Ob es in Orléans etwas Bemerkenswertes in Sachen Comics gibt, werde ich bestenfalls morgen erfahren, falls ich nicht doch eine Besichtigung von Poitiers vorziehe, wo es eine bemerkenswerte romanische Kirche geben soll – und ein antikes Baptisterium, das als ältestes christliches Bauwerk Frankreichs gilt. Dagegen ist die Kathedrale von Orléans ein Produkt der letzten vierhundert Jahre, und so etwas gibt es auch in Deutschland oft genug.
Also sitze ich jetzt am Spätnachmittag im Hotel Villa Marjane im Südosten der Stadt und bestücke lieber schon einmal das Blog, denn zu berichten gibt es genug. Zunächst die Antwort auf eine Leserfrage, die zu meinem Eintrag von vorgestern gestellt wurde: Was gibt es Neues von Moebius? Nun, zum Beispiel die Fortsetzung der “Hermetischen Garage”, die im letzten Sommer publiziert wurde, hatte ich bisher noch nicht, und die Serie “Inside Moebius”, deren erster Teil 2003 in meinem eigenen Buch zu Moebius erstmals erschien (unter dem Titel “Fumetti”), ist mittlerweile beim fünften Band angelangt; den sechsten gibt es vielleicht schon in Angoulême.
Doch bis dahin liegen noch etwa 350 Kilometer vor mir. Paris wiederum liegt 125 Kilometer zurück. Zum Mittagessen hatte ich mich dort heute mit Stéphane Heuet verabredet, jenem Comiczeichner, der jedem aufmerksamen Leser meiner F.A.Z.-Artikel als jener manische Künstler bekannt ist, der seit 1998 Marcel Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” als Comic adaptiert. Vor zwei Monaten ist das fünfte Album erschienen, und damit sind die ersten beiden Teile von Prousts siebenbändiger „Recherche du temps perdu” abgeschlossen. Wie aber stellt sich Stéphane, der in diesem Jahr fünfzig Jahre alt wird, das weitere Prozedere vor? Wenn er im bisherigen Tempo weitermacht und alle Bücher der Proustschen „Recherche” berücksichtigt, wird er bis zum Abschluß fast achtzig sein. Erst kürzlich diskutierte ich mit dem in Münster lehrenden Komparatisten Achim Hölter, der ein gemeinsamer Freund von Stéphane und mir ist, über dieses Problem, und Achim hatte mir einen Vorschlag nach Frankreich mitgegeben, den ich Stephane unterbreiten sollte. Also wurde rasch noch ein Mittagessen arrangiert: in Paris, denn nach Angoulême fährt Stéphane nicht. „Dort gibt es keine Leser meiner Comics. Die treffe ich bei Literaturfestivals. Was sollte ich also in der Hektik von Angoulême?”
Hektik hat er selbst genug. Am Treffpunkt, dem mit einem buntern Metallbaldachin überdachten Métro-Eingang vor der Comédie Francaise, ist von Stéphane erst einmal nihts zu sehen – er steckt mit seinem Auto im Stau fest. Es ist eine bemerkenswerte Eigenschaft aller mir bekannten Pariser, sich dauernd über den Verkehr in der französischen Hauptstadt zu beklagen, aber grundsätzlich das Auto zu nehmen. Durch die Sekretärin des Verlags gewarnt, harren wir indes aus, und nach der Ankunft des abgehetzten Zeichners, der vor lauter Eile nicht einmal mehr seinen Mantel hat überziehen können, entschädigt die Auswahl eines sehr pittoresken Lokals mitten im ersten Arrondissement für die kalte Wartezeit. Hummervorspeise und Schweinefuß samt kross gebratenem Double gras bekommt man nicht einmal in Frankreich überall geboten.
Stéphane, den ich erstmals vor neun Jahren kennengelernt habe, als er Vorträge in Münster und Köln hielt, wo ich jeweils als deutscher Gesprächspartner auftreten durfte, ist als Comiczeichner Zeitdruck gewöhnt. „Wenn das neue Album einer Serie länger als zwei Jahre auf sich warten läßt, hat der Buschhandel keine Lust mehr”, berichtet er. Dieser Termindruck hat ihm in den letzten Jahren jeweils nicht mehr als drei Urlaubstage gestattet, und Zwanzig-Stunden-Schichten waren keine Seltenheit – die Akribie von Stéphanes Zeichnungen hat ihren Preis. Daß darüber schon vor drei Jahren seine Ehe in die Brüche gegangen ist, wundert ihn mittlerweile nicht mehr: „Ich habe selbst das Essen beim Zeichnen eingenommen.”
Die Mühe hat sich gelohnt, die Serie von bislang fünf Bänden hat sich mehrere hunderttausend Mal verkauft und ist in mehr als einem Dutzend Sprachen übersetzt worden. Nun kommt bald Hebräisch dazu, und so geht es im Februar auf Promotiontour nach Jerusalem. Die hebräische Leserichtung von rechts nach links war wieder einmal eine Herausforderung für den Perfektionisten, der dafür etliche seiner Bilder hat spiegeln müssen. „Aber dann muß ich im Computer die Knopfleisten wieder korrigieren, und in meinen Bänden gibt es viele Knopfleisten.”
Der Erfolg hat ihm Sicherheit beschert, für jeden neuen Band kann Stéphane 40.000 Euro Vorschuß einfordern, was allerdings alleine nicht reicht, um ihn und die Seinen zwei Jahre lang zu ernähren. Dennoch sind das Bedingungen, von denen deutsche Zeichner nur träumen können. Aber auch in Frankreich wird die Luft dünner: „Die immer höheren Vorschüsse, die seit einigen Jahren in meinem Gewerbe gezahlt werden, gefährden mittlerweile die Verlage. Kaum noch ein Zeichner läßt sich darauf ein, lediglich von Tantiemen zu leben. Doch die wenigsten Vorschüsse werden wieder hereingeholt. Und so zeichnen manche meiner Kollegen wie wild, um schnell den nächsten Vorschuß hereinzuholen, ehe sich erweist, daß schon der erste nie wieder vom Verlag eingespielt werden kann.”
Das nächste Vorhaben, an dem Stéphane arbeitet, wird ihm etwas Erholung von der jahrelangen Proust-Fron bieten. Er sitzt an der Umsetzung eines Szenarios, das sich im Nachlaß von Antoine de Saint-Exupéry gefunden hat; vier Seiten umfaßt es in der Werkausgabe, aber auf siebzig Seiten ist es im Comic projektiert. „Das wird allerdings schneller gehen als Proust, weil ich skizzenhafter zeichnen kann, ein bißchen wie Hugo Pratt.” Der hatte in den frühen neunziger Jahren ein Album herausgebracht, das sich dem letzten Flug von Saint-Exupéry widmete. Und von Joann Sfar ist erst im vergangenen Jahr eine Comicadaption des „Kleinen Prinzen” erschienen, die sich in Frankreich blendend verlauft hat. Ist das nicht zuviel Konkurrenz? „Nein, es zeigt, wie populär Saint-Ex ist. Da ist auch für meine Sache noch Platz.”
Und wie geht es dann mit Proust weiter? Wird ein noch fehlender Baustein, nämlich das keine achtzig Seiten umfassende Kapitel „Nom de pays” aus dem ersten Band der „Recherche”, noch nachgeholt, oder geht es direkt mit späteren Bänden weiter? „‚Nom de pays’ ist ein großartiger Teil der Recherche, sehr bildermächtig: die Champs Elysées mit den spielenden Kindern. Bislang aber hatte ich mich immer gescheut, ihn zu zeichnen, weil ich Angst hatte, bloße Postkartenmotive abzuliefern.” Aha, „bisher”. Wird also dieses Kapitel das nächste Album? Achim Hölter hatte einen anderen Vorschlag: Stéphane solle sich direkt dem letzten der sieben Bände, der „Wiedergefundenen Zeit”, widmen und damit einen Abschluß schaffen, denn auch Proust hatte die „Recherche” zunächst nur als dreibändiges Werk konzipiert, das aus den ersten beiden Teilen, die Stéphane ja schon gezeichnet hat, und ebenjenem letzten bestehen sollte. Doch diese Idee hat Stéphane auch ohne Achim schon gehabt und tatsächlich für ideal befunden: „Achim hat recht, und so werde ich es auch machen. Die ‚Wiedergefundene Zeit’ kommt als nächstes, aller Voraussicht nach allerdings in drei Alben.” Das heißt, noch einmal mindestens sechs Jahre mit Proust. Und der Rest vom Zyklus? „Von ‚Guermantes’ und ‚Sodom und Gommorrha’ werde ich die Finger lassen, das steht fest. Zuviel Dialog.” Das jedoch hat Stéphane von neun Jahren schon einmal gesagt, als er aus demselben Grund „Eine Liebe Swanns” ausließ. Mittlerweile hat er dieses Kapitel des ersten Bandes in seinen Bänden vier und fünf nachgeholt.
Am Schluß des opulenten Mahls beginnt das Mobiltelefon des Zeichners in immer dichterer Folge zu vibrieren. Der nächste Termin dräut, ja, ist eigentlich schon überfällig. „Nur ein paar Sekunden”, ruft er ins Gerät, als gerade der Kaffee gebracht wird. Beim Aufbruch verabreden uns für den Sommer, falls ich wieder nach Paris kommen werde. Dann eilt Stéphane davon, mit wehendem Mantel, den die Wirtin ihm diesmal noch hat überwerfen können. Ihm ist auf dieser Welt keine Ruhe vergönnt. Er ist ständig auf der Suche nach der verlorenen Zeit.