Von Zeit zu Zeit erlaube ich mir mit diesem Blog Seitensprünge: über das Feld des Comics hinaus, in verwandtes Terrain, so etwa das der Illustration. Im Englischen nennt man das ja eh alles „Cartoon“. Und in der Tat haben Comic, Karikatur, Illustration, Grafikdesign viel gemeinsam. Vor allem durch wechselseitige Inspiration.
Christoph Niemann, wohnhaft in Berlin, aber tätig vor allem für amerikanische Medien, ist in meinen Augen der einfallsreichste Illustrator unserer Zeit. Das verdankt er der Fähigkeit, eigene Einfälle mit Einflüssen der Besten aus allen Sparten zu kombinieren. Man nehme nur sein Geschick bei Bildcollagen – das hat Tomi Ungerer auch schon gemacht, aber Niemann gibt durch seine markant-dicke Konturlinie den collagierten Motiven einen unverkennbar individuellen Touch. Man erkennt Niemanns Arbeiten leichter als die ungerschen. Und Wiedererkennbarkeit ist ein wichtiger Faktor im Illustrationsgeschäft.
Andere bedeutende Vorbilder für den Heinz-Edelmann-Schüler sind Saul Steinberg, Sempé, Chip Kidd, Chris Ware, also Cartoonisten aller anfangs genannten Sparten. Und Niemann ist denn auch selbst in allen tätig (und erfolgreich). Auch im Comic? Aber ja. Man denke nur an seine grandiosen graphischen Reportagen von einem Marathonlauf. Oder über einer albtraumartige Flugreise. Und auch im jüngsten Buch von Niemann gibt es bestechende Bildsequenzen, die Comicprinzipien näher stehen als allem anderen.
„Idea Diary“ heißt dieses Buch, und wenn einige niemannkundige Leser dieses Blogs sich wundern sollten, wie es ihnen hat entgehen können, mag das daran liegen, dass sie wie ich in klassischen Verlagskategorien denken. Niemanns erstes weltweit erfolgreiches Buch, „Alphabet City“, erschien 2012 beim amerikanischen Abrams Verlag, und Knesebeck brachte die Übersetzung heraus. Bei „Sunday Sketching“ war es noch einmal genauso. Dann schlug aber auch schon der deutschsprachige Verlag zu, der die größte Illustrationstradition aufzubieten hat (und die besten Autoren: Steinberg, Ungerer, Sempé, Waechter, Loriot, Chaval, Bosc etc.): Diogenes. „Souvenir“ hieß Niemanns erstes Buch dort, und es war ein Augenschmaus in jeder Hinsicht. Seitdem ist der Illustrator dem Zürcher Verlag verbunden, auch als Umschlaggestalter, und mit „Away“ erscheint kommende Woche ein Buch, das ähnlich schön werden dürfte wie „Souvenir“. Doch „Idea Diary“ ist nicht bei Diogenes im Programm.
Sondern bei Christoph Niemanns eigenem Verlag, Abstractometer Press. Denn dieser Mann beherrscht nicht nur seine Kunst, sondern auch sein Geschäft. Die großen Häuser wollen das Leichtverkäufliche, Gefällige (wenn auch weiterhin Fulminante), also die wunderbaren Aquarelle mit romantischen Reiseimpressionen oder die meisterlich hingeworfenen Porträts. Aber mit der graphischen Strenge, die Niemanns beste Cartoons auszeichnen, erreicht dieser Könner die Kenner, und deren gibt es weniger. Für sie gibt es aber auch weniger Angebot, und in diese Lücke ist Niemann einfach selbst vorgestoßen: Sieben Bücher hat er bereits in Eigenregie herausgebracht, und eines ist beeindruckender als das andere. Die Preise sind durchaus stattlich: von dreißig bis hundert Euro. „Away“ wird übrigens 49 kosten, doch „Idea Diary“ liegt mit 85 noch um einiges jenseits. Aber es ist jeden Cent wert.
Auch der comicartigen Passagen wegen. In der Leseprobe von Niemanns Website, IDEA DIARY – Christoph Niemann Shop, kann man davon nichts sehen. Aber man dürfte sofort erkennen, mit was für einem Vergnügen und Witz da gezeichnet wird. Die Geniestriche von Christoph Niemann zu beschreiben, ohne sie zu zeigen, ist Hybris, deshalb hier nur zwei Ideen, die ich in ihrer Einfachheit brillant finde (und die ein gemeinsames Motivelement aufweisen): einmal eine zweiteilige Sequenz, deren erstes Blatt „last year“ untertitelt ist und einem Mann zeigt, auf den es herab regnet – eine simple Zeichnung, die die Tropfen als kurze Striche zeigt. Dann kommt das zweite Blatt: „this year“, und der Mann und die Regenwolke sind noch da, doch die Striche der Regentropfen stecken nur wie Nadeln im Körper des Unglücklichen. Nicht nur, dass es eine geniale Verschiebung des Bildinhalts bei identischer Ikonographie ist – einen böseren Kommentar zum Leben in unserer Epoche habe ich auch noch nicht gesehen.
Oder auch das Einzelbild eines Kamels als rote Konturzeichnung, doch an mehreren Stellen führt die Linie durch die Ösen von Nadeln. So virtuos widerlegt man ein Bibelwort: Diese Kamel geht nicht nur durch ein Nadelöhr, es geht durch deren sieben. Und es gibt etliche derartige Glanzideen, etwa die beiden Hände mit Stricknadeln (warum nicht noch einmal Nadeln?), mittels derer sie die Stahlstruktur des Eiffelturms herstellen. Oder eine Marionette, die mit losen Fäden am Boden liegt, aber in einer Hand noch ein Smartphone hält, das übers Ladekabel an eine Steckdose angeschlossen ist. Wie wir alle an Fäden hängen, wie man uns als Puppen tanzen lässt und wie die eigene Selbständigkeit weniger bedeutsam ist als die Teilnahme an immerwährender Kommunikation – das alles sagt diese Zeichnung aus.
Als Bildergeschichten möchte ich nur die sechsteilige einer Frau erwähnen, die sich aus ihrem anfangs kahlen Kopf Haare hervorkämmt, mit denen sie schließlich das ganze Bild so füllt, dass sie selbst unsichtbar wird. Es ist ein einem Escher würdiger Einfall, denn Niemann mit der Strenge eines Op-Art-Künstlers umsetzt. Und nun genug des Lobs, denn wenn ich alle Inspirationen und Assoziationen aufzählte, die mir durch den Kopf gehen, würde dieser Blog noch längst nicht publiziert sein. Und ich fürchte, dass ich eh nur einen Bruchteil dessen erfasse, was sich Christoph Niemann denkt.