Das Unglaubliche fesselt seit Tagen unsere Aufmerksamkeit: In Amstetten trieb seit Jahrzehnten unbemerkt unter den Augen der Öffentlichkeit ein Werwolf in der Gestalt eines unscheinbaren Elektrikers sein Unwesen. Den Nachbarn zufolge war niemand der Geschehnisse gewahr, die sich dicht unter der Erdoberfläche des sauberen Städtchens über Jahre ereigneten. Ein unscheinbarer Mann hielt seine eigene Tochter 24 Jahre lang in einem Keller gefangen und zeugte mit ihr sieben Kinder. Österreichs Offizielle beeilen sich zu versichern, dass dies die schreckliche und unsägliche Tat eines einzelnen psychopathischen Kriminellen gewesen ist.
Wir Zuschauer blicken auf das hier offenbare Böse wie auf ein gefangenes wildes Tier im Zoo. Wenn es ausbricht, muss es von den Behörden gestellt und schnellstmöglich hinter Gitter gebracht werden. Dabei ist das Böse in uns. Denken Sie an Leonardo da Vincis Fresco, Das Letzte Abendmahl, in der Santa Maria delle Grazie in Mailand. Es zeigt Christus umgeben von seinen Jüngern am Tag vor der Kreuzigung. Es ist die Szene, in der er den Verrat durch einen seiner Getreuen ankündigt. Und die Reaktion? Jeder der Jünger fragt Meister, bin ich’s? Ängstlich und ungläubig hält jeder, obwohl dem Heiligen so nahe, sich selbst für fähig, diesen Verrat zu begehen.
Und dann die Erleichterung: Es ist Judas – nicht ich. Das Biest – er ist es. Ich bin noch immer der gute Jünger. Nun prescht Petrus nach vorne: Herr, Ich will mein Leben für Dich lassen. Der kündigt ihm jedoch sein dreimaliges Verleugnen vor dem ersten Hahnenschrei an. Während Judas sich mit seinem Verrat an den nächsten Baum aufknüpfte, wurden dem Verräter Petrus die Schlüssel zum Himmel anvertraut.
Es gibt das Gute nicht ohne die Fähigkeit zum Bösen. Beides gehört zusammen wie Licht und Schatten. Was irritiert ist, dass gut und böse voneinander nicht getrennt sind und der eine gut und der andere böse wäre. Nein, gut und böse sind so eng zusammen wie die Bedeutungen des lateinischen sacer, was heilig und verflucht bedeutet.
Glücklicherweise befindet sich das Biest von Amstetten nun in sicherem Gewahrsam. Aber sind wir wirklich sicher, dass da nicht noch ein Werwolf in uns sitzt, der nur darauf wartet, bis seine Zeit gekommen ist?
Eine schöne Woche &
Carpe Diem
Ihr Ralf Borlinghaus
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