiner weiteren Erörterung. Aber CDU/CSU? Was hätten die als angebliche "Volksparteien" gegen das SPD-Programm vorzubringen? Weiterlesen →