Manuele Fior ist neben Gipi der große italienische Zeichner der mittleren Generation, und wie man auf der ihm gewidmeten Ausstellung beim diesjährigen Comicfestival Fumetto in Luzern einmal mehr sehen konnte, der stilistisch vielseitigste. Umso überraschender ist, wenn er sich inhaltlich wiederholt wie in seinem neuesten Band „Hypericum“. Nicht, dass jetzt jemand vermutete, dieselbe Geschichte zu lesen wie früher, aber für Fior ist schon ungewöhnlich, dass er einen Handlungsort und ein Handlungsmotiv zum zweiten Mal verwendet. Es ist Berlin, es sind junge Italiener in Berlin.
Dort war nämlich schon Fiors mittlerweile achtzehn Jahre zurückliegendes Debüt angesiedelt: „Menschen am Sonntag“, betitelt nach dem berühmten Spielfilm von 1930, der vom sicherlich prominentesten Regiequartett der Filmgeschichte inszeniert wurde, bestehend aus den Brüdern Siodmark, Edgar G. Ulmer und Billy Wilder. Der ebenso poetische wie pittoreske Stummfilm feierte das Leben der kleinen Leute im Berlin der Weimarer Republik, und Fior nahm ihn sich zum Vorbild bei der Schilderung seines eigenen Lebens in der deutschen Hauptstadt zwischen 2000 und 2005. Bei ihm bevölkerten denn auch keine indigenen Berliner die schwarzweißen Seiten, sondern italienische Protagonisten.
Das ist in „Hypericum“, der wiederum beim Avant Verlag erschient, nun genauso, wobei sich nicht nur die farbenfrohe Graphik drastisch vom Vorgänger unterscheidet (die eher sparsame Leseprobe zu „Menschen am Sonntag“: Menschen am Sonntag – avant-verlag, die sehr großzügige zu „Hypericum“: Hypericum – avant-verlag), sondern auch das Personal diesmal auf zwei Personen beschränkt. Da ist einmal die gerade frisch aus Italien nach Berlin gekommene Archäologiestudentin Teresa, die eine Stelle als Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei einer bevorstehenden großen Tutanchamun-Ausstellung antritt. Das alte Ägypten ist der von Schlaflosigkeit geplagten jungen Frau vertrauter als das moderne Berlin, und so wird ihr ein schon länger dort lebender Landsmann zum Cicerone durch die Stadt: der im Tacheles wohnende Lebenskünstler Ruben, mit dem sich bald eine Liebesbeziehung entwickelt. All das spielt sich wieder um die Jahrtausendwende ab, zu jener Zeit also, die Fior aus eigener Anschauung kennt – obwohl es damals gar keine Tutanchamun-Ausstellung in Berlin gab. Aber für seine Fiktion braucht Fior sie.
Denn die zweite Handlungseben seines Comics ist eine Adaption der Schilderungen von Sir Howard Carter von der Auffindung von Tutanchamuns Grab Ende 1922 und dessen Öffnung im darauffolgenden Februar. Teresa liest diese berühmte Publikation in Berlin, und Fiors Bilder dazu sind nicht einfach ihren Erlebnissen zwischengeschaltet, sondern rahmen „Hypericum“. Und sie geben dem Band auch den Titel, denn das, was Carter am meisten von allen Grabbeigaben beeindruckte, war ein nach Jahrtausenden noch immer erhaltener Blütenkranz aus dem Sarkophag des jugendlich gestorbenen Pharaos, gefertigt aus Johanniskraut, botanisch Hypericum perforatum – einer Heilpflanze, die Ruben auch Teresa zur Bekämpfung von deren Schlafstörungen empfiehlt.
Fior ist diesmal stilistisch ganz nahe an Igort gerückt, seine Pastelltöne sind warm gehalten und unterstreichen sowohl die Wüstenstimmung der Ägypten-Partien als auch die romantischen Züge der Berlin-Erzählung. Gegen die karge Landschaft des Tals der Könige wird das das noch faszinierend unfertige wiedervereinigte Berlin gesetzt, in dem ein Punk wie Ruben sein Dasein aber auch schon nur deshalb fristen kann, weil er von seinem wohlhabenden Vater finanziell unterstützt wird. Die suggerierte Freiheit des jungen Mannes ist ebenso Illusion wie der ganze Zauber des Berliner Lebens, dessen Schilderung bezeichnenderweise mit dem 11. September 2001 endet, dem Tag der Attentate aufs World Trade Center – Ende jenes Dutzends Jahre, in denen man die Welt auf dem richtigen Weg wähnte.
Trotz der für Fior typischen Soft-Erotik mancher Sequenzen, wie sie sonst nur Jean-Pierre Gibrat ähnlich geschmackssicher und doch auch geschmäcklerisch zeichnet, ist „Hypericum“ eine große Desillusionierungsgeschichte mit einem allerdings erstaunlich sanften Finale. Alles spricht dafür, dass Teresa und Ruben zusammenbleiben werden, und da berührt sich der Band dann doch wieder mit „Menschen am Sonntag“, der eine ebenso wehmütige Bilanz von Fiors Berliner Erfahrungen bot, die hier jedoch vom Autobiographischen aufs rein Fiktive übertragen wird. Und diese Variation des Vertrauten wird den Autor gereizt haben. Sie dürfte auch für sein Publikum den größten Reiz ausmachen, denn etwas Neues gibt es diesmal bei Fior nicht.
Hand aufs Herz: Wer kennt Alice Guy? Nun sind wir hier unter Comiclesern, und die müssen nicht notwendig eine Filmregisseurin kennen, aber so weit liegen diese beiden Interessengebiete meiner Erfahrung nach nicht auseinander, und überhaupt könnte man ja wenigstens die wichtigsten Protagonisten der Kinogeschichte namentlich genauso gut kennen wie die der Comicgeschichte. Aber hat denn schon jemand etwas von Alice Guy gehört?
Vielleicht künftig doch gerade Comicfreunde, denn vor zwei Jahren ist in Frankreich eine voluminöse Comicbiographie der Regisseurin erschienen, die nun ins Deutsche übersetzt worden ist, geschrieben von einem Mann, José-Louis Bocquet, und gezeichnet von einer Frau, Catel Muller alias Catel. Beide sind namhafte Autoren in unserem Nachbarland und seit ihrem vor einem Dutzend Jahren erschienenen Band „Kiki de Montparnasse“ auch hierzulande zumindest wahrgenommen. Damals war ihr „Kiki“-Comic einer der Ersten, die sich mit den stiefmütterlich behandelten Frauenfiguren der Kunstgeschichte beschäftigten, heute ist ihr „Alice Guy“ einer von vielen derartiger Bände. Aber er ragt trotzdem heraus.
Einmal vom Umfang her. Der Wikipedia-Eintrag zu Alice Guy, verheiratete Blaché, ist stattlich, aber belanglos im Vergleich mit diesem Comic, der neben seinen mehr als dreihundert gezeichneten Seiten auch noch weitere fünfzig mit Chronik und Kurzbiographien der darin auftretenden Persönlichkeiten bietet – ein veritables Lexikon des frühen Films, denn Alice Guy gehörte zu den Allerersten, die Filme drehten, und ihr wird sogar der früheste Spielfilm zugeschrieben, nachdem die Lumières und andere Pioniere nur kurze Szenen aufnahmen, die keinem elaborierten Handlungskonzept folgten.
Guy dagegen, die als Stenotypistin für den späteren Filmmogul Léon Gaumont begann, als der sich noch gar nicht selbständig gemacht hatte und dann von ihm jahrelang als Regisseurin beschäftigt wurde, drehte 1896, also nur ein Jahr nach der offiziellen Geburt des Kinos, „La Fée aux choux“, eine satirische Version der Geschichte von aus Kohlköpfen geborenen Kleinkindern (die französische Version des Mythos vom Klapperstorch). Und zehn Jahre später machte sie sich auf den Weg in die USA, wo sie als Französin daran mitarbeitete, Frankreich den Rang als führende Filmnation streitig zu machen. Sie gründete in den Vereinigten Staaten sogar ihr eigenes Studio. Später aber wurden alle ihre Leistungen Männern zugeschrieben, Alice Guy geriet in Vergessenheit; sie starb 1968 im Alter von 94 Jahren, tief enttäuscht darüber, dass ihre Rolle von den Kinogeschichtsforschern nicht gewürdigt worden war.
Catel zeichnet dieses Leben in Schwarzweiß, wie es auch die Filme von Alice Guy waren (wobei sie schon kräftig viragieren ließ). Und sie nutzt dabei einen Stil, der sehr gefällig daherkommt und gerade dadurch eine dokumentarische Objektivität erzeugt, die bei einem stark individualisierten Erscheinungsbild nicht evoziert worden wäre – hilfreich bei einem Comic, der den Anspruch eiens Sachbuchs hat. So sieht das aus: Splitter Verlag – Comics und Graphic Novels – Alice Guy (splitter-verlag.de), ein bisschen, als hätte Seth den Band gezeichnet (auch die mit Architekturzeichnungen versehenen Vorsatzpapiere sehen nach ihm aus), aber dieses Nostalgiegefühl passt ja nur zu gut. Textreich ist der Band auch in seinen Comicteilen, und die Übersetzerin Antje Riley hatte einiges zu tun. Sie hat es gut getan.
Dass „Kiki de Montparnasse“ noch bei Carlsen erschienen war (wie auch Catels Comicbiographie des “Asterix”-Autors René Goscinny, Das Leben des Witzigsten war nicht witzig – Comic (faz.net)) und „Alice Guy“ jetzt bei Splitter herauskommt, sagt einiges aus: über den Teilrückzug Carlsens aus dem Segment des Autorencomics und über das Geschick, mit dem der sonst meist aufs populäre Genregeschäft kaprizierte Splitter Verlag immer wieder einzelne erzählerische Glanzlichter in seinem Programm zu setzen versteht. Dass ein Band über eine bislang unzureichend gewürdigte Frau wie Alice Guy große Verkaufschancen bietet, ist klar. Allerdings sind 45 Euro als Verkaufspreis auch ein Wort.
Aber der Band ist es wert. Bocquet erzählt streng chronologisch, und auf den Einstieg von Alice Guy in deren Metier wird ungleich mehr Raum verwendet als auf die spätere Karriere. Herangezogen hat der Szenarist Bocquet dazu Material, das der 2008 gestorbene Filmwissenschaftler Francis Lacassin zusammengetragen, aber nur für kürzere Artikel verwendet hatte. Sein Anliegen, Alice Guy Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, kam zu früh, doch nun setzt Bocquet, der Lacassin noch kennengelernt hatte, um. Zwei Männer brauchte es also doch wieder einmal, aber Catel macht durch ihre klare Graphiksprache den Band dann doch mehr zu ihrer und damit zu einer Frauensache. Beim Comic sind durchaus auch noch Entdeckungen zu machen, wenn es ums Beschweigen weiblicher Leistungen geht. Diese hier ist beachtlich, und man kann nicht früh genug anfangen, darüber zu reden.
Meines Wissens hat dieser Comic in Deutschland wenig Beachtung gefunden, dabei ist er ein profunder Einblick in die Mechanismen der Politik. Gut, der amerikanischen Politik, zudem auf Bundestaatsebene (New York) und am Beispiel einer hierzulande unbekannten Politikerin namens Julia Salazar. Ein Jahr lang hat Sofia Warren, eine junge Zeichnerin, die aber schon für den „New Yorker“ arbeitet, Salazars Arbeit begleitet: zunächst ihre Kampagne im Senatswahlkampf von New York und dann ihre ersten Monate als Abgeordnete im Bundestaatsparlament der Hauptstadt Albany. Dabei drehte sich Salazars Engagement als Vertreterin eines Wahlkreises aus dem New Yorker Stadtteil Brooklyn vor allem um die Frage des Mieterschutzes.
Das klingt schon interessanter für hiesiges Publikum, denn worum gäbe es auf kommunaler Ebene derzeit mehr Streit als eben um die Wohnungsnot. Nun ist die amerikanische Situation schwer übertragbar, und doch sind die Probleme ähnlich. Salazar kandidierte als „sozialistische Demokratin“, als für den linken Flügen von Joe Bidens Partei, allerdings noch zu Zeiten der Präsidentschaft von Donald Trump. Der Comic deckt den Zeitraum von Sommer 2018 bis Dezember 2019 ab.
Er heißt „Radical“ – My Year with a Socialist Senator“, aber graphisch ist er alles andere als radikal, wie man sich auf Sofia Warrens Website ansehen kann: Radical — Sofia Warren. Konventioneller gezeichnet geht es kaum (auch Warrens Kollegin Sarah Glidden hat ihre Comicdokumentationen schon in diesem Stil gezeichnet), aber das schadet nichts, denn die semirealistische Mainstream-Ästhetik lenkt nicht von dem ab, wovon erzählt wird, und das ist ein komplexes Geflecht von Interessen und Einflussnahmen, bei dem das Team um Salazar viel mehr in den Mittelpunkt als die Abgeordnete selbst. Am Ende versteht man einiges von grassroots politics, wie sich auf lokaler Ebene immer wichtiger werden, und sogar etwas vom amerikanischen Mietrecht.
Bisweilen ist das harte Kost, und warum sich kein deutscher Verlag für die Übersetzung der 320 Seiten interessiert hat, wird damit klar. Aber immerhin ist „Radical“ bei Top Shelf erschienen, dem wichtigsten Independent-Comicverlag der vereinigten Staaten; eine Empfehlung ist das allemal. Trotzdem hat es seit der Publikation mehr als ein Jahr gedauert, bis ich das Buch gesehen habe: Ein Bekannter brachte es mir von einer Amerikareise mit. Danke, Herr Pruggmayer!
Sofia Warren hat viel von Joe Sacco gelernt, vor allem auch die Einbeziehung ihrer eigenen Person in die Geschichte. Comicjournalismus deckt die Umstände seiner Entstehung konsequenter offen als die andere Berichtsmedien, ist meist auch persönlicher gehalten – an der Sympathie von Warren für Salazars Politik lässt das Buch keinen Zweifel.
Große Politik spielt nur insofern eine Rolle, als Trumps Wahlsieg von 2016 ein Startschuss für viele junge Menschen war, um aus Widerstand gegen den neuen Präsidenten und dessen Agenda in die Politik zu gehen. „Radical“ ist also die Situationsaufnahme einer anderen Konstellation als heute, und dass die beobachtete Zeitspanne vor der Pandemie lag, macht die Darstellung zusätzlich historisch, obwohl der Abstand so gering ist. Am Schluss, im letzten Panel, hat Sofia Warren ihren Arbeitstisch verlassen und kündigt an, künftig vielleicht noch etwas anderes tun zu wollen, als nur zuzuschauen. Aber ich gebe zu, dass ich neugieriger wäre, von ihr eine Aktualisierung zu bekommen. Julia Salazar war 2018 erst achtundzwanzig und ist seitdem wiedergewählt worden, ihre noch jugendliche Begeisterung könnte sich im Räderwerk von Albany abgenutzt haben, aber wie auch immer: Es wäre interessant, aus „Radical“ ein Langzeitprojekt zu machen. Das gibt es noch nicht auf dem Feld der Comicdokumentationen. Sofia Warren wäre selbst jung genug, um es anzugehen.
Andreas Eikenroth hat eine Leidenschaft entwickelt. Für Georg Büchner, wie Leser dieses Blogs wissen dürften (Hobelspanerschütternd – Comic (faz.net)). 2019 kam eine Comicadaption vom „Woyzeck“ heraus, dann zwei Jahre später die des „Lenz“, jetzt ist „Dantons Tod“ erschienen. Viel mehr hat Büchner nicht zu bieten. „Leonce und Lena“ böte sich noch an, aber da habe ich kürzlich eine Einsendung beim Leibinger-Comicbuchpreis gesehen, die auch sehr gut war – und nicht von Eikenroth. Mit etwas Glück kommt sie als Buch (was dann wohl etwas Pech für Eikenroth wäre, aber die Kampfschriften aus dem „Hessischen Landboten“ könnten ja auch eine interessante Vorlage abgeben).
Doch warum in die Ferne schweifen? Jetzt ist Zeit für „Dantons Tod“, Büchners Revolutionsdrama, das einige burleske Züge bietet, denn die Hauptperson ist ein Lebemann, der sein umstürzlerisches Leben mit so mancher Sottise selbst zu bespötteln weiß, denn Wein, Weib und Gesang sind ihm durchaus eine Unterlassungssünde wert. Die Dialoge dieses – wie alles von Büchner – zu Lebzeiten des Autors nie aufgeführten Stücks sind dementsprechend deftig, und mehr als bei den anderen Fragmenten ist hier ein Bruch mit der deutschen Bühnentradition zu spüren, indem Büchner die Formen mischt und die Moral hintanstellt. Kleist war Inspiration, aber Büchner geht weit über ihn hinaus.
Elias Canetti war, wie man in seiner Autobiographie lesen kann, so erschüttert von Büchner wie von keinem anderen Schriftsteller. „Dantons Tod“ aber kommt bei Canetti nicht vor, während Eikenroths Vorgänger-Vorbilder, „Woyzeck“ und „Lenz“ für den späteren Literaturnobelpreisträger die wichtigsten Einflüsse waren. Wie ist nun zu beurteilen, dass Eikenrotdterst die beiden allgemein als Büchners zentrale Texte angesehenen Werke adaptierte und dann erst „Dantons Tod“? Teilt er Canettis Vorlieben und rundet nun sein Portfolio nur noch ab? Oder brauchte er die beiden anderen Comics als Anlauf zu diesem? Ich neige zur letzteren These.
Nicht der Graphik wegen. Eikenroth hatte seinen Stil schon vor der Büchner-Trias gefunden, und „Dantons Tod“ fügt seinem Markenzeichen der offengestalteten Comicseiten ohne Panel-Umrahmungen nichts hinzu. Diese Form ist allerdings von Reiz im Kontext einer Dramen-Adaption, weil sie eine Gleichzeitigkeit suggeriert, die ja auf der Bühne gerade nicht existiert – der Comic geht also in seinen Darstellungsmitteln über das Theater hinaus, schafft Nachbarschaften (zeitlicher, räumlicher und personeller Art), von denen Büchner sich nichts hätte träumen lassen (aber es sicher gern getan hätte). Die Leseprobe des Verlags, DANTONS-TO-_-Leseprobe-_0.pdf (edition52.de), führt es anhand einer Sitzung des Jakobinerclubs vorbildlich – no pun intended – vor.
Diesmal ist Eikenroth etwas weniger karikaturesk, aber auch das überrascht nicht, denn zu allen beteiligten gibt es ja eine Vielzahl von Bildquellen. In einem schmalen Anhang bietet der Band aus der Edition 52 Einblick auch in die Skizzen zur Figurenentwicklung, und da kann man sehen, dass Eikenroth durchaus das historische Bildquellematerial heranzog. Sympathisch wird einem ganz wie in Büchners Original eigentlich keiner der Akteure, am ehesten noch Desmoulins‘ treue Camille, aber eine vergleichbar unheimlich-unbegreifliche und dabei doch vertraute Figur wie etwa die Marie aus dem „Woyzeck“ ist Büchner hier nicht geglückt. „Dantons Tod“ ist ein historisches Lehrstück, kein Psychodrama. Und genau deshalb erfordert es mehr Geschick als bei „Woyzeck“, wenn es heute noch jemand interessant machen will.
Das weiß Eikenroth, und er nimmt das Drama für bare Münze, wählt meist klar definierte Bühnenräume, bringt auch die kleinen Nebenrollen mit ein (die Pariser Straßenstimmen) und hat eine Farbdramaturgie entwickelt, die konsequenter ist als bei seinem „Lenz“ (der bunter war) und dem „Woyzeck“ (der intensiver war). In „Dantons Tod“ ist das Scheitern der Revolution schon mitgedacht. Und die anzüglichen Stellen des Textes bringen eine private Komponente ins öffentliche böse Spiel, die hier in einer Aggre3ssivität bebildert wird, die bislang auch in Eikenroths Schaffen noch keinen Platz hatte.
Vom Text ist sehr viel übernommen, aber dafür eignen sich Bühnenvorlagen bei Comic-Umsetzungen ja auch besonders. Nicolas Mahler hat einmal gesagt, dass er Theaterstücke viel schwieriger zu adaptieren fände als Romane, weil sie ihm keine Freiheit der Auswahl gewährten – Eikenroth macht daraus eine Tugend. Man wird tatsächlich mit Büchners Vorlage leichter umzugehen verstehen, wenn man diese Version gelesen hat. Ich fürchte dennoch, dass sie nicht Schullektüre werden wird, aber das ist der originale „Dantons Tod“ ja auch nicht. Dass Eikenroth beim lesen Lust macht, dieses Stück mal wieder auf der Bühne zu sehen und zwar gerne so klassisch inszeniert wie hier im Comic, weil dann die Texte besser zur Geltung kommen als beim üblichen Regietheater-Gebrüll und -Gemenge, das ist doch schon eine Leistung. Vielleicht doch noch „Leonce und Lena“ und damit also mal etwas richtig Komisches?
Jan Blažek wurde 1977 geboren, mehr als dreißig Jahre nach Kriegsende. Als er studierte, war seine Heimat, die Tschechoslowakei, den Zwängen des Warschauer Pakts entkommen. Damit gehört der tschechische Dokumentarfilmer einer Generation an, die unbefangen auf die Vergangenheit blicken konnte, vor allem auf die Verbrechen an der deutschstämmigen Bevölkerung nach der Befreiung der von den Nazis zerschlagenen und teilbesetzten Tschechoslowakei. Den Zorn der Tschechen auf die Besatzer wird jeder verstehen, die Exzesse an der seit Jahrhunderten dort ansässigen deutschen Volksgruppe – Vertreibung, Plünderung, Mord – sind dennoch der Tiefpunkt tschechischen Geschichte.
Blažek hat Stimmen von deutschen Zeugen der damaligen Aktionen gesammelt und auf der tschechischen Website „Memory of Nations“, die historische Ungerechtigkeiten dokumentiert, imNetz zugänglich gemacht (Memory of Nations). Doch damit nicht genug. Von dem Schriftsteller Marek Toman ließ er fünf dieser dokumentierten Erinnerungen zu Szenarios von Comics umarbeiten, die dann von tschechischen Zeichnerinnen und Zeichnern als Comics umgesetzt wurden. Vor zwei Jahren erschien die Originalausgabe beim Prager Verlag Post Bellum. In der Übersetzung von Raija Hauck hatte der Balaena Verlag aus Landsberg am Lech auf Deutsch schon wenig später nachgezogen.
Leider ist das bislang nicht breit bekannt geworden, der deutsche Verlag bietet nicht einmal eine Leseprobe, und auch vom tschechischen Original gibt es nur spärliche Eindrücke im Netz zu sehen: Odsunuté děti, Marek Toman / Jan Blažek (pametnaroda.cz). Dabei ist das Comicprojekt vorbildlich und auch ästhetisch durchaus reizvoll. Die reichste Anschauung erhält man als Zugabe zu einem Radio-Interview mit Blažek: Comic-Buch: Deutsche Zeitzeugen erinnern sich an ihre Kindheit in Böhmen und in Mähren | Radio Prague International. Eine der fünf Episoden, gezeichnet von Stanislav Setinský nach Erinnerungen von Kurt Kempe, erhielt 2021 den tschechischen Muriel-Comicpreis, und das gesamte Buch wurde im selben Jahr in die Liste der besten Kinderbücher des Landes aufgenommen.
„Kinderbuch“? Ja, insofern als wir es mit den Erinnerungen von heute greisen Menschen zu tun haben, die unmittelbar nach dem Kriegsende aber Kinder waren – andere Zeitzeugen leben ja kaum mehr. Also ist auch die Perspektive auf die damaligen Schrecken eine kindliche und deshalb besonders eindrucksvoll, weil das Unbegreifliche darin aufgehoben ist. Zugleich erzählten die sechs ehemaligen deutschen Kinder – vier Männer (neben Kempe noch Franz Gruss und zusammen erzählend Emil Baierl und Friedrich Reithmeier) sowie zwei Frauen (Rosemarie Kraus und Annelies Hennig), deren Zeugnisse dann als Comics umgesetzt wurden (die Männergeschichten von Zeíchnern, die Frauengeschichten von Zeichnerinnen) – auf der Grundlage ihrer Erfahrungen seither, also als längst in Deutschland lebende Vertriebene, die auch über Aussöhnung oder Unverständnis berichten. Kinder können dieses Buch verstehen, aber Erwachsene brauchen nicht zu befürchten, dass es zu schlicht gehalten ist.
Die geschilderten Erlebnisse sind so unterschiedlich wie die verwendeten Zeichenstile: Jakub Bachorík, Magdalena Rutová, Františka Loubat, Jindřich Janíček und eben der schon erwähnte Setinský bringen ihre jeweils eigenen graphischen Vorstellungen ein. Janíček zum Beispiel legt seine Bilder malerisch an, Rutovà verwendet linolschnittähnliche Formen. Farben und Schwarzweiß wechseln ab, aber es dominieren in ersterem Fall gedeckte Töne, die die Kälte des Geschehens dokumentieren. Aber auch Menschlichkeit kann man erfahren in den Erinnerungen, auch wenn niemandem der fünf Deutschen der Heimatverlust erspart geblieben ist – und einige von ihnen nahe Angehörige während der Vertreibung sterben sehen mussten. In den Comics wird ein Schrecken sichtbar, denn man sich kaum vorstellen kann, und der doch wieder aktuell ist in diesen Kriegszeiten, zu denen in der Ostukraine auch Vertreibungen gehören.
Man sollte als Comicleser und -sammler nicht umziehen. Zumindest nicht, wenn man dem Heftalter entwachsen ist, und das ist bei mir schon eine Weile so. Alben sind schwer, und die in den letzten beiden Jahrzehnten weltweit populär gewordenen Gesamtausgaben von Comicklassikern oder solchen, die es einmal werden sollen (auch dafür ich eine Gesamtausgabe gut), sind noch schwerer, und zudem trennt man sich ja dann doch nur selten von den schon vorhandenen Einzelausgaben. Kurt: Ich sitze abends im Chaos von unausgeräumten Bücherkartons und noch planlos aufgestapelten Comics auf dem Fußboden in meiner Wohnung, in die all das überführt werden musste, was sich binnen achtzehn Jahren in der alten angesammelt hatte und dort viel leichter unterzubringen gewesen war als hier.
Aber ist habe zumindest eine Wohnung, und was das fürs menschliche Wohlbefinden bedeutet, kann man aus einem eindrucksvollen Bildreportagebuch erfahren, das Sebastian Lörscher kürzlich beim Berliner Jaja Verlag veröffentlicht hat: „Schatten der Gesellschaft“. Man merkt es schon an meiner Wortwahl: Ein reiner Comic ist das nicht, aber wer meine zwei alten Blog-Einträge, die bislang schon Sebastian Lörschers von mir bewundertem Werk galten (Indien im roten Rahmen – Comic (faz.net), Muskelzuwachs garantiert – Comic (faz.net)), noch vor Augen hat, der weiß, dass der 1985 geborene Autor sich längst weit vom traditionellen Comicverständnis entfernt hat zugunsten einer Textbildkombination, die daraus genauso schöpft wie aus der Bilderbuchästhetik. „Graphische Geschichten“ nennt er das selbst ganz einfach, wie man auf seiner Website erfahren kann: Graphische Geschichten – Sebastian Lörscher (sebastian-loerscher.de).
Lörscher versteht sich als Alltagsbeobachter, und er war dafür bisweilen schön weit unterwegs gewesen: in Indien etwa oder auf Haiti. Diesmal brauchte er nur einige S-Bahn-Stationen weit zu fahren in seinem Wohnort Berlin, den n das Ziel seiner jüngsten Reportagearbeit waren Obdachlosenunterkünfte, die er zu verschiedenen Jahreszeiten aufsuchte. Eine war am Bahnhof Moritzplatz, die andere bei der Station Frankfurter Allee. Mitten in der Stadt nach Berliner Maßstäben also.
Mitten unter uns, könnte man auch sagen, aber trotzdem gehen wir an solchen Orten meist achtlos vorbei. Lörscher nicht. Er suchte für seine Reportage das Gespräch mit den hier untergeschlüpften Obdachlosen, und jedem Einzelnen von ihnen widmet er ein Porträt – ein geschriebenes, in dem wiedergegeben wird, was ihm erzählt wurde, und ein gezeichnetes, mit dem Lörscher das Aussehen seiner Gesprächspartner festhält. Es sind meistens Männer, alle Altersstufen sind vertreten, und neben den Porträtzeichnungen hat Lörscher seinem 125 Seiten starken Band auch einige Schauplatzansichten beigefügt, die auf bedrückend berückende Weise die Alltagssituation in den provisorischen Unterkünften festhalten.
Die Ambivalenz der Obdachlosen gegenüber ihrer eigenen Lage ist das bestimmende Motiv. Natürlich gibt es Stolze unter ihnen, die mit sich und ihrem Freiheitsgefühl im Reinen sind, aber die meisten wollen wieder zurück in eine kommodere Existenz, sofern sie nicht gleich ganz bürgerlich sein muss. Und viele sprechen auch offen über die heiklen Aspekte der Obdachlosigkeit, selbst in solchen Hilfseinrichtungen.
Es gibt immer noch viel zu wenig solche Reportagecomicprojekte in Deutschland, auch weil es im Gegensatz etwa zu Frankreich keine Pressepublikationen gibt, die sich dafür regelmäßig interessieren. Dabei führt „Schatten der Gesellschaft“ vor, wie ausdrucksstark diese Darstellungsform sein kann. Lörscher ist grafisch eher minimalistisch unterwegs, doch die schnellen skizzenartigen Zeichnungen mit wenig Farbeinsatz sind trotzdem präzise, und doppelt reizvoll werden sie, weil Lörscher sie meist zweimal präsentiert: einmal als entindividualisierte Version, die nur Umrisse und Strukturen der Gestalten bietet, bevor dann etwas später die erkennbare Fassung folgt. Zwischendurch haben wir gelesen, was diese Menschen erzählen, und so hat sich auch bei uns ein Bild gebildet, das noch unbeeinflusst von dem war, was Lörscher gezeichnet hat. So geschickt kann man Bilderästhetik einsetzen. Hier zu sehen: Schatten der Gesellschaft – Jaja Verlag.
Sofort will ich Lörschers alte Werke wiederlesen, doch die liegen noch in irgendeinem der Kartons. Dass er jetzt zu Jaja gefunden hat, nachdem er auch schon mal im Eigenverlag veröffentlichen musste, ist höchst erfreulich. Dass Jaja durch ein (hochverdientes) Sabbatical seiner Verlegerin Annette Köhn derzeit den Autoren des Hauses die Öffentlichkeitsarbeit für deren Bücher überlässt, macht es den Titeln schwierig. Ich bekam mein Exemplar von Sebastian Lörscher selbst zugeschickt. Der Buchhandel aber wird zuverlässig beliefert. Kaufen lohnt, und mit 15 Euro ist der Band spottbillig. Zudem geht jeweils ein Euro vom Verkaufserlös an eine Berliner Tafel. Lörscher gibt seinen Gesprächspartner also etwas zurück.
Es ist einer der berühmtesten Prozesse in der Kunstgeschichte. Gerichtsprozess, nicht Schaffensprozess. 1927 klagte der französische Bildhauer Constantin Brancusi gegen die Vereinigten Staaten, weil die eines seiner Werke mit einem höheren Einfuhrzoll als für Kunstwerke üblich belegen wollten. Denn ein Kunstwerk, so die Argumentation der Zollbehörde, sei „Oiseau dans l’espace“ (Vogel im Raum) nicht, es sei Kunsthandwerk. Darüber mögen wir heute lachen, die wir in dem goldenen abstrakten Vogelkörper eines der bekanntesten Kunstwerke des zwanzigsten Jahrhunderts sehen und allemal das berühmteste von Brancusi. Aber die moderne Kunst hatte eben Schwierigkeiten als solche anerkannt zu werden. Das hat sie mit dem Comic gemein.
Aber dieser Vergleich ist nicht der Anlass für das, was Sie hier lesen. Den bietet ein Comic über den Prozess von 1927, verfasst und gezeichnet vom 1981 geborenen Franzosen Arnaud Nebbache: „Bracusi contre États-Unis“, im vergangenen Jahr auf Französisch erschienen (bei Dargaud) und gerade ins Englische für einen amerikanischen Verlag übersetzt. Auf eine deutsche Fassung dürften wir wohl lange warten müssen – wenn sie denn überhaupt kommt. Denn das Interesse, das in Frankreich und den Vereinigten Staaten für den Fall besteht, ist natürlich größer, weil die Beteiligten, soweit es sich um Landleute handelt, jeweils bekannter sind.
Obwohl wir von Akteuren reden wie Marcel Duchamp, Ferdinand Léger, Edward Steichen, Jean Cocteau oder Alexander Calder. Und im Prolog des Comics tritt Auguste Rodin auf, denn bei ihm, dem berühmtesten aller Bildhauer der Moderne, hatte der 1876 in Rumänien geborene Brancusi kurzfristig gearbeitet, ehe er merkte, dass er dort keinen eigenen Stil würde entwickeln können und Rodins Atelier wieder verließ. Er reüssierte dann auch bald und war mit mehreren Werken auf jener New Yorker Kunstschau vertreten, die als Durchbruch der Moderne in den Vereinigten Staaten gilt: der Armory Show von 1913. Es hat ihm im Prozess von 1927 nichts genutzt; vierzehn Jahre sind nicht genug, um ästhetische Vorbehalte zu beseitigen.
Und darum geht es primär, denn einen Vogel vermochten die Zollbeamten in der Plastik nicht zu erkennen, und außerdem wirkte sie in ihrer glatten Form wie ein industrielles Werkstück, zumindest eines, das in Serie gefertigt wurde. Wo bliebe das auratische Kunstelement des Einzelstücks? Zumal Brancusi vorher diverse andere „Vögel“ nach demselben Muster gefertigt hatte, allerdings war das fragliche Objekt nun in Materialien gefertigt (polierte Bronze auf einem Marmorsockel), die Brancusi bislang noch nicht benutzt hatte – im Metropolitan Museum von New York steht etwa eine ganz in Marmor gehaltene Version von 1923. Zudem war es der erste Guss nach einem neuen Modell, und Brancusi hatte es zwar nicht selbst gegossen, aber eigenhändig poliert und montiert. All das kam im Prozess zur Sprache.
Und auch im Comic von Nebbache, der zu einem guten Teil im Gerichtssaal spielt, wo Brancusi allerdings nicht anwesend war; ihn vertrat der Fotograf Edward Steichen, der auch Empfänger der Plastik war). Ein anderer guter Teil (der bessere sogar) spielt in Paris, wo Brancusi mit seinem Freund Ferdinand Léger herumzieht und diesem sein Leid klagt. Wir haben also einmal ganz sachliche Gerichtsdialoge, die vor allem durch die Schilderungen eines anderen Brancusi-Freunds, Marcel Duchamp, bekannt sind, der den Prozess beobachtete, und dann das Gespräch über den Prozess. Eine meisterhafte Perspektivenbrechung. Zumal irgendwann auch noch Jean Cocteau dazustößt.
Und das alles ist viel weniger wortlastig, als man denken sollte. Das zeigt schon die französische Leseprobe: Lire en ligne Brancusi contre États-Unis (dargaud.com). Sie zeigt auch den konsequent farbreduzierten und trotzdem bunten Stil von Lebbauche, der zuvor vor allem Sachbilderbücher für Kinder illustriert hat: die Farbstimmungen wechseln von Szene zu Szene. Die Erscheinung Brancusis mit seinem langen weißen Bart gibt eine grandiose Comicfigur ab, und Léger in seiner groben Physis bildet mit ihm ein skurriles Paar. Gemeinsam erkunden sie die Künstlerszene von Paris und treffen dabei unter anderen auch auf den amerikanischen Künstler Alexander Calder, der noch einmal eine ganz neue Weise des Umgangs mit Bildhauerei begründen sollte, damals aber noch weniger mit seinen berühmten Mobiles als mit Puppenspielfiguren agierte. Calders Auftritt gibt Brancusi seinen Glauben an die ästhetische Zurechnungsfähigkeit der Amerikaner zurück.
Der Band ist ein Vergnügen, schon allein der sophistischen Dialoge über Kunst wegen, die im Gerichtssaal geradezu burleske Dimensionen annehmen – so etwa, wenn der für industriell gefertigte Importe damals gültige Zollsatz von 40 Prozent im Falle von Brancusis Vogel immerhin 4000 Dollar ausmachen würde. Der zugrunde gelegte Preis von 10.000 Dollar für das fragliche Objekt dürfte doch eigentlich plausibel gemacht haben, dass es sich um Kunst handelte. Doch so wird nicht argumentiert; es geht allein um die Frage des künstlerischen Agierens im Atelier. Während in den Paris-Episoden des Comics das künstlerische Privatleben vorgeführt wird.
Am Ende – es sei hier verraten, weil das Resultat weniger zählt als der Weg dorthin – bekommt Brancusi recht, und als Kunstwerk darf der „Vogel im Raum“ zollfrei eingeführt werden. Ein Triumph der Moderne. Und ein Triumph des Comics, dass diese Geschichte nun so erzählt worden ist.
Aus gegebenem traurigen Anlass hier etwas, was ich vor vier Jahren anderswo geschrieben habe: „Al Jaffee ist achtundneunzig Jahre alt, Sergio Aragonés einundachtzig. Beide sind noch beruflich aktiv, und ihr Arbeitsplatz trägt den Namen ‚Mad‘. Der wird jetzt jedoch geschlossen: Das Magazin stellt zwar nicht sein Erscheinen ein, wird aber nach der kommenden August-Ausgabe keine neuen Inhalte mehr in Auftrag geben, sondern in Zukunft seine zweimonatlich erscheinenden Hefte mit dem reichen Material aus siebenundsechzig Jahren Satireproduktion bestreiten. Jaffee und Aragonés, die letzten überlebenden Zeichner aus der Blütezeit von ‚Mad‘, werden also zwangspensioniert, ihre früheren Arbeiten aber weiter gedruckt. Man wünschte sich, ‚Mad‘ hätte den Anstand gehabt, zumindest den hundertsten Geburtstag von Jaffee abzuwarten, ehe man ihn und seinen Kollegen lebendig begräbt. Aber ein Blatt, das seine Mitarbeiter traditionell nur als ‚die übliche Bande von Idioten‘ ausweist, muss wohl selbst auch nicht klüger agieren.“
Sie hätten besser noch bis jetzt warten müssen, denn dass Al Jaffee noch lange über seinen hundertsten Geburtstag hinaus leben würde, war statistisch unwahrscheinlich. Immerhin ist er hundertzwei gewesen, als er am vergangenen Montag gestorben ist, dem 10. April. Carl Barks, mein großes Comic-Idol, war 2000 knapp am hundertsten Geburtstag gescheitert und starb mit neunundneunzig. Jaffee war keines meiner Idole, aber ein ständiger Wegbegleiter in „Mad“, das man in meiner Jugendzeit, den achtziger Jahren, las, wenn man cool sein wollte. War ich nicht, aber man wollte es eben sein.
Al Jaffee war der Mann, der über Jahrzehnte hinweg ein in allen internationalen Ausgaben des Satirecomicmagazins vertretenes festes Element von „Mad“ gezeichnet hat: das Faltblatt, eine Parodie auf das Centerfold des „Playboy“. Das musste man ausfalten, um in den Genuss der jeweils abgebildeten nackten Frau zu kommen, Jaffees Centerfolds, die „Fold-ins“, mussten zusammengefaltet werden, um ihren Witz zu enthüllen, denn erst wenn man jeweils die Seiten zweifach knickte, so dass die äußeren vertikalen Segmente einen Teil des Mittelbildes überdeckten, ergab sich ein neues, überraschendes Bild. Hier das Prinzip, wie es ein Bewunderer nach Jaffees Tod als Würdigung ins Netz stellte: 13 MAD FOLD-INS: An AL JAFFEE Tribute | 13th Dimension, Comics, Creators, Culture.
Er hieß eigentlich Abraham Jaffee, ein weiterer der zahllosen brillanten Juden, die aus dem Comic erst das gemacht haben, was er heute ist. Seine Eltern waren aus Litauen gekommen, und Jaffee hatte Glück, dass die Pläne seiner Mutter, mit ihren Kindern in die Heimat zurückzukehren, gleich zweimal vom Vater durchkreuzt wurden. Vielleicht resultierte daraus seine Vorliebe zur Korrektur durch Umbiegen. Ganz sicher war dabei aber die Beschäftigung hilfreich, die er als amerikanischer Soldat im Zweiten Weltkrieg ausübte: nicht kämpfen, sondern in einem Planungsstab Grundrisse von Gebäuden zeichnen. Da eignete sich Jaffee den souveränen Umgang mit geometrischen Formen an.
Ich werde ihn vermissen, denn er zeigte uns, dass die Welt Überraschungen bereithält, die nur der Comic bieten kann. Was kann man Besseres sagen? So long, great guy, we’ll keep on folding.
Es ist sechs Jahre her, das überraschte mich ein brasilianischer Comic, der den völlig unverständlichen Titel „Tungstênio“ trug. Sein Autor: Marcello Quintanilha: Ein Krimi von höchsten Gnaden – Comic (faz.net). Ich konnte damals nicht behaupten, regelmäßig Comics aus Südamerika gelesen zu haben, nur Argentinien mit seinem reichen Erbe an Klassikern war da eine Ausnahme, aber über Comics aus Brasilien wusste ich so gut wie nichts. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert, doch nun ist ein zweiter Band von Quintanilha auf Deutsch erschienen, und der ist noch besser als der erste. Er heißt „Hör nur, schöne Márcia“, und übersetzt hat ihn wieder Lea Hübner, hierzulande die unermüdliche Vermittlerin lateinamerikanischer Comics.
Es ist nun nicht so, dass Hübner mit „Hör nur, schöne Márcia“ eine Entdeckung hätte machen können. Die hatte sie seinerzeit ja mit „Tungstênio“ gemacht, und der nun erschienene Band des 1971 geborenen Comicautors Quintanilha, der mittlerweile in Brasilien auch einen ersten Roman publiziert hat, gewann 2022 in französischer Übersetzung den Hauptpreis Fauve d’or beim Comicfestival von Angoulême, mithin die prestigeträchtigste europäische Auszeichnung für Comics überhaupt. Die deutsche Übersetzung ist dennoch keine Selbstverständlichkeit, und dass nunmehr nach dem Avant-Verlag die Berliner Konkurrenz von Reprodukt zum Zuge gekommen ist, lässt vermuten, dass „Tungstênio“ ungeachtet seiner Qualität kein großer Verkaufserfolg gewesen ist. Ich wage zu behaupten, dass es auch „Hör nur, schöne Márcia“ nicht ganz leicht haben wird.
Das liegt, wie schon angedeutet, nicht an dem, was Quintanilha erzählt – wieder eine Art Kriminalgeschichte –, sondern an seiner Graphik. So sieht der Comic aus: Hör nur, schöne Márcia – Reprodukt, und an den dort als Leseprobe beigegebenen Seiten kann man sehen, dass die ungesunde Gesichtsfarbe der Protagonistin kein reiner Cover-Effekt ist: Márcia, ihres Zeichens Krankenschwester und Mutter einer gerade erwachsenen Tochter, wird durch das zarte Lila ihres Teints als dunkelhäutige Brasilianerin charakterisiert, während die „Weißen“ im Comic mit hellblauer Haut daherkommen. Das ist gewöhnungsbedürftig. Mancher wird es hässlich nennen.
Aber es ist konsequent, denn es geht Quintanilha um sozialen, nicht um ästhetischen Realismus. Thema von „Hör nur, schöne Márcia“ ist das (Über-)Leben im Stadtmoloch von Rio de Janeiro, dessen ärmere Viertel in der Hand von Drogenkartellen sind, die deshalb für junge Bewohner als einzige Möglichkeit erscheinen, ihre prekären Zustände in den Favelas hinter sich zu lassen – so verhält es sich auch im Falle von Márcias Tochter Jaqueline. Márcia selbst dagegen ist eine rundum ehrliche Haut, die Seele ihrer Krankenhausabteilung und ein Glück für jene Patientinnen, die sie bisweilen nebenbei auch noch daheim betreut, um sich ein bisschen dazuzuverdienen. In Aluísio hat sie einen Lebenspartner, der ebenfalls legal durchs Leben kommen will und es dementsprechend schwer hat. Zumal Jaqueline ihn nicht als Mann im Haus akzeptiert.
Vor der Folie dieser Dreierkonstellation entfaltet Quintanilha nun seine Geschichte um die Selbstzerfleischung eines der Drogenkartelle, in die Márcias Familie ungewollt hineingezogen wird. Wie er das erzählt, ist schon einmal grandios, denn die Figuren um das Zentrum aus Márcia, Aluísio und Jaqueline sind mindestens genauso interessant wie die Hauptpersonen. Und wie Quintanilha sie zueinander in Konstellation setzt, verrät einen höchst geschickten Geschichtenarrangeur.
Doch die größte Meisterschaft beweist sich gerade in dem, was auf den ersten Blick als größte Schwäche erscheinen mag: seinen Zeichnungen. Panelrahmen gibt es nicht, so bekommen die Seitenarchitekturen einen organischen, fließenden Charakter. Die Detailgenauigkeit bei den Dekors ist bestechend – und wichtig, weil es um kleine Elemente geht, die das Geschehen zusammenhalten. Man übersieht sehr schnell etwas Entscheidendes, aber es war immer da, we man später beim Zurückblättern feststellen muss. Und dann ist da auch noch die Einbeziehung von Handykommunikation, die uns einen Einblick in die Strukturen der brasilianische Gesellschaft gibt – woraus schließlich die Möglichkeit für Márcia entsteht, ihre Tochter aus dem (ganz buchstäblich gemeinten) Schussfeld zu nehmen. Aber um welchen Preis?
Es ist ganz großes Kino, was Marcello Quintanilha (die Namensähnlichkeit mit seiner Protagonistin dürfte klares Zeichen für eine Identifikation des Autors mit der Hauptfigur sein, die weit über das in „Tungstêrio“ Gezeigte hinausgeht) hier bietet – auch insoweit wörtlich zu verstehen, weil man sich solch genau gezeichnete Geschichten auch verfilmt wünscht. Da, wo ein Comic notwendig leise sein muss, weil selbst die aggressivsten Lautmalereien nicht den Krawall zeigen können, den Bandengewalt hervorbringt, würde eine Tonspur Erstaunliches bewirken können. Allerdings müsste eine Verfilmung von „Hör nur, schöne Márcia“ sich auch solch eine Zeit nehmen, wie sie Quintanilha seinen Lesern abverlangt. Das ist keine Ex-und-hopp-Lektüre, das ist auch nicht nur einfach Gangstergenre oder Sozialstudie, das ist große Comicliteratur, die auch große Aufmerksamkeit voraussetzt. Kurz: ein grenzerweiterndes Werk. Nicht nur geographisch.
Boxen muss ein Faszinosum sein für Comicautoren. Man denke nur an Reinhard Kleist, der ebenso gleich mehrere Geschichten zum Thema gezeichnet hat („Der Boxer“, „Knock Out!“) wie sein französischer Kollege Baru („Der Champion“, „Wut im Bauch“). Womöglich gibt die Tatsache, dass es sich bei diesen beiden Zeichnern um auch gesellschaftspolitisch sehr engagierte Künstler handelt, einen Hinweis auf die Ursache des thematischen Reizes durchs Boxen: Underdogs kämpfen sich im Ring durch, und so bietet der Sport Parabeln aufs Leben.
Auch Karen Hertfelder verfolgt mit ihrer Boxgeschichte „Herzschlag“ ein gesellschaftspolitisches Anliegen: Ihre beiden Protagonisten sind Frauen, und das Boxen war lange Zeit eine der letzten Bastionen rein männlich betriebener Sportarten, also hat die Konstellation emanzipatives Potential. Dann verlieben sich Kisa und Bonnie, die sich zunächst im Ring beim Sparring als Gegnerinnen begegnen, ineinander – wir haben also mit lesbischer Liebe ein weiteres Phänomen von einiger Brisanz in der öffentlichen Wahrnehmung. Und Bonnie ist dunkelhäutig, so dass sie auch noch eine dritte Emanzipationserfahrung als Boxerin macht: gegen die weiße Mehrheitsgesellschaft, der Kisa angehört (deren Name, Kisa Kulak, allerdings eine polnische Abstammung vermuten lässt, womit noch ein weiteres Feld aufgemacht wäre . . .). Dieser Comic ist eine Gerade ins Herz der Gesellschaft. Es steckt viel drin in „Herzschlag“.
Und die beiden Frauen stecken viel ein. Die Rahmenhandlung besteht aus den acht Runden eines Profikampfs gegeneinander, der gegen Kisas Willen vereinbart worden ist, während Bonnie es eben rein professionell sieht. Darüber zerbricht die Liebesbeziehung, deren Entstehung wir in Episoden erzählt bekommen: als schwarzweiße Einschübe zwischen den einzelnen Runden, die durch rote und blaue Zusatzfarben besonders hervorgehoben sind. Karen Hertfelder, 1996 in Bonn geboren und in Kassel an einer der besten deutschen Talentschmieden zur Comiczeichnerin ausgebildet, hat diese Geschichte ursprünglich auf Englisch im Selbstverlag publiziert („Punch Your Heart Out“, hier anzusehen: Punch Your Heart Out Excerpt by iovest (itch.io)). Und dann für die deutsche Übersetzung den kleinen, aber für die deutsche Szene wichtigen Verlag Schwarzer Turm gewinnen können, der den Band in derselben Gestaltung produziert hat: Karen Hertfelder – Schwarzer Turm – Independent Comics aus Weimar.
Man versteht, warum, wenn man liest, wie geschickt sich die Episoden ablösen – gipfelnd im Schlusskapitel, nach dem Ende des Kampfs zwischen Kisa und Bonnie (dessen Ausgang hier nicht verraten werden soll), als Hertfelder plötzlich die blaue und die rot Zusatzfarbe ins bis dahin übliche Schwarzweiß der Zwischenepisoden einfließen lässt und damit einen Hybrid zwischen den vorherigen Kontrasten schafft, denn so farbsatt wie die Kampfszenen wird es nicht, aber eben auch nicht mehr so schwarzweiß wie in den vorherigen Rückblicken.
Ein besonderes Talent beweist Hertfelder mit den drastischen Bildern des Matchs, die der Gewalt eines Boxkampfs gerecht werden. In der Figurenzeichnung wäre psychologisch wie ästhetisch noch mehr drin gewesen, aber wir reden hier ja von einer jungen Zeichnerin, nicht von Altmeistern wie Baru oder Kleist, die ihre jeweiligen Boxergeschichten erst in der Mitte ihrer jeweiligen Karrieren erzählt haben. Die Unmittelbarkeit, die „Herzschlag“ vermittelt, haben die Comics der beiden Männer nicht – man spürt die tiefe Anteilnahme von Karen Hertfelder am Schicksal ihrer beiden Protagonistinnen, obwohl sie ursprünglich gar kein privates Interesse am Frauenboxsport hatte (und man kann darüber auch nachlesen: auf KAREN HERTFELDER – COMIC-BLOG – SIEBEN AUF EINEN STRICH).
In Kassel lehrt seit Jahrzehnten Hendrik Dorgathen Comic-Erzählen; nun wird er emeritiert, und zum Abschied kann man ihm nicht nur bescheinigen, eine große Zahl hervorragender Autoren ausgebildet/entdeckt/gefördert/ zu haben, sondern auch noch, dass die stilistische Breite der Kasseler Klassen die größte aller deutschsprachigen Hochschulen ist, die Comic-Kunst anbieten. Karen Hertfelder ist dafür nur ein weiteres, aber beeindruckendes Beispiel. Aber besonders gedankt wird am Schluss dem Comiczeichner Nino Bulling, und das ist nicht das erste Mal in jüngerer Zeit, dass dieser Name fällt, wenn es um politisch engagierte Comicprojekte geht. Bulling selbst steht ja mit seinem eigenen Werk dafür, aber dass er auch ein so aktiver Förderer anderer Autoren ist, das zeigt, dass nun auch neben den Hochschulen Netzwerke entstehen, die den Nachwuchs voranbringen. Besseres kann man kaum erhoffen. Naja, doch: bald mehr von Karen Hertfelder.
Von Zeit zu Zeit erlaube ich mir mit diesem Blog Seitensprünge: über das Feld des Comics hinaus, in verwandtes Terrain, so etwa das der Illustration. Im Englischen nennt man das ja eh alles „Cartoon“. Und in der Tat haben Comic, Karikatur, Illustration, Grafikdesign viel gemeinsam. Vor allem durch wechselseitige Inspiration.
Christoph Niemann, wohnhaft in Berlin, aber tätig vor allem für amerikanische Medien, ist in meinen Augen der einfallsreichste Illustrator unserer Zeit. Das verdankt er der Fähigkeit, eigene Einfälle mit Einflüssen der Besten aus allen Sparten zu kombinieren. Man nehme nur sein Geschick bei Bildcollagen – das hat Tomi Ungerer auch schon gemacht, aber Niemann gibt durch seine markant-dicke Konturlinie den collagierten Motiven einen unverkennbar individuellen Touch. Man erkennt Niemanns Arbeiten leichter als die ungerschen. Und Wiedererkennbarkeit ist ein wichtiger Faktor im Illustrationsgeschäft.
Andere bedeutende Vorbilder für den Heinz-Edelmann-Schüler sind Saul Steinberg, Sempé, Chip Kidd, Chris Ware, also Cartoonisten aller anfangs genannten Sparten. Und Niemann ist denn auch selbst in allen tätig (und erfolgreich). Auch im Comic? Aber ja. Man denke nur an seine grandiosen graphischen Reportagen von einem Marathonlauf. Oder über einer albtraumartige Flugreise. Und auch im jüngsten Buch von Niemann gibt es bestechende Bildsequenzen, die Comicprinzipien näher stehen als allem anderen.
„Idea Diary“ heißt dieses Buch, und wenn einige niemannkundige Leser dieses Blogs sich wundern sollten, wie es ihnen hat entgehen können, mag das daran liegen, dass sie wie ich in klassischen Verlagskategorien denken. Niemanns erstes weltweit erfolgreiches Buch, „Alphabet City“, erschien 2012 beim amerikanischen Abrams Verlag, und Knesebeck brachte die Übersetzung heraus. Bei „Sunday Sketching“ war es noch einmal genauso. Dann schlug aber auch schon der deutschsprachige Verlag zu, der die größte Illustrationstradition aufzubieten hat (und die besten Autoren: Steinberg, Ungerer, Sempé, Waechter, Loriot, Chaval, Bosc etc.): Diogenes. „Souvenir“ hieß Niemanns erstes Buch dort, und es war ein Augenschmaus in jeder Hinsicht. Seitdem ist der Illustrator dem Zürcher Verlag verbunden, auch als Umschlaggestalter, und mit „Away“ erscheint kommende Woche ein Buch, das ähnlich schön werden dürfte wie „Souvenir“. Doch „Idea Diary“ ist nicht bei Diogenes im Programm.
Sondern bei Christoph Niemanns eigenem Verlag, Abstractometer Press. Denn dieser Mann beherrscht nicht nur seine Kunst, sondern auch sein Geschäft. Die großen Häuser wollen das Leichtverkäufliche, Gefällige (wenn auch weiterhin Fulminante), also die wunderbaren Aquarelle mit romantischen Reiseimpressionen oder die meisterlich hingeworfenen Porträts. Aber mit der graphischen Strenge, die Niemanns beste Cartoons auszeichnen, erreicht dieser Könner die Kenner, und deren gibt es weniger. Für sie gibt es aber auch weniger Angebot, und in diese Lücke ist Niemann einfach selbst vorgestoßen: Sieben Bücher hat er bereits in Eigenregie herausgebracht, und eines ist beeindruckender als das andere. Die Preise sind durchaus stattlich: von dreißig bis hundert Euro. „Away“ wird übrigens 49 kosten, doch „Idea Diary“ liegt mit 85 noch um einiges jenseits. Aber es ist jeden Cent wert.
Auch der comicartigen Passagen wegen. In der Leseprobe von Niemanns Website, IDEA DIARY – Christoph Niemann Shop, kann man davon nichts sehen. Aber man dürfte sofort erkennen, mit was für einem Vergnügen und Witz da gezeichnet wird. Die Geniestriche von Christoph Niemann zu beschreiben, ohne sie zu zeigen, ist Hybris, deshalb hier nur zwei Ideen, die ich in ihrer Einfachheit brillant finde (und die ein gemeinsames Motivelement aufweisen): einmal eine zweiteilige Sequenz, deren erstes Blatt „last year“ untertitelt ist und einem Mann zeigt, auf den es herab regnet – eine simple Zeichnung, die die Tropfen als kurze Striche zeigt. Dann kommt das zweite Blatt: „this year“, und der Mann und die Regenwolke sind noch da, doch die Striche der Regentropfen stecken nur wie Nadeln im Körper des Unglücklichen. Nicht nur, dass es eine geniale Verschiebung des Bildinhalts bei identischer Ikonographie ist – einen böseren Kommentar zum Leben in unserer Epoche habe ich auch noch nicht gesehen.
Oder auch das Einzelbild eines Kamels als rote Konturzeichnung, doch an mehreren Stellen führt die Linie durch die Ösen von Nadeln. So virtuos widerlegt man ein Bibelwort: Diese Kamel geht nicht nur durch ein Nadelöhr, es geht durch deren sieben. Und es gibt etliche derartige Glanzideen, etwa die beiden Hände mit Stricknadeln (warum nicht noch einmal Nadeln?), mittels derer sie die Stahlstruktur des Eiffelturms herstellen. Oder eine Marionette, die mit losen Fäden am Boden liegt, aber in einer Hand noch ein Smartphone hält, das übers Ladekabel an eine Steckdose angeschlossen ist. Wie wir alle an Fäden hängen, wie man uns als Puppen tanzen lässt und wie die eigene Selbständigkeit weniger bedeutsam ist als die Teilnahme an immerwährender Kommunikation – das alles sagt diese Zeichnung aus.
Als Bildergeschichten möchte ich nur die sechsteilige einer Frau erwähnen, die sich aus ihrem anfangs kahlen Kopf Haare hervorkämmt, mit denen sie schließlich das ganze Bild so füllt, dass sie selbst unsichtbar wird. Es ist ein einem Escher würdiger Einfall, denn Niemann mit der Strenge eines Op-Art-Künstlers umsetzt. Und nun genug des Lobs, denn wenn ich alle Inspirationen und Assoziationen aufzählte, die mir durch den Kopf gehen, würde dieser Blog noch längst nicht publiziert sein. Und ich fürchte, dass ich eh nur einen Bruchteil dessen erfasse, was sich Christoph Niemann denkt.
So, wie ich den Anspruch habe, von einigen Comicautoren alles im Regal zu haben, gibt es ähnliche Bestrebungen auch bei Filmen. Aber nur von einem meiner Lieblingsregisseure besitze ich tatsächlich das komplette Werk auf DVD: Akira Kurosawa. Und seine Autobiographie zählt zu den erhellendsten Büchern übers Kino. Wie mag es da erst bei einem Comic eines meiner Lieblingszeichner sein, wenn der den Titel „Akira Kurosawa und der meditierende Frosch“ trägt? Anders ist es, ganz anders, aber nicht etwa, weil es dem Band an Qualität mangelte.
Vorausgeschickt sei, dass ich von diesem Lieblingszeichner – es ist Nicolas Mahler – beileibe nicht alle Bücher im Regal habe. „Akira Kurosawa und der meditierende Frosch“ ist sein 58. Buch, und eine rasche Durchsicht fördert bei mir gerade mal knapp über dreißig Mahler-Comics zutage. Nun hat der 1969 geborene Wiener Zeichner lange gebraucht, um den verdienten großen Erfolg einzuheimsen: bis 2011, als seine Comicadaption von Thomas Bernhards Roman „Alter Meister“ erschien – das war Comic Nummer 38 in seiner Publikationsliste, und zahlreiche Titel darauf entfielen auf kleine Heftproduktionen in Winzverlagen, die heute kaum mehr aufzutreiben sind. „Alte Meister“ dagegen erschien bei Suhrkamp, wie seitdem der größte Teil des Mahlerschen Werks, wobei er auch noch jenen Verlagen die Treue hält, die ihn schon vor dem großen Erfolg publizierten: Reprodukt, Edition Moderne, Luftschacht.
„Akira Kurosawa und der meditierende Frosch“ ist wieder mal eine Reprodukt-Veröffentlichung. Und ein Etikettenschwindel. Das räumt Mahler in einem zwölfseitigen „Materialien“-Anhang auch selbst ein. „Falls Sie dieses Buch nur gekauft haben, um Ihre Akira-Kurosawa-Sammlung zu komplettieren: Entschuldigung!“ Denn Kurosawa ist auf den 110 Seiten zuvor gar nicht vorgekommen – im Gegensatz zu seinem Titelkollegen, dem meditierenden Frosch. Der hat einen Auftritt in „Kyoto Manga“, dem mit mehr als zwanzig Seiten längsten der insgesamt vierzehn Kapitel des Comics. Darin erzählt Mahler von seinem Besuch im Mangamuseum der alten japanischen Kaiserstadt Kyoto, und da ich da auch einmal gewesen bin, kann ich bestätigen, dass Mahle mit der für ihn typischen spartanischen Linienführung ein ebenso detailreiches wie akribisch genaue Porträt des Museums und dessen Eigentümlichkeiten zeichnen. Sehr unterhaltsam, sehr abgedreht. Auf demselben Niveau also wie Mahlers Meisterstück (in meinen Augen): der ebenfalls in Japan angesiedelte Band „Das Ritual“, hochgelobt vor fünf Jahren hier in diesem Blog (Männer, die in Gummi randalieren – Comic (faz.net)).
Der Rest des neuen Comics hat indes mit Japan nichts zu tun. Es ist eine Folge kurzer autobiographisch und/oder poetologisch motivierter Betrachtungen von der unverwechselbaren Mahlerschen Lakonie und Komik. Da wird die bisweilen unverständige Rezeption seiner Comics ebenso zum Thema wie deren Erfolg. Und manche austriakische Skurrilität, wie man etwa den zwei in der Leseprobe des Verlags eingestellten Kapiteln entnehmen kann: Akira Kurosawa und der meditierende Frosch – Reprodukt. Wer an Wienschmerz statt Weltschmerz leidet, ist hier genau richtig.
Übrigens zeigt das Literaturhaus Leipzig gerade eine Mahler-Ausstellung mit dem Titel „Schreibt der jetzt für Sie?“, die sich den Literaturadaptionen des Zeichners widmet: Bernhard, Artmann, Musil Jelinek, ein österreichisches Quartett also, passend zum Ehrengastland der diesjährigen Leipziger Buchmesse, deren Termin Ende April denn auch den Schlusspunkt der Schau darstellt. Zuvor macht Nicolas Mahler aber noch eine Pre-Finissage am 26. April. Man muss ihn mal persönlich erlebt haben, um zur Gänze zu begreifen, was für ein Genie da am Werk ist. Ich werde mich jedenfalls doch noch auf die Suche nach den mehr als zwanzig Publikationen machen, die in meinem Bestand fehlen. Nicht dazu zählt übrigens das Faltblatt zur Leipziger Ausstellung, in dem Mahler eine Erinnerung von Thomas Bernhards Schwester ins Bild setzt: an das Verhalten des Schriftstellers beim Schuhkauf. Diese achtseitige Erzählung erschien schon früher anlässlich einer Wiener Ausstellung, doch nun kann man sie endlich auch in Deutschland lesen. Egal, ob mit Oeuvrezahl oder ohne: Mahler kann man nie genug haben, weil man von ihm nicht genug bekommt. Heute Abend (Freitag, 10. März) ist Buchpremiere von “Akira Kurosawa und der meditierende Frosch” in Berlin: in der Bezirkszentralbibliothek (schönes Oxymoron) Pablo Neruda. Leider ist sie schon ausgebucht, aber am 29. März kommt Mahler mit seinem Comic auch noch ins Münchner Literaturhaus.
Das Besondere an „Bella Ciao“ sind die Zeitebenen. Ansonsten ist alles so, wie wir es von Barus Comics seit nahezu vierzig Jahren kennen: ohnehin grandios. Nur diesmal noch einfallsreicher. Dabei erzählt Baru scheinbar immer dasselbe: Er ist der Chronist der France profonde, aber einer anderen als der üblich ländlichen: eines Frankreichs der kleinen Leute, die sich aus den Familien von eingewanderten Industriearbeitern rekrutiere, in seinem Fall eingewandert aus Italien nach Lothringen, wie Barus Eltern, das Ehepaar Barulea. Solche Italiener in Frankreich gaben ihren Kindern zwar französische Vornamen (Baru heißt bürgerlich Hervé Barulea), aber sie sprechen untereinander weiterhin Italienisch. Manche sogar ein Leben lang ausschließlich, also nie mit Franzosen. Wie Pasquale in „Bella Ciao“.
Nehmen wir ihn, die unvergesslichste Figur dieses Comics, als Beispiel für die Zeitebenen. Im Zentrum des Geschehens steht die Kommunion von Baru selbst, denn dieser Comic gibt sich autobiographisch. Also sind wir im Jahr 1955 oder 1956, denn Baru kam 1947 zur Welt. Man erkennt die Zeitebene der an der abendlichen Festtafel ausufernden Familienfeier an den nahezu monochrom gelben Hintergründen. Nur bisweilen werden Details des Hausrats oder der Wohnung selbst ins Bild gesetzt, alles konzentriert sich auf die große Runde aus Angehörigen und Freunden der Familie, die sich eine Geschichte nach der anderen erzählen oder durch ihre Anwesenheit an ihre jeweiligen Schicksale erinnern., die dann Baru aus der heutigen Sicht Revue passieren lässt.
Was sich vor der Mitte der fünfziger Jahre abspielt, ist im Kontrast zum intensiven Gelb der Kernerzählung farblich wie ausgeblichen, bisweilen fast schwarzweiß mit jeweils einem kräftigen Farbakzent wie etwa dem Rot im ersten Kapitel, „Camizia rossa“ (Rothemd), nach dem berühmten Accessoire der Garibaldi-Anhänger (BELLA_CIAO_2_inhalt_001-016_v1.pdf (edition52.de) – leider ist diese Leseprobe der Edition 52 schwarzweiß gehalten. Warum? Keine Ahnung, obwohl es auch so gut aussieht). Diese Farbakzentuierung fand auch schon im ersten Band von „Bella Ciao“ statt, der mit einem ausländerfeindlichen Angriff von Franzosen auf die unerwünschten Zuwanderer begann. Baru geht gerne von der großen Geschichte ins Spezielle. Hier, im zweiten Band der Trilogie, „Bella Ciao (due)“ – der dritte ist in Frankreich schon erschienen, aber die Edition 52 lässt sich als deutscher Verlag nicht hetzen bei ihren sorgfältigen Übersetzungen –, wird auch wieder nach dem großen historischen Auftakt mit einer Episode aus dem Ersten Weltkrieg, in dem Hervés Großvater gekämpft hat, alles ganz privat – und doch politisch. Womit wir wieder bei Pasquale angelangt wären.
Der ist einer der Kommunionsgäste und berühmt-berüchtigt für seine spontanen Aufbrüche mit dem Fahrrad in Richtung Italien, wenn ihn das Heimweh übermannte. Doch er kam nie weit. Pasquale ist ein Beispiel für jene italienischen Gastarbeiter, die sich immer nur zu gast, aber nie zu Hause in Frankreich fühlten und auch nie Französisch sprachen. Bis zum Jahr 1979, als eine Demonstration gegen die Schließung der Fabrik, in der Pasquale arbeitete, eskalierte und er als einer der Protestierenden im Fernsehen gezeigt wurde und in die Kamera ein paar französische Sätze sagte: zur Verblüffung aller, die ihn kannten. Wenig später brach er wider nachts mit dem Fahrrad auf, und diesmal kam er nicht zurück. Er starb am Straßenrand. Es ist die bewegendste Geschichte bislang in „Bella Ciao“, was einiges heißen will.
Sie spielt zuletzt wie gesagt 1979, also ein Vierteljahrhundert nach der Kommunionsfeier. Deshalb ist sie im Gegensatz zu den vorgängigen Episoden bunter gehalten als die Kernerzählung. So signalisiert Baru auf einen Blick die Position in der Chronologie, obwohl es wie in tatsächliche Familiengesprächen ständig durcheinander geht bei den Personen und Zeiten. Einzeln Kapitel von „Bella Ciao“ bieten vier Zeitebene, die von Panel zu Panel wechseln können. Die späteste ist übrigens streng schwarzweiß gehalten: Sie zeigt Baru im heutigen Alter, also längst jenseits der siebzig, bei den Recherchegesprächen für „Bella Ciao“ – die vor allem ein großer Lobpreis für die Kochkünste seiner Informantinnen aus befreundeten italienischstämmigen Familien sind. Inklusive gezeichneter Rezepte zum Nachkochen, diesmal Tiramisu.
Klingt das jetzt gefällig? Es ist gefühlig, man merkt Barus persönliche Haltung, seine Nostalgie, die immer schon ein Antrieb seines Erzählens war, aber hier zum ersten Mal auch wohlig wird, nicht mehr nur sarkastisch wie in den großen Klassikern wie „Quequette Blues“, „Autoroute du soleil“ oder „Sur la route encore“. Aber gefällig ist hier gar nichts, auch wenn mir „Bella Ciao exzellent gefällt. Das Buch ist durchzogen von Dramen, diesmal namentlich in einer Episode, die im Faschismus unter Mussolini spielt. Ständig sind in den Bänden dieser Trilogie Barus eigener Zorn und seine Trauer spürbar angesichts der Schicksale, um die es darin geht. Und gleichzeitig die Faszination des Autors für diese seelen- und blutsverwandten Außenseiter, die sich ihre eigene Welt geschaffen haben. „Bella Ciao“ ist der beste Comic über Zuwanderung, den es gibt. Gerade weil er so sprunghaft ist, wodurch das Kaleidoskop der individuellen Leben zum großen Gesamtbild wird, das einem das Gefühl gibt, mitten in dieser italienischen Kolonie zu sitzen und sie zu verstehen in all ihrer Lebensfreude, ihrem Heimweh, ihrer Wut und ihren Anekdoten. Ich kann die des dritten Bandes kaum abwarten.
Man könnte es sich leicht machen und den Comic „Hort“ der Hamburger Zeichnerin Marijpol zum Buch der Stunde erklären. Das täte ihm unrecht, denn auch wenn es wohl kein anderes graphisches erzählendes Werk gibt, das body positivity und Genderfluidität intensiver ins Szene setzt, geht doch das was in „Hort“ erzählt wird, weit über diese omnipräsenten Schlag-, bisweilen auch Erschlagworte des woken Narrativs hinaus. Marijpols Comic, kürzlich bei der Edition Moderne erschienen und satte 360 Seiten stark, hat Raum auch für die Themen Mutterschaft und Klassismus, für Doping, Kinderarmut, Großstadtanonymität – und damit wären wir noch längst nicht fertig.
Es gibt sechs Hauptfiguren in Hort: drei erwachsene Frauen und drei noch ziemlich kleine Kinder (zwei Brüder und ihre etwas ältere Schwester). Die Frauen wohnen zusammen: Petra ist Bodybuilderin, Ulla von überaus kräftigem Körperbau und Denise schließlich durch eine Operation halb Mensch, halb Schlange – ihr rechtes Bein und ihr linker Arme sind die äußeren Enden dieses Reptils, und auch wenn Denise behauptet, dass sie die Kontrolle über ihren Chimärenkörper hat, besitzt die linke Hand doch ihren eigenen Kopf, nämlich das Schlangenhaupt. Und so ganz klar ist die Dominanz im Körper von Denise nicht. Entsprechend misstrauisch begegnet ihr die Umwelt, aber das ist bei der starken Petra und der riesigen Ulla kaum anders. Warum, davon bekommt eine Vorstellung, wer sich die Leseprobe ansieht: Marijpol: «Hort» – Edition Moderne.
Die Körpermanipulation zeigt schon: „Hort“ ist in einer Zukunftsgesellschaft angesiedelt, aber einer in moderatem zeitlichen Abstand zur unseren, und die Ängste und Abneigungen gegenüber als andersartig empfundenen Menschen sind noch dieselben wie heute. Überhaupt gibt es außer der manipulativen Mensch-Tier-Vermischung (für die Denise nur ein Beispiel ist) und dem Ausmaß der Sitzmöbel (in Form gigantischer Hände) in der Wohnung der drei Frauen keine Abweichungen vom uns vertrauten Leben, aber diese Science-Fiktionalisierung gestattet Marijpol en freieres Erzählen. Wie Ulla zu ihrem Körperbau kam oder Petra zu ihren Muskelproportionen, bleibt im Gegensatz zum gesellschaftlichen Stigma von Denise unerwähnt. Betreffs des Bodybuildings erfährt man allerdings, dass dabei nicht alles mit gesundheitsrechter Ernährung vor sich ging. Dieser Strang der Erzählung dürfte die Keimzelle des gesamten Bandes „Hort“ gewesen sein.
Die drei Kinder, Ilse, Jörg und Dieter, leiden an einer genetischen Störung, weil die Eltern – so zumindest die Vermutung der drei Frauen – Kinder mit flauschigem Katzenfell haben wollten. Wo Schlangenglieder anoperiert werden können, sollte Fellapplikation auf menschlicher Haut kein größeres Problem sein. Dadurch sind auch die Geschwister Außenseiter, doch ihr Aussehen wird gar nicht groß thematisiert. Viel wichtiger ist, dass ihre alleinerziehende Messy-Mutter sie regelmäßig auf längere Zeit verlässt, so dass die Kinder in der völlig überfüllten Wohnung zurückbleiben und für sich selbst sorgen müssen. Dass das nicht normal ist, empfinden sie durchaus, obwohl sie es doch gar nicht anders kennen.
„Hort“ heißt der Comic, weil die drei Frauen für die drei Kinder einen solchen bieten: Sie nehmen sich der Verwaisten an und bieten ihnen erstmals so etwas wie Geborgenheit – als selbst Ausgegrenzte. Das ist fast zu schön, um wahr zu sein, und was nun wirklich schön ist, das ist, dass am Ende wider allen Erwartungen und aller in Marijpols Gesellschaftsbeobachtung spürbaren Skepsis die Sache gut ausgeht. Und was der Gipfel ihres Erzählgeschicks ist: Wir bekommen die Mutter der drei Kinder nie zu Gesicht und gewinnen sie trotzdem lieb. Warum, das ist mir bis heute immer noch nicht klar. Aber es ist so.
Deutet nun die monochrome lila Farbgebung auf einen feministischen Comic hin? Der bewusst mit Mut zur Lücke gewählte Stil (die Hintergründe mal akribisch detailliert, dann nahezu abstrakt) auf die Unvollkommenheit jeglichen Körperverständnisses? Mag so sein, ist aber nicht wichtig für die Wahrnehmung eines der verblüffendsten deutschsprachigen Comicprojekte der jüngeren Zeit. Auf dass man sich einlassen muss, um selbst die ersten Ekelgefühle angesichts der körperlichen Deformationen zu überwinden, aber wie man es sich wünscht, wirken sie schließlich ganz normal, wenn man sich auf die Akteure einlässt. Im Comic geht das leicht. Und im richtigen Leben? Diese Frage ist die wohl wichtigste Leseerkenntnis aus „Hort“.