Comic

Comic

Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

19. Mrz. 2023
von andreasplatthaus
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Niemand übertrifft Niemann

Von Zeit zu Zeit erlaube ich mir mit diesem Blog Seitensprünge: über das Feld des Comics hinaus, in verwandtes Terrain, so etwa das der Illustration. Im Englischen nennt man das ja eh alles „Cartoon“. Und in der Tat haben Comic, Karikatur, Illustration, Grafikdesign viel gemeinsam. Vor allem durch wechselseitige Inspiration.

Christoph Niemann, wohnhaft in Berlin, aber tätig vor allem für amerikanische Medien, ist in meinen Augen der einfallsreichste Illustrator unserer Zeit. Das verdankt er der Fähigkeit, eigene Einfälle mit Einflüssen der Besten aus allen Sparten zu kombinieren. Man nehme nur sein Geschick bei Bildcollagen – das hat Tomi Ungerer auch schon gemacht, aber Niemann gibt durch seine markant-dicke Konturlinie den collagierten Motiven einen unverkennbar individuellen Touch. Man erkennt Niemanns Arbeiten leichter als die ungerschen. Und Wiedererkennbarkeit ist ein wichtiger Faktor im Illustrationsgeschäft.

Andere bedeutende Vorbilder für den Heinz-Edelmann-Schüler sind Saul Steinberg, Sempé, Chip Kidd, Chris Ware, also Cartoonisten aller anfangs genannten Sparten. Und Niemann ist denn auch selbst in allen tätig (und erfolgreich). Auch im Comic? Aber ja. Man denke nur an seine grandiosen graphischen Reportagen von einem Marathonlauf. Oder über einer albtraumartige Flugreise. Und auch im jüngsten Buch von Niemann gibt es bestechende Bildsequenzen, die Comicprinzipien näher stehen als allem anderen.

„Idea Diary“ heißt dieses Buch, und wenn einige niemannkundige Leser dieses Blogs sich wundern sollten, wie es ihnen hat entgehen können, mag das daran liegen, dass sie wie ich in klassischen Verlagskategorien denken. Niemanns erstes weltweit erfolgreiches Buch, „Alphabet City“, erschien 2012 beim amerikanischen Abrams Verlag, und Knesebeck brachte die Übersetzung heraus. Bei „Sunday Sketching“ war es noch einmal genauso. Dann schlug aber auch schon der deutschsprachige Verlag zu, der die größte Illustrationstradition aufzubieten hat (und die besten Autoren: Steinberg, Ungerer, Sempé, Waechter, Loriot, Chaval, Bosc etc.): Diogenes. „Souvenir“ hieß Niemanns erstes Buch dort, und es war ein Augenschmaus in jeder Hinsicht. Seitdem ist der Illustrator dem Zürcher Verlag verbunden, auch als Umschlaggestalter, und mit „Away“ erscheint kommende Woche ein Buch, das ähnlich schön werden dürfte wie „Souvenir“. Doch „Idea Diary“ ist nicht bei Diogenes im Programm.

Sondern bei Christoph Niemanns eigenem Verlag, Abstractometer Press. Denn dieser Mann beherrscht nicht nur seine Kunst, sondern auch sein Geschäft. Die großen Häuser wollen das Leichtverkäufliche, Gefällige (wenn auch weiterhin Fulminante), also die wunderbaren Aquarelle mit romantischen Reiseimpressionen oder die meisterlich hingeworfenen Porträts. Aber mit der graphischen Strenge, die Niemanns beste Cartoons auszeichnen, erreicht dieser Könner die Kenner, und deren gibt es weniger. Für sie gibt es aber auch weniger Angebot, und in diese Lücke ist Niemann einfach selbst vorgestoßen: Sieben Bücher hat er bereits in Eigenregie herausgebracht, und eines ist beeindruckender als das andere. Die Preise sind durchaus stattlich: von dreißig bis hundert Euro. „Away“ wird übrigens 49 kosten, doch „Idea Diary“ liegt mit 85 noch um einiges jenseits. Aber es ist jeden Cent wert.

Auch der comicartigen Passagen wegen. In der Leseprobe von Niemanns Website, IDEA DIARY – Christoph Niemann Shop, kann man davon nichts sehen. Aber man dürfte sofort erkennen, mit was für einem Vergnügen und Witz da gezeichnet wird. Die Geniestriche von Christoph Niemann zu beschreiben, ohne sie zu zeigen, ist Hybris, deshalb hier nur zwei Ideen, die ich in ihrer Einfachheit brillant finde (und die ein gemeinsames Motivelement aufweisen): einmal eine zweiteilige Sequenz, deren erstes Blatt „last year“ untertitelt ist und einem Mann zeigt, auf den es herab regnet – eine simple Zeichnung, die die Tropfen als kurze Striche zeigt. Dann kommt das zweite Blatt: „this year“, und der Mann und die Regenwolke sind noch da, doch die Striche der Regentropfen stecken nur wie Nadeln im Körper des Unglücklichen. Nicht nur, dass es eine geniale Verschiebung des Bildinhalts bei identischer Ikonographie ist – einen böseren Kommentar zum Leben in unserer Epoche habe ich auch noch nicht gesehen.

Oder auch das Einzelbild eines Kamels als rote Konturzeichnung, doch an mehreren Stellen führt die Linie durch die Ösen von Nadeln. So virtuos widerlegt man ein Bibelwort: Diese Kamel geht nicht nur durch ein Nadelöhr, es geht durch deren sieben. Und es gibt etliche derartige Glanzideen, etwa die beiden Hände mit Stricknadeln (warum nicht noch einmal Nadeln?), mittels derer sie die Stahlstruktur des Eiffelturms herstellen. Oder eine Marionette, die mit losen Fäden am Boden liegt, aber in einer Hand noch ein Smartphone hält, das übers Ladekabel an eine Steckdose angeschlossen ist. Wie wir alle an Fäden hängen, wie man uns als Puppen tanzen lässt und wie die eigene Selbständigkeit weniger bedeutsam ist als die Teilnahme an immerwährender Kommunikation – das alles sagt diese Zeichnung aus.

Als Bildergeschichten möchte ich nur die sechsteilige einer Frau erwähnen, die sich aus ihrem anfangs kahlen Kopf Haare hervorkämmt, mit denen sie schließlich das ganze Bild so füllt, dass sie selbst unsichtbar wird. Es ist ein einem Escher würdiger Einfall, denn Niemann mit der Strenge eines Op-Art-Künstlers umsetzt. Und nun genug des Lobs, denn wenn ich alle Inspirationen und Assoziationen aufzählte, die mir durch den Kopf gehen, würde dieser Blog noch längst nicht publiziert sein. Und ich fürchte, dass ich eh nur einen Bruchteil dessen erfasse, was sich Christoph Niemann denkt.  

19. Mrz. 2023
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10. Mrz. 2023
von andreasplatthaus
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Wienschmerz statt Weltschmerz

So, wie ich den Anspruch habe, von einigen Comicautoren alles im Regal zu haben, gibt es ähnliche Bestrebungen auch bei Filmen. Aber nur von einem meiner Lieblingsregisseure besitze ich tatsächlich das komplette Werk auf DVD: Akira Kurosawa. Und seine Autobiographie zählt zu den erhellendsten Büchern übers Kino. Wie mag es da erst bei einem Comic eines meiner Lieblingszeichner sein, wenn der den Titel „Akira Kurosawa und der meditierende Frosch“ trägt? Anders ist es, ganz anders, aber nicht etwa, weil es dem Band an Qualität mangelte.

Vorausgeschickt sei, dass ich von diesem Lieblingszeichner – es ist Nicolas Mahler – beileibe nicht alle Bücher im Regal habe. „Akira Kurosawa und der meditierende Frosch“ ist sein 58. Buch, und eine rasche Durchsicht fördert bei mir gerade mal knapp über dreißig Mahler-Comics zutage. Nun hat der 1969 geborene Wiener Zeichner lange gebraucht, um den verdienten großen Erfolg einzuheimsen: bis 2011, als seine Comicadaption von Thomas Bernhards Roman „Alter Meister“ erschien – das war Comic Nummer 38 in seiner Publikationsliste, und zahlreiche Titel darauf entfielen auf kleine Heftproduktionen in Winzverlagen, die heute kaum mehr aufzutreiben sind. „Alte Meister“ dagegen erschien bei Suhrkamp, wie seitdem der größte Teil des Mahlerschen Werks, wobei er auch noch jenen Verlagen die Treue hält, die ihn schon vor dem großen Erfolg publizierten: Reprodukt, Edition Moderne, Luftschacht.

„Akira Kurosawa und der meditierende Frosch“ ist wieder mal eine Reprodukt-Veröffentlichung. Und ein Etikettenschwindel. Das räumt Mahler in einem zwölfseitigen „Materialien“-Anhang auch selbst ein. „Falls Sie dieses Buch nur gekauft haben, um Ihre Akira-Kurosawa-Sammlung zu komplettieren: Entschuldigung!“ Denn Kurosawa ist auf den 110 Seiten zuvor gar nicht vorgekommen – im Gegensatz zu seinem Titelkollegen, dem meditierenden Frosch. Der hat einen Auftritt in „Kyoto Manga“, dem mit mehr als zwanzig Seiten längsten der insgesamt vierzehn Kapitel des Comics. Darin erzählt Mahler von seinem Besuch im Mangamuseum der alten japanischen Kaiserstadt Kyoto, und da ich da auch einmal gewesen bin, kann ich bestätigen, dass Mahle mit der für ihn typischen spartanischen Linienführung ein ebenso detailreiches wie akribisch genaue Porträt des Museums und dessen Eigentümlichkeiten zeichnen. Sehr unterhaltsam, sehr abgedreht. Auf demselben Niveau also wie Mahlers Meisterstück (in meinen Augen): der ebenfalls in Japan angesiedelte Band „Das Ritual“, hochgelobt vor fünf Jahren hier in diesem Blog (Männer, die in Gummi randalieren – Comic (faz.net)).

Der Rest des neuen Comics hat indes mit Japan nichts zu tun. Es ist eine Folge kurzer autobiographisch und/oder poetologisch motivierter Betrachtungen von der unverwechselbaren Mahlerschen Lakonie und Komik. Da wird die bisweilen unverständige Rezeption seiner Comics ebenso zum Thema wie deren Erfolg. Und manche austriakische Skurrilität, wie man etwa den zwei in der Leseprobe des Verlags eingestellten Kapiteln entnehmen kann: Akira Kurosawa und der meditierende Frosch – Reprodukt. Wer an Wienschmerz statt Weltschmerz leidet, ist hier genau richtig.

Übrigens zeigt das Literaturhaus Leipzig gerade eine Mahler-Ausstellung mit dem Titel „Schreibt der jetzt für Sie?“, die sich den Literaturadaptionen des Zeichners widmet: Bernhard, Artmann, Musil Jelinek, ein österreichisches Quartett also, passend zum Ehrengastland der diesjährigen Leipziger Buchmesse, deren Termin Ende April denn auch den Schlusspunkt der Schau darstellt. Zuvor macht Nicolas Mahler aber noch eine Pre-Finissage am 26. April. Man muss ihn mal persönlich erlebt haben, um zur Gänze zu begreifen, was für ein Genie da am Werk ist. Ich werde mich jedenfalls doch noch auf die Suche nach den mehr als zwanzig Publikationen machen, die in meinem Bestand fehlen. Nicht dazu zählt übrigens das Faltblatt zur Leipziger Ausstellung, in dem Mahler eine Erinnerung von Thomas Bernhards Schwester ins Bild setzt: an das Verhalten des Schriftstellers beim Schuhkauf. Diese achtseitige Erzählung erschien schon früher anlässlich einer Wiener Ausstellung, doch nun kann man sie endlich auch in Deutschland lesen. Egal, ob mit Oeuvrezahl oder ohne: Mahler kann man nie genug haben, weil man von ihm nicht genug bekommt. Heute Abend (Freitag, 10. März) ist Buchpremiere von “Akira Kurosawa und der meditierende Frosch” in Berlin: in der Bezirkszentralbibliothek (schönes Oxymoron) Pablo Neruda. Leider ist sie schon ausgebucht, aber am 29. März kommt Mahler mit seinem Comic auch noch ins Münchner Literaturhaus.

10. Mrz. 2023
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05. Mrz. 2023
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Sprachloses Heimweh

Das Besondere an „Bella Ciao“ sind die Zeitebenen. Ansonsten ist alles so, wie wir es von Barus Comics seit nahezu vierzig Jahren kennen: ohnehin grandios. Nur diesmal noch einfallsreicher. Dabei erzählt Baru scheinbar immer dasselbe: Er ist der Chronist der France profonde, aber einer anderen als der üblich ländlichen: eines Frankreichs der kleinen Leute, die sich aus den Familien von eingewanderten Industriearbeitern rekrutiere, in seinem Fall eingewandert aus Italien nach Lothringen, wie Barus Eltern, das Ehepaar Barulea. Solche Italiener in Frankreich gaben ihren Kindern zwar französische Vornamen (Baru heißt bürgerlich Hervé Barulea), aber sie sprechen untereinander weiterhin Italienisch. Manche sogar ein Leben lang ausschließlich, also nie mit Franzosen. Wie Pasquale in „Bella Ciao“.

Nehmen wir ihn, die unvergesslichste Figur dieses Comics,  als Beispiel für die Zeitebenen. Im Zentrum des Geschehens steht die Kommunion von Baru selbst, denn dieser Comic gibt sich autobiographisch. Also sind wir im Jahr 1955 oder 1956, denn Baru kam 1947 zur Welt. Man erkennt die Zeitebene der an der abendlichen Festtafel ausufernden Familienfeier an den nahezu monochrom gelben Hintergründen. Nur bisweilen werden Details des Hausrats oder der Wohnung selbst ins Bild gesetzt, alles konzentriert sich auf die große Runde aus Angehörigen und Freunden der Familie, die sich eine Geschichte nach der anderen erzählen oder durch ihre Anwesenheit an ihre jeweiligen Schicksale erinnern., die dann Baru aus der heutigen Sicht Revue passieren lässt.

Was sich vor der Mitte der fünfziger Jahre abspielt, ist im Kontrast zum intensiven Gelb der Kernerzählung farblich wie ausgeblichen, bisweilen fast schwarzweiß mit jeweils einem kräftigen Farbakzent wie etwa dem Rot im ersten Kapitel, „Camizia rossa“ (Rothemd), nach dem berühmten Accessoire der Garibaldi-Anhänger (BELLA_CIAO_2_inhalt_001-016_v1.pdf (edition52.de) – leider ist diese Leseprobe der Edition 52 schwarzweiß gehalten. Warum? Keine Ahnung, obwohl es auch so gut aussieht). Diese Farbakzentuierung fand auch schon im ersten Band von „Bella Ciao“ statt, der mit einem ausländerfeindlichen Angriff von Franzosen auf die unerwünschten Zuwanderer begann. Baru geht gerne von der großen Geschichte ins Spezielle. Hier, im zweiten Band der Trilogie, „Bella Ciao (due)“ – der dritte ist in Frankreich schon erschienen, aber die Edition 52 lässt sich als deutscher Verlag nicht hetzen bei ihren sorgfältigen Übersetzungen –, wird auch wieder nach dem großen historischen Auftakt mit einer Episode aus dem Ersten Weltkrieg, in dem Hervés Großvater gekämpft hat, alles ganz privat – und doch politisch. Womit wir wieder bei Pasquale angelangt wären.

Der ist einer der Kommunionsgäste und berühmt-berüchtigt für seine spontanen Aufbrüche mit dem Fahrrad in Richtung Italien, wenn ihn das Heimweh übermannte. Doch er kam nie weit. Pasquale ist ein Beispiel für jene italienischen Gastarbeiter, die sich immer nur zu gast, aber nie zu Hause in Frankreich fühlten und auch nie Französisch sprachen. Bis zum Jahr 1979, als eine Demonstration gegen die Schließung der Fabrik, in der Pasquale arbeitete, eskalierte und er als einer der Protestierenden im Fernsehen gezeigt wurde und in die Kamera ein paar französische Sätze sagte: zur Verblüffung aller, die ihn kannten. Wenig später brach er wider nachts mit dem Fahrrad auf, und diesmal kam er nicht zurück. Er starb am Straßenrand. Es ist die bewegendste Geschichte bislang in „Bella Ciao“, was einiges heißen will.

Sie spielt zuletzt wie gesagt 1979, also ein Vierteljahrhundert nach der Kommunionsfeier. Deshalb ist sie im Gegensatz zu den vorgängigen Episoden bunter gehalten als die Kernerzählung. So signalisiert Baru auf einen Blick die Position in der Chronologie, obwohl es wie in tatsächliche Familiengesprächen ständig durcheinander geht bei den Personen und Zeiten. Einzeln Kapitel von „Bella Ciao“ bieten vier Zeitebene, die von Panel zu Panel wechseln können. Die späteste ist übrigens streng schwarzweiß gehalten: Sie zeigt Baru im heutigen Alter, also längst jenseits der siebzig, bei den Recherchegesprächen für „Bella Ciao“ – die vor allem ein großer Lobpreis für die Kochkünste seiner Informantinnen aus befreundeten italienischstämmigen Familien sind. Inklusive gezeichneter Rezepte zum Nachkochen, diesmal Tiramisu.

Klingt das jetzt gefällig? Es ist gefühlig, man merkt Barus persönliche Haltung, seine Nostalgie, die immer schon ein Antrieb seines Erzählens war, aber hier zum ersten Mal auch wohlig wird, nicht mehr nur sarkastisch wie in den großen Klassikern wie „Quequette Blues“, „Autoroute du soleil“ oder „Sur la route encore“. Aber gefällig ist hier gar nichts, auch wenn mir „Bella Ciao exzellent gefällt. Das Buch ist durchzogen von Dramen, diesmal namentlich in einer Episode, die im Faschismus unter Mussolini spielt. Ständig sind in den Bänden dieser Trilogie Barus eigener Zorn und seine Trauer spürbar angesichts der Schicksale, um die es darin geht. Und gleichzeitig die Faszination des Autors für diese seelen- und blutsverwandten Außenseiter, die sich ihre eigene Welt geschaffen haben. „Bella Ciao“ ist der beste Comic über Zuwanderung, den es gibt. Gerade weil er so sprunghaft ist, wodurch das Kaleidoskop der individuellen Leben zum großen Gesamtbild wird, das einem das Gefühl gibt, mitten in dieser italienischen Kolonie zu sitzen und sie zu verstehen in all ihrer Lebensfreude, ihrem Heimweh, ihrer Wut und ihren Anekdoten. Ich kann die des dritten Bandes kaum abwarten.

05. Mrz. 2023
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26. Feb. 2023
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Chimären und andere Körper

Man könnte es sich leicht machen und den Comic „Hort“ der Hamburger Zeichnerin Marijpol zum Buch der Stunde erklären. Das täte ihm unrecht, denn auch wenn es wohl kein anderes graphisches erzählendes Werk gibt, das body positivity und Genderfluidität intensiver ins Szene setzt, geht doch das was in „Hort“ erzählt wird, weit über diese omnipräsenten Schlag-, bisweilen auch Erschlagworte des woken Narrativs hinaus. Marijpols Comic, kürzlich bei der Edition Moderne erschienen und satte 360 Seiten stark, hat Raum auch für die Themen Mutterschaft und Klassismus, für Doping, Kinderarmut, Großstadtanonymität – und damit wären wir noch längst nicht fertig.

Es gibt sechs Hauptfiguren in Hort: drei erwachsene Frauen und drei noch ziemlich kleine Kinder (zwei Brüder und ihre etwas ältere Schwester). Die Frauen wohnen zusammen: Petra ist Bodybuilderin, Ulla von überaus kräftigem Körperbau und Denise schließlich durch eine Operation halb Mensch, halb Schlange – ihr rechtes Bein und ihr linker Arme sind die äußeren Enden dieses Reptils, und auch wenn Denise behauptet, dass sie die Kontrolle über ihren Chimärenkörper hat, besitzt die linke Hand doch ihren eigenen Kopf, nämlich das Schlangenhaupt. Und so ganz klar ist die Dominanz im Körper von Denise nicht. Entsprechend misstrauisch begegnet ihr die Umwelt, aber das ist bei der starken Petra und der riesigen Ulla kaum anders. Warum, davon bekommt eine Vorstellung, wer sich die Leseprobe ansieht: Marijpol: «Hort» – Edition Moderne.

Die Körpermanipulation zeigt schon: „Hort“ ist in einer Zukunftsgesellschaft angesiedelt, aber einer in moderatem zeitlichen Abstand zur unseren, und die Ängste und Abneigungen gegenüber als andersartig empfundenen Menschen sind noch dieselben wie heute. Überhaupt gibt es außer der manipulativen Mensch-Tier-Vermischung (für die Denise nur ein Beispiel ist) und dem Ausmaß der Sitzmöbel (in Form gigantischer Hände) in der Wohnung der drei Frauen keine Abweichungen vom uns vertrauten Leben, aber diese Science-Fiktionalisierung gestattet Marijpol en freieres Erzählen. Wie Ulla zu ihrem Körperbau kam oder Petra zu ihren Muskelproportionen, bleibt im Gegensatz zum gesellschaftlichen Stigma von Denise unerwähnt. Betreffs des Bodybuildings erfährt man allerdings, dass dabei nicht alles mit gesundheitsrechter Ernährung vor sich ging. Dieser Strang der Erzählung dürfte die Keimzelle des gesamten Bandes „Hort“ gewesen sein.

Die drei Kinder, Ilse, Jörg und Dieter, leiden an einer genetischen Störung, weil die Eltern – so zumindest die Vermutung der drei Frauen – Kinder mit flauschigem Katzenfell haben wollten. Wo Schlangenglieder anoperiert werden können, sollte Fellapplikation auf menschlicher Haut kein größeres Problem sein. Dadurch sind auch die Geschwister Außenseiter, doch ihr Aussehen wird gar nicht groß thematisiert. Viel wichtiger ist, dass ihre alleinerziehende Messy-Mutter sie regelmäßig auf längere Zeit verlässt, so dass die Kinder in der völlig überfüllten Wohnung zurückbleiben und für sich selbst sorgen müssen. Dass das nicht normal ist, empfinden sie durchaus, obwohl sie es doch gar nicht anders kennen.

„Hort“ heißt der Comic, weil die drei Frauen für die drei Kinder einen solchen bieten: Sie nehmen sich der Verwaisten an und bieten ihnen erstmals so etwas wie Geborgenheit – als selbst Ausgegrenzte. Das ist fast zu schön, um wahr zu sein, und was nun wirklich schön ist, das ist, dass am Ende wider allen Erwartungen und aller in Marijpols Gesellschaftsbeobachtung spürbaren Skepsis die Sache gut ausgeht. Und was der Gipfel ihres Erzählgeschicks ist: Wir bekommen die Mutter der drei Kinder nie zu Gesicht und gewinnen sie trotzdem lieb. Warum, das ist mir bis heute immer noch nicht klar. Aber es ist so.

Deutet nun die monochrome lila Farbgebung auf einen feministischen Comic hin? Der bewusst mit Mut zur Lücke gewählte Stil (die Hintergründe mal akribisch detailliert, dann nahezu abstrakt) auf die Unvollkommenheit jeglichen Körperverständnisses? Mag so sein, ist aber nicht wichtig für die Wahrnehmung eines der verblüffendsten deutschsprachigen Comicprojekte der jüngeren Zeit. Auf dass man sich einlassen muss, um selbst die ersten Ekelgefühle angesichts der körperlichen Deformationen zu überwinden, aber wie man es sich wünscht, wirken sie schließlich ganz normal, wenn man sich auf die Akteure einlässt. Im Comic geht das leicht. Und im richtigen Leben? Diese Frage ist die wohl wichtigste Leseerkenntnis aus „Hort“.

26. Feb. 2023
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20. Feb. 2023
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Dreihundertsiebenunddreißig Jahre sind doch kein Abstand!

Wieder einmal ein Comic, der mir unverlangt zugesandt wurde. Und wieder einer, der mein Interesse geweckt hat, kaum dass ich ihn aufgeschlagen hatte. „Hamburg 1686“ heißt er, und genau um diesen Ort in diesem Jahr geht es. Das ist kein mythisches oder allgemein bekanntes historisches Hamburg, also nicht das Hamburg aus der Störtebeker-Saga und nicht das Hamburg aus dem Feuersturm des Zweiten Weltkriegs. Nicht das Hamburg als wikingerbedrohte Bischofsstadt am Rand der christianisierten Welt und nicht das Hamburg der Auswandererschiffe im neunzehnten Jahrhundert. Es ist das Hamburg einer Zwischenzeit. Der Dreißigjährige Krieg liegt vierzig Jahre zurück, doch dessen Folgen sind noch nicht überwunden. In der dennoch einigermaßen wohlhabenden Kaufmannsstadt tobt ein sozialpolitischer Konflikt. Er wird blutig enden.

Natürlich ist das Vorbild für die Comicerzählung historisch real. Till Lenecke hat sie auf der Grundlage des Sachbuchs „Eine Stadttour durch Hamburg im Jahr 1686“  von zwei Historikern, Claudia Heise und Daniel Bellingrath, gezeichnet, und mit dem Weißblech Verlag hat sich ein Haus der Publikation angenommen, das schon immer aufs alternative deutsche Comicgeschehen geblickt hat – hier einmal nicht avantgardistisch alternativ, sondern traditionell alternativ: „Hamburg 1686“ kommt als schwarzweiße realistisch gezeichnete und in den Dekors akribisch recherchierte Bildergeschichte daher – in allem also das Gegenteil der aus den Hochschulen stammenden neuen Welle höchst subjektiver Autorencomics. Wer’s nicht glaubt, sehe es sich auf den leider nur vier Beispielseiten der Verlagshomepage an: Hamburg 1686 (weissblechcomics.com).

Was ich an diesem Comic mag, ist Folgendes: Erst einmal lerne ich etwas. Und das, was man daraus über die Geschehnisse des ausgehenden siebzehnten Jahrhunderts in Hamburg erfährt, darf Relevanz fürs Geschichtsverständnis auch noch folgender Epochen mindestens bis zum Ersten Weltkrieg beanspruchen. Die spezifische Gliederung und Verfasstheit eines Handelsstadtstaats erzählt mehr über Sozial- und Demokratiegeschichte als Historiographie zu Monarchien.

Dann mag ich den Anspruch von „Hamburg 1686“: Geschichte sichtbar zu machen. Till Lenecke, 1972 in Hamburg geboren, lehrt mit diesem Impetus seit vergangenem Jahr an der Hafen-City-Universität und hatte zuvor eine Dozentur an der Burg Giebichenstein in Halle/Saale inne. Jeder, der sich für Comics interessiert, weiß, dass an der Burg seit vielen Jahren Georg Barber alias ATAK Professor für Illustration ist – seine Kunsthochschulklassen sind wichtige Teile der deutschen Comicrenaissance. Gleichzeitig sind wohl kaum gegensätzlichere Bildästhetiken denkbar als die von Lenecke und ATAK. Aber dass diese beiden Zeichner trotzdem an derselben Hochschule gelehrt haben, zeigt die Offenheit des Metiers.

Natürlich haben es pädagogisch interessierte Comics wie „Hamburg 1686“ schwer am Markt, zumal bei lokalem Fokus. Und das ist schade, denn eine dynamische Szene braucht auch handwerklich herausfordernde Projekte, die nicht gleich vom allerinnerlichsten Antrieb der Autoren getrieben sind. Lenecke, Heise und Bellingradt stellen ihr Erzähltalent in den Dienst von Wissensvermittlung, nicht primär der Selbstverwirklichung. Das verlangt nach Bescheidenheit und Dienst ebenso am Medium wie am Publikum. Möge dieses Regionalprodukt Aufmerksamkeit auch jenseits der Elbufer finden.

20. Feb. 2023
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14. Feb. 2023
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Licht auf „Licht“

Dieser Blog-Eintrag ist ein Experiment, das seinen Grund darin hat, dass sich die eigenen Überlegungen zu einem Comic durch dessen Autoren überprüfen lassen können. Es geht um „Stockhausen – Der Mann, der vom Sirius kam“, vor kurzem erschienen bei Carlsen und nur der erste, aber mächtige (fast 400 Seiten!) Teil eines – ja, was denn nun? Man könnte meinen, es handelte sich um eine der zahllosen Comicbiographien, die seit einem Jahrzehnt in Deutschland publiziert werden, aber tatsächlich ist es eine kombinierte Biographieautobiographie, wie man gleich zu Beginn sieht. Denn da bekommen wir es erst einmal nicht dem Komponisten Karlheinz Stockhausen zu tun, sondern mit der Kindheit des (auch prominenten) Szenaristen dieses Comics: Thomas von Steinaecker, eines Zeichens hochdekorierter Romancier, Sachbuchautor, Filmemacher und nun eben auch Comicautor.

In Bilder gesetzt hat dessen Stockhausen-Projekt David von Bassewitz, einer der erfolgreichsten deutschen Illustratoren, der in Sachen Comics bislang nur mit „Vasmers Bruder“ von 2014 auffällig geworden ist. Das war ein Band aus dem Zyklus, den der Szenarist Peer Meter historischen Mördern  gewidmet hat, und einen anderen Comic aus dieser Reihe, „Gift“,  hatte seinerzeit Barbara Yelin gezeichnet. Die wiederum Thomas von Steinaeckers ersten Comic, „Der Sommer ihres Lebens“, mitgeschrieben und illustriert hat. So fügen sich die Dinge.

Wir sind abgeschweift. Was hat Steinaecker mit Stockhausen zu tun, so dass man von einer Biographieautobiographie sprechen kann? Der damals zwölfjährige Thomas von Steinaecker begeisterte sich im Umbruchjahr 1989 für Stockhausens Musik und lernte ihn wenig später persönlich kennen. Beide wurden trotz fast fünfzig Jahren Alter4sunterschied Freunde, und Steinaecker kann deshalb aus eigener Anschauung vom vielfach verschrienen Avantgarde-Mystiker-Komponisten erzählen. Und er erzählt eben auch von sich: was ihn als Kind an Stockhausen faszinierte. So gibt es neben der Komponistenbiographie auch ein Zeitbild der späten Achtziger in „Stockhausen“. Und im noch ausstehenden zweiten Band werden dann wohl die nächsten zwei Jahrzehnte (Stockhausen starb 2007) in den Fokus geraten, wenn die Lebenswege der beiden Männer sich tatsächlich kreuzen. Denn das tun sie im ersten Band noch nicht.

Alles bisher geschriebene entstand vor dem Abend des 7. Februars 2023, an dem ich einen Abend im Frankfurter Literaturhaus moderieren werde, an dem Steinaecker und Bassewitz ihren Comic vorstellen und aus ihm lesen. Wenn nun kursivierte Passagen in diesem Blog folgen, sind es Erkenntnisse, die aus diesem Abend hervorgegangen sind, der mir ermöglichen wird, den beiden Autoren meine Sicht ihres Comics und meine Fragen an ihn zu präsentieren – und von ihnen Letztere beantwortet und Erstere entweder bestätigt oder revidiert zu bekommen.

Zunächst ein Blick in den Comic: Unter Stockhausen – Der Mann, der vom Sirius kam | Carlsen kann man die erste vierzig Seiten lesen. Inhaltlich bietet das sehr viel über Steinaecker, noch wenig über Stockhausen. Trotzdem ist die Parallelführung der beiden Kindheiten deutlich: 1989 und 1938, eben jene fünfzig Jahre Abstand und zwei komplett gegensätzliche Systeme und Familien, doch trotzdem sind beide Knaben Getriebene, und sie leben in ihren eigenen Welten. Bei Steinaecker ist es eine popkulturell bestimmte (die Anspielung an „Asterix“ gleich zu Beginn!), bei Stockhausen durch eine uns heute traditionell erscheinende Kultur (Hausmusik, Comedian Harmonists im Radio) geprägte.

Thomas von Steinaecker besuchte Stockhausen in dessen Haus im bergischen Kürten, und wurde Teil der Corona um den Komponisten – wohl als eine Art Maskottchen, dessen noch kindliche Begeisterung schon einher ging mit großem Eifer, das Werk Stockhausens zu verstehen. Dementsprechend wurde er vom Umkreis des „Meisters“, wie Stockhausen von den Weggefährten heute noch genannt wird,  akzeptiert, ja gewissermaßen adoptiert – Steinaecker spricht von einer Rlle als „kleiner Bruder“ der Stockhausen-Söhne Markus und Simon, die damals noch als Musiker eng mit ihrem Vater zusammenarbeiteten. Diese Kontakte rissen auch nie ab; sie verschafften Steinaecker einen Vertrauensvorschuss, als er mit seiner Idee, Stockhausens Biographie als Comic zu erzählen, zu den beiden Verwalterinnen des Nachlasses in Kürten ging, und Bassewitz profitierte vom biographischen Archivmaterial, das dadurch bei der Zeichnerarbeit für Detailansichten und Figurenausgestaltung zur Verfügung stand. Und die Stockhausen-Partituren haben Bassewitz an Seitenarchitekturen von Comics erinnert.

Doch noch viel interessanter ist die von Bassewitz gewählte graphische Form: keine Panelumrahmungen, also offene Form – so offen eben wie die erzählte Handlung aus dem subjektiven Blickwinkel von Steinaeckers. Barbara Yelin hatte das bei „Der Sommer ihres Lebens“ genauso gehalten. Ist das eine Steinaecker’sche Vorgabe an seine Zeichner?

Nein, antwortet er, es sei Zufall gewesen, dass beide di3eselbe Entscheidung getroffen hätten. Yelin habe sehr viel mehr Einfluss auf das Szenario genommen, damit habe er erst einmal als Schriftsteller zurechtkommen müssen. Seitens Bassewitz‘ habe es gar keine Veränderungswünsche geben, und der Zeichner betont seinerseits, dass er sich ganz als Dienstleister am Steinaecker’schen Szenario verstanden habe, das ihn durch die darin enthaltene Selbstironie sofort  überzeugt habe.

Dann aber vor allem die Visionen, die Bassewitz ins Bild setzt – Klangerfahrungen vor allem. Der Zeichner ist Jahrgang 1975, aber warum sollte er sich nicht von jenen Zeichnern inspiriert haben lassen, die Mitte der achtziger Jahre mit malerischen Mitteln den amerikanischen Comic umkrempelten: Dave McKean und vor allem Bill Szienkiewcz. Wer jemals des Letzteren Miniserie „Stray Toasters“ gesehen hat, dürfte in „Stockhausen – Der Mann, der vom Sirius kam“ einiges bekannt finden. Und es passt jeweils zu dem assoziativen Erzählen der Geschichten.

Natürlich, sagt Bassewitz hätten ihn Szienkiewicz und McKean mit ihren Arbeiten beeindruckt, aber noch mehr Enki Bilal und Moebius, überhaupt die frankobelgischen Comics. Davon habe es als junger Zeichner gelesen, was er kriegen konnte.  Bei den Klangvorstellungen er Stockhausen-Figur im Comic habe er aber auch nach Prinzipien der surrealistischen écriture automatique gezeichnet: Ausgehend von der Objektform der Geräuscherzeugung, etwa einem Flugzeug, seien abstrahierter Formen entstanden, um die Vorstellungen abzubilden.

Was für Licht werfen Steinaeckers Vertrautheit und Bassewitz‘ bildende Interpretation auf ein Mammutunternehmen wie „Licht“, den berühmt-berüchtigten siebenteiligen Opernzyklus von Stockhausen, mit dem er Wagners „Ring“ vom Musiktheaterthron stoßen wollte? Und wie kann man überhaupt Töne in Bilder setzen? Genau diesen Fragen synästhetischer Natur stellte sich auch immer wieder Stockhausen als Musikdramatiker. Ist der Comic also der Versuch einer graphischen Umsetzung des Stockhausen’schen Kompositionsprinzips? Und wenn ja: Dokumentiert er Hybris? Und bei wem? Bei Stockhausen oder bei Steinaecker(Bassewitz?

Steinaecker sieht in Stockhausen ein Gegenbild zu sich selbst, denn das Messianische, Selbstbezogene sei seine eigene Sache gerade nicht. Deshalb sei der Comic auch ein Dienst an Stockhausen und dessen Musik, nicht eine Autobiographie. Er selbst höre immer noch jede Woche Stockhausen, daran habe sich trotz Abschied aus dem Umfeld des Komponisten nichts geändert. Bassewitz wiederum, der sich selbst einen „musikalischen Analphabeten“ nennt, ist während der Arbeit nicht für Stockhausens Kompositionen gewonnen worden, doch der Reiz, durch die Arbeit am Comic etwas über dessen Musik zu erfahren, war groß genug.

In Thomas von Steinaeckers letzten Buch vor dem Stockhausen-Comic, „Ende offen“, erschienen 2021, ist eines der darin enthaltenen essayistischen Kapitel über Torso gebliebene (Groß-)Kunstwerke dem „Klänge“-Zyklus gewidmet, an dem Stockhausen bis zu einem Lebensende gearbeitet hat. Es ist bemerkenswert, dass in diesem Text kein Hinweis auf Steinaeckers persönliche Bekanntschaft mit dem Komponisten zu finden ist. Hat er sich diesen Clou für den damals schon längst in Arbeit befindlichen Comic aufgespart, oder kann man als Comicszenarist offener von sich selbst sprechen als in einem Sachbuch, weil zwischen Ich und Publikum noch die Interpretation des Erzählten durch den Zeichner David von Bassewitz tritt?

Das bejaht Steinaecker entschieden. Über sich selbst zu schreiben könne er sich nicht vorstellen, aber durch die Brechung in Film oder Comic werde es möglich. Und ohne die eigene Geschichte gebe es ja keine Legitimation für den Stockhausen-Comic. Wobei der, wie Steinaecker, sagt, viel Neues gegenüber der bisherigen biographischen Forschung biete. Aus eigenen Gesprächen mit Stockhausen stammt etwa dessen Erinnerung an den Besuch bei der in einer Heilanstalt einsitzenden Mutter und den damaligen dramatischen Verlauf. Dass Stockhausens Mutter im Euthanasieprogramm der Nazis ermordet worden ist, wisse die Öffentlichkeit erst seit zehn Jahren, also nach dem Tod des Komponisten. Ihm aber habe Stockhausen noch davon erzählt.

Eines jedenfalls ist sicher, auch noch ohne Kenntnis der Fortsetzung: Dieser Comic ist in seiner Ausgestaltung ein Meilenstein. Wieviel man davon Thomas von Steinaecker zusprechen muss und wieviel David von Bassewitz, darüber will ich hier noch nicht spekulieren: das frage ich die beiden heute Abend im Frankfurter Literaturhaus.

Und die Antwort ist eigentlich schon durch die vorherigen Äußerungen  gegeben worden: Bassewitz hatte gar nicht die Absicht, über Steinaeckers Szenario hinauszuerzählen. Umso beeindruckender sind seine Bildlösungen geworden, die sämtlich am Computer entstanden sind, nachdem die Arbeit an „Stockhausen“ vor sieben Jahren noch klassisch begonnen worden war. Sieben Jahre – der Zeitraum sprengte die Vorstellungen beider Beteiligter, und dass jetzt ein Band erschienen ist, der am Schluss eine Fortsetzung ankündigt (die ähnlich umfangreich ausfallen wird), ist nur dem Umstand zu verdanken, dass beide den Verlag nicht länger warten lassen wollten. Zum Glück sei die Ausgabe sehr gut aufgenommen worden, von der Kritik, aber auch vom Publikum. Das werde das Erscheinen auch des zweiten Bandes bei Carlsen gewährleisten. Dass der voluminöse „Stockhausen“-Comic so prachtvoll gedruckt und dennoch für „nur“ 44 Euro angeboten werden kann, verdankt sich indes einer Kalkulation, die nicht allein Marktgesetzen gehorcht. Aber die Leidenschaft Thomas von Steinaeckers für Karlheinz Stockhausen hat eben ihren Preis.

14. Feb. 2023
von andreasplatthaus
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06. Feb. 2023
von andreasplatthaus
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Was den Pottwal am Riesenkalmar verärgert

Tom Gauld ist der Comictraum des Buchhandels. Einmal wegen seines Erfolgs. Spätestens mit seinem im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienenen Bilderbuch “Der kleine Holzroboter und die Baumstumpfprinzessin” (Moritz Verlag, übersetzt vom Bilderbuchkollegen Jörg Mühle) hat der schottische Zeichner die Welt erobert: Man kann all den Übersetzungen, die Gauld auf seinem Instagram-Account dokumentiert, kaum noch folgen. Aber mehr noch als die rein kommerzielle Kompetenz ist Gaulds Bücherliebe zu nennen, die sich in seinen Comic-Strips  für die britische Tageszeitung “The Guardian” artikuliert. Man nehme nur einige Titel der diversen Sammelausgaben: “The Snooty Booshop”, “Baking with Kafka” oder jüngst “The Revenge of the Librarians”.

Letzteres Buch ist jetzt gerade auf Deutsch erschienen, bei der Edition Moderne, Gaulds deutschem Stammverlag, als “Die Rache der Bücher”. Die Veränderung des Titels ist etwas seltsam, denn auch wenn Bücher bei Gauld durchaus ein Eigenleben als Figuren annehmen können, sind Bibliothekare doch weitaus häufiger anzutreffen. Und noch mehr Aufmerksamkeit widmet der Zeichner den Schriftstellern. Für einen Mittvierziger ist diese Faszination selbst faszinierend, denn man sollte nicht denken, dass eine derart traditionelle Vorliebe beim gegenwärtigen Zeitungspublikum gut ankommen würde. Wobei der “Guardian” zwar politisch links steht, aber ein kulturkonservatives Publikum hat.

Entsprechend liebevoll-bösartig geht Gauld mit dem Literaturbetrieb um. Seine Schriftsteller sind samt und sonders überempfindliche Nervenbündel, deren gute (Schreib-)Absichten von ihren geschäftstüchtigen Verlegern und sonstigen wohlmeinenden Kommentatoren konterkariert werden. Es gibt aber auch genug Strips unter den mehr als 140 nun publizierten Episoden, die auf literarische Meisterwerke anspielen und somit ein geistiges Bündnis zwischen Zeichner und Lesern beschwören, das bei der Lektüre das wohlige Gefühl eigener Belesenheit erzeugt. Mit Gauld macht man Bücherratten glücklich.

Freunde origineller Cartoons genauso. Denn Gauld hat einen unverkennbaren Stil entwickelt, der mit denselben Abstraktionen wie Chris Ware arbeitet und somit den Text gegenüber den Zeichnungen in den Vordergrund schiebt. Die Leseprobe des deutschen Verlags macht es deutlich: https://www.editionmoderne.ch/buch/die-rache-der-buecher/. Einfach das Buch anklicken, und dann bekommt man einen Querschnitt durchs Buchs und dessen Themen. Und wer mit der Graphik hier nicht zurecht kommt, sollte auch seine Finger von Gauld lassen, aber Hand aufs Herz: Kann man es noch besser machen?

Es dürfte mittlerweile klar geworden sein: In diesem Blog werden keine Gauld-Gags nacherzählt. Weil man das gar nicht kann. Die Sprache seiner Cartoons ist dafür viel zu gedrechselt, eben selbst literarisch. Man nehme nur aus leicht erkennbaren persönlichen Gründen dieses eine Beispiel: “Der Pottwal und der Riesenkalmar waren nie gute Freunde gewesen, aber als in der FAZ die ätzende Kritik des Tintenfischs zum zweiten Gedichtband des Wals erschien, wurden die beiden zu Todfeinden.” Das klingt schon gut (Christoph Schuler hat wunderbar übersetzt, wenn man von ein paar wenigen Helvetismen absieht und toleriert, dass der in einer Episode zitierte letzte Satz aus Prousts “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”, der einem schmelzenden Schneemann vorgelesen wird, gar nicht der letzte des Romanzyklus ist, sondern “nur” der des ersten Teils, “In Swanns Welt”) und ist noch besser illustriert, nämlich im Stil eines Holzschnitts aus einem Abenteuerbuch des neunzehnten Jahrhunderts, aber natürlich à la Gauld. Meisterhaft!

Und so könnte man diesen Autor munter weiterpreisen, etwa für seine Variationen auf die Männerfreundschaft zwischen Odysseus und Polyphem oder für die von ihm dokumentierten Bemühungen von Jane Austen, die richtige Besitztümer für den Junggesellen aus dem ersten Satz von “Stolz und Vorurteil” zu finden. Es gibt einen Beckett-Adventskalender, und wir erfahren, was dem “Ulysses” geblüht hätte, wenn Joyce auf seine Verlegerin gehört hätte. “Die Rache der Bücher” ist eine Quelle nie versiegenden Vergnügens an und mit Literatur, und zugleich ist dieses Buch ein Best-of eines der derzeit besten Comic-Strips überhaupt. Dass der “Guardian” bei all seinen jüngeren Bemühungen, die Humorsektion diverser und geistesbarrierefrei zu gestalten, Gaulds bereits seit 2005 laufende brillante Serie ausgespart hat, ehrt ihn und freut uns. Dass man dann auch noch solch schöne Bücher mit dem Material präsentiert bekommt, ist fast zu viel des Glücks. Übrigens noch ein auffälliges Element: Gauld witzelt in seinem neuen Buch nicht über Comics. Vermutlich ist das der Gipfelpunkt der Liebeserklärung.

06. Feb. 2023
von andreasplatthaus
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31. Jan. 2023
von andreasplatthaus
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You’re gonna loose that girl

She’s a real nowhere girl, sitting in her nowhere world, making all her nowhere plans for nobody – die elfjährige Magali weiß nicht, wo es hingehen soll. Jedenfalls nicht in die Schule. Jeden Morgen, wenn der Vater sie hinbringt, muss sie sich vor dem Schulhof übergeben und kehrt mit ihm nach Hause zurück. Irgendwann kommt die Diagnose, die Magalis Eltern, zwei renommierte Kinderpsychologen, nicht selbst haben treffen können (oder wollen): Schulphobie.

Man möchte meinen, dass wäre ein Kinderwunschtraum, um dauerhaften Unterrichtsverzicht zu erzielen, aber diese Phobie gibt es wirklich – wie etwa auch Aktenphobie, die das Arbeiten in Behörden verhindert. Klingt auch nach Wunschtraum, ist für die Erkrankten aber ein ernstes Problem, wenn sie schon in den jeweiligen Institutionen sitzen. Magali ist zwar nicht unglücklich über den nun einsetzenden Heimunterreicht über eine französische Fernschule, aber sie hat mit der einsetzenden Pubertät auch sonst einiges zu tun. Das einzige, was ihr an Neuem begegnet und sie begeistert, sind die Beatles.

Nun könnte man meinen, „Nowhere Girl“, der autobiographische Comic der französischen Zeichnerin Magali le Huche, spielte in den sechziger Jahren. Weit gefehlt: Wir sind zu Beginn der Neunziger. Aber warum sollte man als Teenager nicht derselben Faszination verfallen wie die Generationsgenossen drei Jahrzehnte zuvor? Wobei ein besonders komisches Potential des Comics im Unverständnis der Klassenkameradinnen von Magali liegt, die in den Beatles die Musik ihrer Eltern sehen – wenn sie sie überhaupt noch kennen. Magali erscheint wie aus der Zeit gefallen, aber tatsächlich eröffnen ihr die Lieder der Beatles auch einen anderen Raum: einen Freiraum, in dem sie träumen kann und die Welt erkundet.

Magali la Huche wurde 1979 in Paris geboren und ist eigentlich Bilderbuchillustratorin – bei S. Fischer erschienen bereits mehrere Kinderbücher ihrer „Paco“-Serie in deutscher Übersetzung. Doch erst mit dem jetzt von Reprodukt verlegten Comicdebüt sieht man, was für eine große Erzählerin da zugange ist. Erstmal sieht man es ganz buchstäblich: auf Nowhere Girl – Reprodukt, der Leseprobe des Verlags. Wer bis zur letzten der dort angebotenen Seiten durchblättert, der wird sehen, wie einfallsreich La Huche nicht nur die Seitenarchitekturen, sondern auch den Farbeinsatz gestaltet. Sobald die Beatles ins Spiel kommen, geht es bunt zu. Aber auch der Anlauf bis dahin ist toll. Auch wenn man die Anleihen bei Riad Sattoufs „Araber von morgen“ oder Catherine Meurisses „Leichtigkeit“ deutlich sieht. Aber wer sich an den Besten orientiert, macht zumindest das schon einmal richtig.

Die erste Hälfte des etwas mehr als hundertseitigen Comics gehört denn auch selbst zum Besten, was ich in den letzten Monaten gelesen habe. Danach wird es etwas absehbar, sind auch kaum mehr die graphischen Exzesse zu finden, die synästhetischem Musikempfinden entsprungen schienen. Doch ich jammere auf hohem Niveau, denn langweilig wird es nie. Und der nächste Comic von Magali la Huche wartet schon: „Grüna“ soll im Mai bei Reprodukt erscheinen und sieht sensationell gut aus. Als Auftakt einer Serie namens „Hexenkram“, die Jugendromane von Marie Desplechin zur Vorlage hat, die jeweils Farben im Titel tragen. Da werden wir mall sehen, was La Huche bei Adaptionen drauf hat.

Und wenn wir ehrlich sind: So ganz abgeschlossen wirkt „Nowhere Girl“ nicht. Zwar geht es wieder in die Schule zurück, aber die Liebe zu den Beatles ist ungebrochen. Außerdem ist Magali am Ende erst dreizehn. Im Leben ihrer Zeichnerin (du damit auch in ihrem) ist sicher noch viel mehr passiert. Ich will’s lesen.

31. Jan. 2023
von andreasplatthaus
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20. Jan. 2023
von andreasplatthaus
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Better change a winning team

Ari Folman ist ein berühmter Mann. Zur Erinnerung: „Waltz with Bashir“ aus dem Jahr 2008. Das war sein Film, von ihm geschrieben (auf der Grundlage eigener Erfahrungen als israelischer Soldat im Libanon der frühen achtziger Jahre), selbst gedreht, eine Kinosensation auf der Grenze zwischen Fiktion und  Dokumentation – und das als Zeichentrickfilm. Einen Comic gab es dazu auch noch, ein Jahr danach publiziert und gezeichnet von David Polonsky in enger Anlehnung an die Ästhetik des Films.

Als Comic war „Waltz with Bashir“ indes wenig reizvoll, eben weil es darin keine ästhetische Eigenständigkeit gab. Aber never change a winning team, und so musste Polonsky sich eben anpassen. Da auch der Comic ein relativ großes Publikum fand, galt dann acht Jahre später die Maxime „Never change a winning team“ auch für ihn: Als Folman seinen nächsten Comic geschrieben hatte, wurde wieder Polonsky engagiert. Es war ein denkbar prominenter Stoff: „Das Tagebuch der Anne Frank“.

Ein berühmteres Buch als diese Aufzeichnungen des jüdischen Mädchens in ihre Versteck in der Amsterdamer Prinsengracht während der deutschen Besatzungszeit der Niederlande dürfte es kaum geben. Ein zugleich traurigeres und trostreicheres auch nicht, denn Anne Frank wurde bekanntlich noch kurz vor Kriegsende in Bergen-Belsen ermordet, und doch sind ihre Selbstbefragungen und Beobachtungen von einer sowohl poetischen als auch lebenspraktischen Reife, dass man nur staunen kann. Das Buch ist verfilmt worden (erstmals schon 1947, womit der Erfolgszug eigentlich erst begann), war Gegenstand unzähliger Untersuchungen und ist bis heute Schullektüre rund um die Welt.

Ein Comic hatte natürlich auch nicht gefehlt, als Folman und Polonsky 2017 ihre Adaption veröffentlichten, aber die Prominenz von Folman machte seine Version zu etwas weit Beachtetem. Zudem es ihm selbst ein Bedürfnis war, Anne Franks Werk an so viele Leser wie möglich zu bringen. Und der leicht kantige Stil von Polonskys Bildern führte ein neues Element in die Anne-Frank-Rezeption ein: Hier war eine junge Frau denkend und schreibend zugange. Der Comic wirkte frei, obwohl er ja eine Adaption war, aber diesmal gab es ja auch keinen Trickfilm als Vorbild.

Der kommt vielmehr jetzt als Nachspiel. Ende Februar wird „Wo ist Anne Frank?“ von Ari Folman in die deutschen Kinos kommen, auf Festivals lief er schon vor einigen Monaten. Du wer schon wissen will, was ihn im Film erwartet, kann den Comic „Wo ist Anne Frank?“ lesen, der bei S. Fischer, dem deutschen Anne-Frank-Verlag, gerade erschienen ist: Auf 150 Seiten erzählt Folman auf eine erstaunliche Weise, nämlich dadurch, dass er nicht Anne Frank selbst zur Hauptfigur macht, sondern deren imaginäre Freundin Kitty.

Die ist eine Figur des Tagebuchs, und Folman hat in ihr den Schlüssel für eine Filmhandlung gefunden, die sich von früheren Anne-Frank-Verfilmungen  unterscheidet. Sein Film und auch sein Comic spielen in unserer Gegenwart. Die Projektionsfigur Kitty, in vielem ein Gegensatz zu Anne, erwacht im Anne-Frank-Museum in der Prinsengracht und weiß nicht, was seit 1944, als das versteck von den Nazis ausgehoben wurde, passiert ist. Für die Besucher ist das Mädchen unsichtbar, aber außerhalb des Gebäudes wird sie zur realen Person, wenn sie das authentische Tagebuch der Ane Frank mit sich führt. Deshalb gilt sie aber auch bald als Diebin, und das ganze Land ist hinter Kitty her.

Folman hat eine Parabel geschrieben: auf die Berühmtheit von Anne Frank, die sich aber nicht darin artikuliert, dass heute ihre Überzeugungen hochgehalten werden, sondern nur in der Benennung von Schulen, Brücken, Museen. Die humanistischen Werte, für die Anne Frank steht, werden dagegen mit Füßen getreten in einer Gesellschaft, die Flüchtlingen die Tür weist. Alsbald sehen wir Kitty auf einen Kreuzzug für Anne Franks Ideale und gegen die Gleichgültigkeit. Dabei steht ihr mit dem Aktivisten Peter ein attraktiver junger Mann zur Seite, der natürlich nicht zufällig denselben Namen trägt wie jener jüdische Schicksalsgenosse, in den sich Anne Frank im Versteck verliebt hatte.

Polonsky ist übrigen nicht mehr dabei, aber die israelische Zeichnerin Lena Guberman hat ihren Stil an seinem geschult: „Wo ist Anne Frank?“ sieht aus wie eine Fortsetzung der „Tagebuch“-Adaption (hier zu sehen: https://www.fischerverlage.de/buch/ari-folman-lena-guberman-wo-ist-anne-frank-eine-graphic-novel-9783100000798, dazu der Vergleich mit dem früheren Band: https://www.fischerverlage.de/buch/anne-frank-david-polonsky-das-tagebuch-der-anne-frank-9783103972535). Guberman war aber auch mitverantwortlich für das Produktionsdesign der verfilmung des Stoffs durch Folman, also handelt es sich bei dem Comic um mehr als eine Buch zum kommenden Film: Er entstand parallel zu den Animationsarbeiten. Leider hat das nicht bewirkt, dass er sich Freiheiten gegenüber diesen herausnahm – also wieder das alte „Waltz with Bashir“-Problem. Manche Bildsequenzen mögen auf der Leinwand toll aussehen, auf einer Comicbuchseite wirken sie einfach nur forciert und bisweilen statuarisch. Just die Lebendigkeit, die Kitty erlangt, fehlt diesem Comic. Folman hat nichts aus früheren Fehlern gelernt, aber er ist ja auch vor allem Filmerzähler. Das reicht aber nicht für einen guten Comic.

20. Jan. 2023
von andreasplatthaus
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16. Jan. 2023
von andreasplatthaus
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Rosablaue Mädchen(alb)träume

Bis ich darauf gekommen bin, dass der mir bislang unbekannte Comicverlag Crocu seinen Namen der jugendlich klingenden Abkürzung von Cross Cult verdankt, verging einige Zeit, während derer ich grübelte, wer wohl eine solche Publikation riskieren würde. Aber klar: Zu Cross Cult  passt’s, dort wurde immer wieder mal neben allem Serien- und Mainstreamzeug auch Ungewöhnliches aus Amerika veröffentlicht. Wie nun „Sheets“ von Brenna Thummler.

Aber ist das so jugendgerichtet, dass es ins neue Crocu-Label passt? Gut, die Protagonistin ist ein Teenager, Marjorie Glatt, die neben der Schule auch noch die Führung der familieneigenen Reinigung schultern muss, weil der Vater sich nach dem frühen Tod der Mutter in die Abgeschiedenheit seines Zimmers zurückgezogen hat und die Tochter und den kleinen Sohn sich selbst überlässt. Das mag ein  Teenager-Publikum ansprechen, aber Thummler, über deren Leben man nur weiß, dass sie wie ihre Hauptfigur im kleinstädtischen Pennsylvania aufwuchs, lässt keinen Zweifel daran, dass Majorie mit der Aufgabe, nicht nur das eigene Leben, sondern die ganze Familie zusammenzuhalten, restlos überfordert ist. Und doch versucht sie es.

„Sheets“ heißt der Band, weil Bettlaken darin eine wichtige Rolle spielen. Bei einer Reinigung wenig überraschend. Ungewöhnlicher ist schon, dass sich der 230 Seiten starke Comic zu einer Geistergeschichte auswächst – und „Sheets“ steht da plötzlich auch für das typische Bettlakengespenst („Laken“ klang den Machern um den bewährten Übersetzer Matthias Wieland wohl zu läppisch, also kam das Wort in den unsäglichen deutschen Untertitel „Am Ende bleibt uns nur ein Bettlaken“). Das gibt es wirklich im Pennsylvania dieses Comics, denn Wendell ist kürzlich ertrunken, hat ab er mit der Welt der Lebenden noch nicht ab geschlossen. Und wie man erfahren wird, auch etwas mit Majorie gemeinsam. Aber damit genug verraten.

Teenage-Horror à la „Nightmare on Elm Street“ ist Thummlers Sache nicht, obwohl der böse Nachbar Saubertuck (die meisten Figuren tragen deutsch klingende Namen) mit mephistophelischen Zügen ausgestattet ist – körperlich, und charakterlich sowieso. Er will das Haus der Glatts übernehmen, um dort ein Yogazentrum zu errichten, und kein Mittel ist ihm dazu schäbig genug. Lebte Saubertuck in Entenhausen, hieße er Glatznick oder Köberle. Donaldisten wissen, was ich meine.

Thummlers Stärke liegt in der Stimmungsmalerei, die knapp zehn Seiten der Crocu-Leseprobe https://www.cross-cult.de/titel/sheets-am-ende-bleibt-uns-nur-ein-bettlaken.html?titel_medium=9 geben das schön wieder: Ihre Kleinstadt ist erkennbar heruntergekommen, die Bewohner sind wenig sozial eingestellt, und die Schule hält für Majorie auch fast nur Enttäuschungen parat (wenn es da nicht den hübsche Colton gäbe). Die Zeichnungen selbst sind semirealistisch und vor allem auf Attribute bedacht, die eine junge weibliche Leserschaft reizen kann: Haare und Frisuren in den wildesten Formen, zarte Liebesbande, Schikanen durch bösartige  Mädchencliquen und halbstarke Jungs. Ach ja, rosa und hellblau allüberall, nur nicht in den in der Geisterwelt spielenden Szenen, da ist alles fahl grüngrau. Kein Wunder, dass Wendell lieber in ein Kaff zurückwill, als dort im Aussprachezirkel der frisch Verstorbenen mit der neuen Situation umzugehen zu lernen.

Man sieht an solchen Abstrusitäten, dass Thummler auch Sinn für Ironie, manchmal gar Gesellschaftskritik hat. Wobei sie am Ende doch vor allem auf die Tränendrüse drückt, und irgendwo sieht man ihre „Sheets“ schon in bewegten Leinwandbildern, denn mit ein paar Spezialeffekten käme diese Gespenstergeschichte sicher gut. Als Comic steckt so zu sehr in der Konvention, auch was die  Bildsprache begrifft. Aber damit holt die Autorin ein Publikum ab, dass n och nicht über große Leseerfahrungen verfügt und eher von „Caspar, the Friendly Ghost“ geprägt ist als von Edgar Allan Poe. Letzteres muss man ja auch nicht sein, aber wenn Thummlers Poesie doch ein bisschen was von Poe hätte, wäre die Geschichte auch für Ältere wie mich geeignet. So ist sie bei Crocu doch genau richtig plaziert.

16. Jan. 2023
von andreasplatthaus
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09. Jan. 2023
von andreasplatthaus
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Die bösen Taten der Herren Goggel, Fatzke und Zwitsch

Zack, da habe ich ihn in der Hand: Band 3 der „Abenteuer des Pascal Siebenspiel““. Die werden Ihnen nichts sagen, wenn Sie nicht in der Schweiz leben. Denn dort erscheint die Serie, allerdings als print on demand, was jede Form überregionaler Wahrnehmung schwierig macht, denn da erscheint ja so viel … Jedoch gar nicht mal so viele Comics, also ist es nur berechtigt, sich einmal einen stellvertretend für alle anzusehen.

„Zack“ – das sollte die Plötzlichkeit illustrieren, mit der Marc Véron alias Norf, der Szenarist von „Pascal Siebenstein“, mir auf einer Tagung der Schweizer comicschaffenden den Band in die Hand gedrückt hatte. Wer kann dazu schon Nein sagen? Zumal neben Véron der Zeichner und Erfinder der Serie steht: Pidi Zumstein, der nur mit seinem Vornamen signiert. Pidi & Norf sind ein Team seit Band 2, der 2020, noch im selben Jahr wie Band 1, herauskam. Corona-Jahr also. War das der Auslöser, aus dem Solo- ein Gemeinschaftsprojekt zu machen? So viel Zeit hatte ich auf der Tagung nicht, um danach zu fragen. Und der vor einem Jahr erschienene dritte Band  wollte ja auch erst einmal gelesen sein. Wenn schon der eigentlich für diesen September angekündigte vierte nicht fertig geworden ist.

Man sieht trotzdem: Das Tempo ist hoch, das Pidi & Norf vorlegen. Und die im klassischen Albenformat gehaltene Serie geht bei der Seitenzahl über die üblichen Umfänge hinaus: sechzig Seiten sind in Band 3 geboten. Was aber passiert in dieser Fortsetzungsgeschichte? Bevor wir dazu kommen, sehen wir uns an, wie das aussieht, was da passiert. Denn das sagt schon einiges aus. Man gehe auf https://siebenspiel.ch/.

Beim Anwählen sieht man leider keine Comicseiten, sondern nur Cover und Rückseiten. Letztere aber bieten das Figurenensemble. Es ist wild, auch in der Vielzahl der auf die Akteure verwendeten Stile. Nehmen wir die Hauptperson Pascal Siebenspiel, einen nur aus Kopf und kurzen Gliedmaßen bestehenden Winzling, der überdies auch im mittlerweile ganz farbigen Ambiente von Band 3 immer noch schwarzweiß gezeichnet wird. Dieser Siebenspiel entstammt einem französischen Roman, wie man im ersten Band erzählt bekommt. Er verließ die papierene Welt und wurde mit den weitaus größeren Absurditäten der realen konfrontiert. Man kennt das aus Woody Allens „The Purple Rose of Cairo“, nur war es da eine Filmfigur, die aus dem Rahmen fiel. Und sie traf nicht auf eine satirisch übersteigerte Umgebung.

Die aber haben Pidi & Norf geschaffen. In der Realität, die Siebenspiel aufnimmt, treiben in Band 3 die Schurken Goggel, Fatzke & Zwitsch ihr mediales Unwesen. Ersterer steht für Google, Letzterer für Twitter, Mittlerer aber nicht für die F.A.Z., sondern für Facebook. Da sieht man schon: Pascal Siebenspiels Abenteuer sind gesellschaftskritisch.

Und abgedreht. Denn Norf packt ein popkulturelles Verweissystem hinein, das keine Rücksicht auf Verluste nimmt. Entsprechend zeichnet Pidi, als wollte er jede Stilrichtung der Comicgeschichte (und Animation gleich mit) zum Handlungsbestandteil machen. Das ist irre anstrengend, weil man hinter jedem Detail eine Anspielung suchen muss. Und gleichzeitig sind Pidi & Norf nicht gerade Klassizisten des Metiers, nehmen also keine Rücksicht auf Seh- oder Erzählgewohnheiten. Man könnte die „Abenteuer des Pascal Siebenstein“ als irren Trip beschrieben. Wie aus den siebziger Jahren entsprungen. In denen sind beide Autoren übrigens aufgewachsen. Und so fühlt man sich zurückversetzt in die Comics von Alfred von Meysenburg. Obwohl alles in der Gegenwart spielt und diese durch den Kakao zieht.

Das Geschehen von Band 3 nachzuerzählen, hätte wenig Sinn. Es geht drunter und drüber. Im Mittelpunkt aber immer die Liebesgeschichte von Siebenspiel mit der mangatypisch gezeichneten Kyoko, die ständig auf den schönsten Kuss der Geschichte hinausläuft. Nun liegt Schönheit im Auge des Betrachters, und ich habe schön schönere Küsse gesehen. Auch schon bessere Comics gelesen. Aber noch nie einen liebvoll-chaotischeren, der zudem mit starken politischen Meinungen daherkommt. Wer einmal eine Geisterbahnfahrt erleben will beim Lesen eines Comics, bei der hinter jeder Ecke eine Überraschung lauert, der ist hier richtig. Wer nach Logik oder Gefälligkeit fragt, der ist hier falsch. Sage keiner, ich hätte nicht gewarnt. Zack!

09. Jan. 2023
von andreasplatthaus
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01. Jan. 2023
von andreasplatthaus
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Besser wird’s nicht

Kann man das Jahr schöner beginnen als mit einem Hinweis auf Michel Rabagliati? Den kennt hierzulande kaum jemand, dabei ist er einer der stilsichersten und vor allem persönlichsten Comic-Autoren der ganzen Welt. Er ist Kanadier, geboren 1961 in Montréal, und dass ich diesen Stadtnamen hier mit Accent aigu schreibe, ist zwingend, weil Rabagliati zum französischsprachigen Teil der dortigen Bevölkerung gehört. Seit 1999 veröffentlicht er beim Verlag Éditions de la Pastèque Comics mit Geschichten aus dem Leben eines Protagonisten namens Paul Rifiorati, in dem man leicht das Alter Ego des Zeichners erkennen kann (nicht physiognomisch, aber biographisch). Und in all den Jahren hatte es nur eines der „Paul“-Alben in einen deutschen Verlag geschafft: „Pauls Ferienjob“ (im Original „Paul a un travail d’été“ von 2002), das vor fünfzehn Jahren bei der Wuppertaler Edition 52 erschien.

Dieser Verlag ist ein Trüffelschwein, und das nirgendwo so sehr wie in der kanadischen Comicszene. Denn neben Rabagliati ist im Programm auch Seth vertreten, dessen englischsprachiges Äquivalent, was Comic-Weltrang aus Kanada angeht. Beide Zeichner vereint ein melancholischer Blick auf die Moderne, der vor allem durch grenzenlose Bewunderung für Cartoonisten des mittleren zwanzigsten Jahrhunderts geprägt ist. Seth zeichnet wie Peter Arno, Rabagliati  wie André Franquin (hier zu sehen: http://michelrabagliati.com/Bienvenue.html). Doch während Seth fast mit seinem Gesamtwerk in der Edition 52 zu haben ist, war dort von bislang zehn „Paul“-Bänden eben nur der eine übersetzt worden. Bis jetzt.

Denn jetzt ist der jüngste, „Paul zu Hause“, im französischsprachigen Original 2020 erschienen, herausgekommen. Der beste (und das will einiges heißen). Warum ist das so? Weil Rabagliati Mitte des vergangenen Jahrzehnts eigentlich Schluss mit „Paul“ hatte machen wollen. Dass er sich dann doch zur Wiederaufnahme entschied, hatte traurige Gründe: Der Tod seiner Mutter im Jahr 2012 und eine darauf folgende Midlife-Crisis, die auch den Entschluss zum Ende von „Paul“ motiviert hatte, ließen den Zeichner als Erlebnisse nicht los, und nur in der Figur von Paul glaubte er sie bewältigen zu können. Darum dreht sich „Paul zu Hause“.

Aber es ist kein deprimierender, sondern ein tröstlicher Comic. Und ein wunderschöner. Deshalb hier gleich zwei Leseproben: die der Edition 52 (https://www.edition52.com/wp-content/uploads/2022/06/Paul_Leseprobe.pdf) und eine zum kanadischen Original: https://www.lapasteque.com/paul-a-la-maison. Vielleicht ist das auch gar nicht schlecht, denn leider wird die Eleganz des klassischen Strichs von Rabagliati in der deutschen Fassung durchs etwas zu grobe Lettering gemindert, und da Paul (wie sein Erfinder) ein fanatischer Typographieliebhaber und -kenner ist, der sich ständig über diesbezügliche Beobachtungen auslässt, tut es besonders weh, wenn einige Schilder im Straßenbild für die deutsche Fassung eher grob, vor allem aber typographisch keineswegs originalgetreu neu gestaltet worden sind. Und ein paar Sprechblasen sind versehentlich ganz im französischen Original stehengeblieben – keine große Sache, weil es jeweils textarme Blasen sind, aber trotzdem schade.

Man möchte versinken in diesen Schwarzweißbildern, die mit einer unauffälligen Akribie das Montréal des Jahres 2012 auferstehen lassen. Allein die paar Seiten, die auf dem jährlichen Salon du livre (Buchmesse) der Stadt spielen und die darauffolgende Szene in der Bar des Hotels Bonaventure mit ihrem Calder-Mobile an der Decke – das übertrifft in der Eleganz sogar Franquin.

Und wie klug und anspielungsreich ist die Geschichte gebaut! Allein die überraschenden Auflösungen der Klischees über Pauls Nachbarn. Oder der kleine Hund namens Keks, der so selbstverständlich wie Hergés Struppi seine Kommentare zu Herrchens Verhalten abgibt, ohne dass das aber für die Handlung irgendeine Konsequenz hätte. Und wie etwa der Sänger Léo Ferré einmal erwähnt wird, dessen Chanson „C‘est le printemps“ dann von Rabagliati dem Abschlussbild unterlegt wird – das auch das letzte in einer Sequenz von kleinen Einzelpaneln ist, die jeweils eine ganze Seite bekommen und neue Hoffnung ins Leben von Paul bringen. Seit der „Monsieur Jean“ von Dupuy & Berberian habe ich keine so lebensnahe Serie mehr gelesen. Keine, die so viel über ihre Handlungszeit erzählt, obwohl sie „nur“ das Leben eines einfachen Bürgers in den Blick nimmt. Aber darin steckt ja mehr als genug Drama. Und Humor.

Ja, besser kann man das neue Jahr als Comicleser nicht beginnen als mit diesen zweihundert bewegenden und virtuosen Seiten. Herzlich willkommen zurück, Michel Rabagliati. In der Welt von Paul und in Deutschland. Und Glückwunsch dem Kleinverlag zu seinem Mut. Hoffentlich auch für weitere Bände.

01. Jan. 2023
von andreasplatthaus
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27. Dez. 2022
von andreasplatthaus
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Auf zum Entern im Weltall!

Sardine heißt auf Deutsch Alldine. Warum? Weil Alldine nach Weltall klingt, und da spielt die vor mehr als zwei Jahrzehnten von niemand Geringeren als Joan Sfar und Emmanuel Guibert begründete französische Kindercomicserie „Sardine de l’espace“. Sfar, der damalige Zeichner, ist schon längst nicht mehr dabei, aber die heutige Autoren-Besetzung ist kaum weniger prominent: Emmanuel Guibert schreibt immer noch Szenarien für die Reihe, und Mathieu Sapin zeichnet (bisweilen, gerade in den jüngeren Bänden, macht Sapin auch beides).

 So, das war jetzt viel Information auf einmal, ziemlich insidermäßig, also nun noch einmal etwas langsamer. Der erste Band von „Sardine de l’espace“ erschien 2000, und Guibert und Sfar hatten schon bei einem Erwachsenencomic zusammengearbeitet, namentlich bei „La Fille du professeur“ 1997, wobei da die Rollenverteilung umgekehrt war. Und so sollte es beim 2001 gestarteten dreiteiligen Zyklus „Les Olives noires“ wieder sein. Beides waren Meilensteine der jüngeren französischen Comicgeschichte, und dazwischen lag „Sardine“. Die etwas darstellte, was es bis dahin in Frankreich (oder sonst irgendwo) kaum gab: einen anarchischen Kindercomic.

So sieht der aus: https://www.schaltzeitverlag.de/kinderb%C3%BCcher/alldine/#cc-m-product-11808751094. Hier natürlich die deutsche Version von Schaltzeit (in der Übersetzung Verlegers Andreas Illmann persönlich), die 22 Jahre auf sich warten ließ, aber besser spät als nie. Heute sind anarchische Kindercomics weltweit erfolgreich, aber die Ursprungsserie fehlte im Portfolio deutscher Verlage. In dem längst Guiberts wunderbare weitere Kinderserie „Ariol“ (gezeichnet von Marc Boutavant) gelandet war. Oder ach „Kleiner Strubbel“ von Pierre Bailly. Beides sind weitere Kindercomicperlen aus Frankreich, die jeweils Epoche machten, aber eben etwas später verglichen mit „Sardine“.

Von dieser Serie gibt es mittlerweile in Frankreich sage und schreibe 23 Bände, also kam jedes Jahr ein neuer, die ersten neun von Sfar und Guibert, dann wurde mit der Zeichner-Umbesetzung neu gezählt, und deshalb steht die Reihe jetzt bei Nummer 14. In jedem der taschenbuchkleinen Alben finden sich jeweils fünf Episoden à zehn Seiten. In den beiden ersten deutschen Bänden sind dagegen jeweils gleich zwölf Geschichten abgedruckt, auf 128 Seiten. Und das für einen Preis von vierzehn Euro pro Ausgabe, während die französischen nicht einmal halb so dicken Bände aktuell 11,50 Euro kosten. Hierzulande bekommt man also mehr als die doppelte Menge Handlung für unwesentlich mehr Geld. Ist das ein gutes Zeichen für den deutschen Comicmarkt? Jedenfalls ist es ein Schnäppchen.

 Nun eine Warnung an alle Helikoptereltern: Bei „Sardine“ oder eben „Alldine“ besteht Suchtgefahr für die Kinder, denn darin findet sich alles, was Erwachsene nicht so recht mögen: Albernheit, Pathos, Piraten (Alldine ist Teil einer interstellaren Seeräubertruppe), Schwarzweißmalerei, Chaos, superdumme Superschurken, Fäkalhumor. Aber das haben eben Erwachsene geschrieben und gezeichnet, kluge überdies, und somit steckt auch noch eine ganze Masse Witz drin, den Kinder lieben, aber nicht notwendig schon verstehen müssen. Etwa in der Auftaktgeschichte „Ende als Anfang“ (aus dem französischen Band 13). A wird mit den Voraussetzungen einer Serienerzählung gespielt, und es ist schon frech, dass Illmann just diese Episode an den Beginn der eigenen „Alldine“. Publikationen setzt, denn eigentlich kann doch noch gar keiner die Gesetze einer Serie kenne, die er nie zuvor gelesen hat. Klappe t aber dennoch. Wie überhaupt die meisten metafiktionalen und transgressiven Späße von Guibert. Aber jetzt genug mit den Fachtermini aus dem Seminar für Literaturkritik.

Die von Mathieu allein geschriebenen Geschichten, von denen sich vor allem im deutschen Band 2 einige finden, sind nicht ganz so geglückt. Da hätte man bei der Riesenauswahl, die es gab, stärkere Geschichten gefunden. Aber das heißt ja auch, dass diese kleinen Wunderwerke noch kommen können – wenn die Comics so erfolgreich sind, wie sie es verdienen. Wobei mit Weltraum und Piraten und einem kleinen Mädchen als großer Heldin doch gleich drei Erfolgsgaranten kombiniert werden. Also auf in unendliche Weiten mit Sardine, pardon: Alldine. Energie! To infinity and beyond! Oder was man da oben sonst noch alles so sagt. Und Helikoptereltern kommen ja eh nicht bis ins Weltall. Wir aber. Ein gutes neues Jahr allen Lesern dieses Blogs!

27. Dez. 2022
von andreasplatthaus
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20. Dez. 2022
von andreasplatthaus
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Wollen Sie von der Preisträgerin schon einmal etwas lesen?

Vor ein paar Tagen wurde der Siegertitel des Comicbuchpreises der Berthold-Leibinger-Stiftung bekanntgegeben: „Ahmadjan und der Wiedehopf“ von Maren Amini und ihrem Vater Ahmadjan Amini. Eine Überraschung? Für mich als Mitglied der Jury allemal. Nicht, weil der Comic nicht gut wäre – im Gegenteil. Sondern weil alle Einsendungen (diesmal waren es mehr als 130) anonym zur Begutachtung vorgelegt werden; es handelt sich bei dem Preis ja um einen, der einem noch im Entstehen befindlichen Werk gilt. Und als dann nach der Entscheidung für „Ahmadjan und der Wiedehopf“ der Name Maren Amini fiel, fiel ich aus allen Wolken. Denn diese Zeichnerin kannte ich.

Nicht persönlich, aber durch ihre Arbeit als Cartoonistin. Man kann mir Fug und Recht sagen, dass es niemanden in Deutschland gibt, der größere Begeisterung für Sempé in seinen Figuren artikuliert – dafür genügt schon ein Blick auf ihre Website http://www.maren-amini.de/. Da Maren Amini zusammen mit der Comiczeichnerin Line Hoven in Hamburg einen kleinen Laden betreibt, in dem ich vergangenes Frühjahr vorbeigeschaut hatte, waren mir die Drucke der Cartoonistin vertraut, aber von ihrem Comicprojekt wusste ich nichts. Und auch wenn ich im Nachhinein klüger bin und sehe, was im ausgezeichneten Comic alles an eindeutigen Spuren zu sehen gewesen wäre, habe ich sie eben doch nicht bemerkt.

Und ich hätte für Aminis graphische Handschrift doppelt sensibilisiert sein müssen, denn ich kenne sie noch aus einem weiteren Kontext: dem Hamburger Zeichnerinnenkollektiv „Spring“, dessen jährliche Publikationen mir seit bald zwei Jahrzehnten ein steter Quell der Begeisterung sind. In der jüngsten Nummer, „Spring 19“ zum Thema Scheitern, ist Maren Amini selbstverständlich auch vertreten: mit einer nur vierseitigen, aber sehr originellen Geschichte namens „Das Kunstwerk“. Okay, eigentlich nicht einmal vierseitig, denn die erste Seite besteht nur aus dem Titel und der Abbildung eines leeren Blattes, dessen unterer linker Ecke sich eine zitternde stiftbewehrte Hand nähert, und die letzte Seite zeigt ein hyperrealistisch gezeichnetes zerknülltes Blatt Papier. Dazwischen spielt sich auf einer Doppelseite mit acht Panels die eigentliche Handlung ab: Eine Zeichnerin sitzt am Arbeitstisch, spricht sich selbst Mut zu, preist die Qualität ihres Strichs, und im letzten Bild kommt eine Kollegin und fragt: „Hä? Was soll das denn sein?“ – so erklärt sich das zerknüllte Blatt auf der nächsten Seite.

Klingt simpel, ist es auch, aber wunderbar gezeichnet, denn die Akteure der Doppelseite sind von einer leichten Einfachheit, wie sie in Deutschland kaum jemand beherrscht. Und in Frankreich das Markenzeichen eben von Sempé war, dem großen Idol von Amini. Wobei sie hier Figuren geschaffen hat, die mit ihren Nasen und Haaren eher an Nicolas Mahler denken lassen. Aber allein schon die abstrakte Linienform des Zeichentischs, an dem die Protagonistin sitzt, ist ein kleines Virtuosenstück, und dass Amini noch viel mehr Stile beherrscht als die der großen Meister der Leichtigkeit, führt sie mit dem verblüffend veristischen Papierknäuel vor.

Leider gibt es auf der Spring-Homepage https://www.mairisch.de/programm/spring-19-scheitern/ keine Seite aus Aminis Kurzcomic zu sehen (dafür allerdings welche von Moki, Birgit Weyhe, Stephanie Wunderlich, Carolin Löbbert, Katarina Kuhlenkampf, Nina Pagalies und Romy Blümel), und „Ahmadjan und der Wiedehopf“ ist ja noch nicht fertig, also gibt es davon auch nichts zu zeigen. Aber dass diese Zeichnerin, die schon als Illustratorin bei einigen namhaften Blättern reüssierte (etwa der „Washington Post“ oder dem „Spiegel“) nun auch als Comicautorin den Durchbruch schaffen wird, ist gewiss. Ahmadjan Amini ist übrigens ihr in Afghanistan geborener Zeichner, und seine Geschichte wird im gemeinsam gestalteten Comic erzählt. Wobei der Löwenanteil von der Tochter stammen wird, während Ahmadjan Amini neben den Erzählungen seines Lebensweges einige Gemälde beisteuern wird, denn auch er ist ein Künstler. Es kann ja nicht alles von Sempé kommen …

20. Dez. 2022
von andreasplatthaus
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12. Dez. 2022
von andreasplatthaus

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Mit Herz und Magen

Ich wusste nichts über Stéphanie Weppelmann, als ich im Leipziger Buchladen meines Vertrauens ihr Piccoloheft „Lovers!“ auf dem Comictisch liegen sah. „Piccolo“ – das muss man heute mutmaßlich erläutern – war ein in den fünfziger Jahren in Europa populäres Comicformat, das pro Seite den Abdruck einer Bildreihe erlaubte, also praktisch Comic-Strips in Heftgestalt: querformatig, meist nicht mehr als 24 Seiten, billiges Papier; für deutsche Nostalgiker lasse ich hier nur mal den Namen Hansrudi Waescher fallen – so konnte man preiswerten Lesestoff liefern. Als es den Menschen dann finanziell besser ging, starben die Piccolohefte aus. Heute ist alles kunterbunt und großformatig, wenn die Comiczeichner es denn so wollen.

Bunt ist auch „Lovers!“, aber eben auch im längst ungewöhnlichen Piccoloformat. 24 Seiten sind es, allerdings nicht eben billig für die etwa fünf Minuten Lektürezeit: fünf Euro. Aber die sind wohlangelegt, denn Stéphanie Weppelmann zeichnet im schönsten Bilderbuchstil und erzählt mit Lust am Nationalklischee über Liebespaare aus Frankreich (ihr Heimatland), Deutschland (ihr Gastland), Japan, Italien, Mexiko und den Hohen Norden (hier keine genaue Länderbestimmung, aber die Überschrift lautet „Inuit Lovers“). Immer geht es um Herz und Magen, und keine der einzelnen Episoden hat mehr als sechs Bilder (diesen Rekord hält das französische Liebespaar). Angesichts von rund zweihundert Nationen auf der Welt und noch viel mehr Volksgruppen samt entsprechenden Klischees könnte aus „Lovers!“ ein vielversprechender Comic-Strip werden. Und auf der Titelseite steht ja auch schon „Band 1“.

Bei Band 2 wäre ich wieder mit dabei, aber noch ist der erste ja erst ein paar Monate alt, und außerhalb Leipzigs habe ich ihn noch nicht gesehen. Dafür die Website von Stéphanie Weppelmann: https://www.graphiste.website/illustration. Auf der finden sich einige Zeichnungen aus ihrem Comic, man erkennt sie sofort an den animalischen Protagonisten: Schweine, Maulwürfe, Katze, Eisbären und so weiter. Und am quadratischen Format der Panels, denn „Lovers!“ setzt nicht auf abwechslungsreiche Seitenarchitektur (im Piccoloheft auch schlecht möglich), sondern auf das Grundprinzip des repetitiven Comic-Strips, der gerade nicht formal überraschen will. Comic-Strips setzen auf Überraschung durch Witz, und das wird hier eingelöst.

Die knappen Texte zu den Bildern (keine Sprechblasen!) sind auf Englisch, aber das tut dem trockenen Humor gut. Stéphanie Weppelmann ist laut Selbstauskunft im Netz studierte Kunsthistorikerin, Wahlleipzigerin und vielfach in der Vermittlung künstlerischer Fertigkeiten an Kinder engagiert. Ihre ironischen Kurzgeschichten zu internationalen Liebes- und Speiseschwierigkeiten bieten Bilder, die kindgerecht, und Texte, die erwachsenenfähig sind. Nicht durch Schlüpfrigkeiten, sondern eben durch das Spiel mit nationalen Stereotypen. Hoffentlich geht’s im neuen Jahr so liebevoll-köstlich weiter.

 

12. Dez. 2022
von andreasplatthaus

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