Gemeinhin kaufe ich deutsche Comics im Fachhandel, denn in Leipzig wie Frankfurt gibt es jeweils gleich zwei Comicgeschäfte, die zusammen fast alles anbieten, was mich an einheimischer Produktion interessiert. Doch das Heft „Die Menschenfabrik” stammt aus dem Buchkinderladen, einer reizenden Neugründung in Leipzig, die dem mittlerweile deutschlandweit agierenden Kreis der „Buchkinder” angeschlossen ist. Unter diesem Namen versammeln sich Kinder und schreiben Bücher, meist illustrierte Werke, die dann in kleinen Auflagen, aber handwerklich wunderschön gedruckt werden.
Natürlich finden sich die Käufer solcher Titel meist im engeren Familien- und Bekanntenkreis der jeweiligen kleinen Autoren, aber so manche Ausgabe lohnt den fremden Blick, wenn man sich für Bilderbücher interessiert, denn da wird frei von der Leber weg erzählt und gezeichnet. Aber das soll hier nicht Thema sein.
Im Buchkinderladen lag ein Comic. Die sind dort nicht eben häufig gestreut, und was diesen einen dorthin verschlagen hat, will ich gar nicht wissen. Vielleicht kennt sein Zeichner, Michael Meier, eine der Betreiberinnen des Buchkinderladens, vielleicht waren die aber auch nur ebenso angetan von dem kleinen Heft wie ich. Denn ins sonstige Sortiment des Leipziger Ladend paßt der Comic nicht hinein. Man setzt da eher auf freundliche Umschläge und Themen.
Freundlich geht es in „Die Menschenfabrik” gar nicht zu. Auf dem Umschlag sieht man bereits ein düsteres menschenleeres Industriegemäuer, das allerdings sehr schön gezeichnet und gedruckt ist. Das ist bei deutschen Kleinverlagen nicht selbstverständlich, und etwas anderes kann sich unter dem Namen Rotopolpress kaum verbergen. Ein Blick ins Heft beweist es: Der Verlag ist in Kassel angesiedelt, wo Michael Meier an der Kunsthochschule studiert und mit „Die Menschenfabrik” seinen Abschluß gemacht hat; mutmaßlich bei dem Comic-Tausendsassa Hendrik Dorgathen, der aus Kassel in den letzten beiden Jahren eine der besten Ausbildungsstätten für deutschen Comicnachwuchs gemacht hat.
Nun haben wir in den letzten Jahren schon einige studentische Abschlußarbeiten gesehen, die höchst gelungen und auch erfolgreich waren: „Held” von Flix, „Wir können ja Freunde bleiben” von Mawil oder „Leviathan” von Jens Harder fallen mir da ein. Meiers „Menschenfabrik” nun ist keine eigenständige Geschichte, sondern die Comicadaption einer Erzählung von Oskar Panizza, einem literarischen Enfant terrible des deutschen Kaiserreichs, das 1921 in einer Nervenheilanstalt starb. Das sollte man wissen, wenn man „Die Menschenfabrik” liest, denn die 1890 erstmals publizierte Erzählung hebt in ihrer Comicversion gleich in einem Sanatorium an. Dort wird ein Mann eingeliefert, der eine unglaubliche Geschichte erlebt haben will: Ihn verschlug es in düsterer Nacht in eine abgelegene Fabrik, wo ein Wissenschaftler Menschen herstellt, die alle Vorzüge guten Aussehens aufweisen, aber auf so obskure Eigenschaften wie selbständiges Denken verzichten können. Der geschockte Besucher debattiert mit dem von seinem Tun überzeugten Fabrikanten, kann ihn jedoch nicht von der Verwerflichkeit seines Tuns überzeugen und flieht. Doch draußen glaubt man ihm nicht.
Mehr sollte man nicht erzählen, um die von Beginn an systematisch aufgebaute Spannung bei der Lektüre von Meiers Comic nicht zu zerstören. Er hat Panizzas Text näher an die Gegenwart herangeführt, aber das ganze ist vom Stil der Dekors her immer noch am ehesten in den zwanziger Jahren anzusiedeln. Da kommen natürlich sofort Assoziationen zum „Cabinett des Dr. Caligari” auf, aber auch wer an die „Rocky Horror Picture Show” denkt, liegt erzähltechnisch nicht ganz falsch. Das ist kein Wunder, weil beide Filme sich am romantischen Schauermärchen orientiert haben, das auch für Panizzas Text die wichtigste Anregung gewesen ist.
Maier hält seinen Comic ganz in gedämpften Tönen, doch dafür ist auf den Seiten umso mehr los. Die Arrangements der Panels wechseln laufend, und ein besonders eindrucksvolles graphisches Mittel sind extreme Naheinstellungen der Figuren, die von einem computergenerierten Farbraster für die Grüngrautöne besonders klug unterstützt werden. Die Proportionen der Akteure sind leicht ins Groteske verschoben, und auf dem Weg durch die Fabrik ist es unmöglich, die räumliche Orientierung zu behalten – all das trägt zur subtilen Verunsicherung des Lesers bei.
Mit einem Satz: „Die Menschenfabrik” ist ein richtig guter Comic. Nur wird es kaum jemand merken, denn solche Kleinpublikationen sind schwer zu finden. Und er ist auch nicht so gefällig, daß man ihm sofort verfällt. Ich etwa war aus dem Buchkinderladen wieder herausgegangen, ohne das Heft zu kaufen, bekam es dann aber zu Ostern geschenkt. Zum Glück! Für alle diejenigen, die keine so aufmerksamen Schenker um sich haben, sei noch erwähnt, daß der Preis von 15 Euro hoch zu sein scheint, doch dafür erhält man eine Geschichte von klassischen achtundvierzig Seiten (wenn auch halbformatigen) in Farbe und einen kleinen Anhang, in dem ein paar aus Wikipedia zusammengetragene Informationen zu Panizza und einigen der in seinem Text erwähnten Philosophen und Pädagogen zu finden sind.
Wenn Sie, lieber Leser, liebe Leserin, auch gerne in Comicläden auf Einkaufstour gehen, dann lassen Sie sich „Die Menschenfabrik” einmal zeigen. So etwas sieht man von deutschen Zeichnern nicht oft, und man sieht es auch nicht oft in Comicläden. Nötig also, daß Nachfrage spürbar wird. Und sollten Sie nicht in Leipzig oder Frankfurt oder einer anderen privilegierten Stadt mit eigenem Comicfachhandel leben – und die sind dünn gestreut -, dann fordern Sie stattdessen den Buchhändler Ihres Vertrauens heraus. Vielleicht hat der ja schon genauso einen Narren an dem tollen Heft gefunden wie die Damen vom Leipziger Buchkinderladen. Oder er tut es dann noch.