Für den nächsten Morgen haben wir uns für 6:45 Uhr zur Gymnastik verabredet. Eine kleine Meditation und Bewegungsübungen für ein wenig aus der Übung gekommene Männerkörper werden bereitwillig ausgeführt. Für Männer ist Gymnastik offenbar ein bisschen wie beten, irgendwie peinlich. In den Bewegungen scheint immer auch die Furcht mitzuschwingen, zu viel von sich preiszugeben. Frauen sind da vertrauter mit sich und können auch mit ihrem Körper, wie auch sonst oft, besser kommunizieren. (Wie vertraut sind Sie mit Ihrem Körper?)
Verglichen mit den üppigen Frühstücksbuffets in den üblichen Managerabsteigen kommt das Angebot auf der Meglisalp eher mager daher. Müsli, Brot, Butter, Milch, Joghurt, Käse, Marmelade. Das morgendliche Geläut der Kuhglocken vermittelt die Gewissheit, dass das Dargebotene besonders gesund ist. Ansonsten gibt es das übliche Gift: reichlich Kaffee und die ersten Zigaretten.
Noch vor 8:00 Uhr startet die erste Seminar-Session des Tages in unserer noch morgendlich frischen Studierstube. Durch verschnörkelte Bilderrahmen scheinen Bauerngesichter in Öl interessiert zuzuhören, was wir uns angereichert durch Anglizismen zu sagen haben.
Als Unternehmer in eigener Sache brauchen wir eine Vision und ein klares Mission Statement wie jedes große Unternehmen auch. „Wieso?“, fragt Klaus. – Zur Rückkopplung mit den eigenen Ressourcen. Zur Zündung des Afterburners gewissermaßen. Zum Beleg wird kein Geringerer als John F. Kennedy zitiert, der mit seinem Satz, „We choose to go to the moon“, die Apollo-Mission initierte, die die USA und die übrige Welt für ein Jahrzehnt in Atem hielt. Nicht weniger als 20 Mrd. US Dollar hat Kennedy mit diesen sechs Worten locker gemacht und die Anzahl der NASA-Mitarbeiter wuchs binnen fünf Jahren von 36’000 auf über 378’000. „So ein Quatsch“, sagt Klaus, „meine Erfahrung ist: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.“ Unter diesem Gesichtspunkt wäre die Mission des Kolumbus, den Seeweg westwärts nach Indien zu finden ein einziger Misserfolg gewesen; fährt los, um nach Indien zu kommen, und landet in Amerika! Offenbar sind manchmal die Misserfolge, die sich aus unseren Plänen ergeben, bedeutsamer als die angestrebten Erfolge. Hegel nennt das die List der Vernunft. Um dem Zufall eine Chance zu geben, sich zu ereignen, muss man den bequemen Hafen verlassen. Dafür braucht man ein Ziel und das ist Mission und Vision zugleich.
Doch nach den großen historischen Beispielen ist es eine kleine Geschichte, die schließlich überzeugt. Jemand kommt auf seine Baustelle und fragt nacheinander drei Arbeiter, was sie da gerade tun. Der erste sagt mürrisch: Das siehst Du doch, ich behaue einen Stein. Der zweite erwidert geschäftig: Ich baue ein Spitzbogenfenster. Und erst der dritte Arbeiter antwortet strahlend: Ich baue mit an einer Kathedrale. Jetzt ist auch Klaus bereit nach innen zu horchen und erste Formulierungen zu wagen. (Haben Sie ein Bild von Ihrer persönlichen Kathedrale?)
Nach drei Stunden verlassen wir unsere Klause für Kaffee und Zigaretten und rüsten uns für eine weitere „Dialogwanderung“. Wir wollen nicht nur einfach so durch die Berge steigen, sondern die Zeit mit gehaltvollen Gesprächen füllen. Wir starten also einen „Lebenslauf“ zur benachbarten Messmerhütte auf gleicher Höhe; nur dass ein fast 400 Meter hoher Bergrücken dazwischen liegt. Auf dem Weg dorthin ist der persönliche Lebenslauf mit seinen Tief- und Höhepunkten Gesprächsthema, wobei die eigene Biographie wie eine Geschichte erzählt wird. Im Erzählen entsteht oft eine Klarheit, in der Muster und Ressourcen zu Tage treten, mit der frühere Krisen erfolgreich bewältigt wurden und die auch bei der aktuellen Herausforderung zum Einsatz kommen können.
Als wir den Grat erreichen, findet die Wanderung ihr jähes Ende. Klaus wirft nur einen Blick in den Abgrund und geht keinen Schritt weiter. Peter fasst beherzt das Drahtseil, das den Wanderer beim Abstieg sichern soll, und geht ein paar Schritte. Da Klaus sein Veto bereits faktisch eingelegt hat, kostet Peter sein Mut nichts. Wir beschließen, etwas unterhalb des Grats zu rasten und genießen den phantastischen Rundblick auf die umliegenden Berge. Der Blick verfolgt den Weg bis weit ins Tal, von wo wir gestern aufgestiegen sind, und erkennt das Gleichnis. Der Weg wird zur Biographie, die uns bis zu diesem Aussichtspunkt gebracht hat, und unwillkürlich mustern wir die umliegenden Höhen nach lohnenden Zielen. Wenn da nicht diese Klippe wäre. Für heute haben Peter, Klaus und Günter genug. Wir steigen ab und jeder sucht sich ein sonniges Plätzchen, um seine Vision und Mission zu Papier zu bringen.
Nach dem Abendessen finden wir uns wieder unter den ernsten Ölaugen der Altvorderen in unserem schon düsteren Seminarraum ein. Wir sind bereits so vertraut miteinander, dass jeder bereit ist, seine Vision in der Gruppe zu präsentieren.
Peter traut sich wieder, sich ein großes und gut gehendes Unternehmen vorzustellen. Ihm ist deutlich geworden, dass er mit seinem alten Unternehmen nicht sein einzigartiges Wissen verloren hat. Er sieht sich nicht als Mit-Arbeiter an einer Kathedrale, sondern als Architekt eines innovativen Softwareunternehmens.
Klaus will nichts weniger als die Autorität für sein Beratungsthema in Deutschland werden, die von Politik, Wirtschaft und Verbänden vor allen Entscheidungen konsultiert wird. Raus aus dem operativen Geschäft und wieder hinein ins akademische Leben, wodurch seine bisherige Tätigkeit eine entscheidende Steigerung bekommen soll.
Georg hat beim „Lebenslauf“ erkannt, dass er wegen mangelnder Durchsetzungsfähigkeit bereits verschiedentlich in berufliche Krisen geraten ist, aus denen er sich mit Hilfe seines Gespürs für Menschen wieder herausgearbeitet hat. Das Motto, Stärken stärken und Schwächen schwächen, bestärkt ihn in dem Wunsch, sein Geschäftsfeld zu wechseln und Personalberater zu werden. (Können Sie Ihre persönliche Vision formulieren?)
„Wer Visionen hat, muss ins Krankenhaus.“ Das war gestern. Heute begeben wir uns um 23:00 Uhr in die Wirtsstube und trinken auf unsere Visionen. Draußen regnet und stürmt es. Doch das ist egal.
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