Was ist ein „Bilder-Buch für die Biografiearbeit”? Und warum wird das Bilderbuch getrennt geschrieben, die Biografie-Arbeit aber nicht? Weil es sich im ersten Fall nicht um ein klassisches Bilderbuch handelt, sondern tatsächlich um ein Buch, das Bilder als Ausgangspunkte nutzt, nicht aber als Bebilderungen zum Erzählten. Und Biografiearbeit wird geleistet, weil es sich bei dem Buch um den Beitrag zu einem medizinischen Verfahren handelt, mit dem an Demenz erkrankte Menschen angeregt werden sollen, ihr Erinnerungsvermögen anzustrengen – und damit zu trainieren und womöglich wieder zu verbessern. Im Alter nimmt bekanntlich die Leistung des Kurzzeitgedächtnisses ab, bei Demenzkranken ist dieser Rückgang noch stärker. Dagegen sind Erinnerungen, die die eigene Jugend oder die Jahre als junge Erwachsene betreffen, oftmals noch präsent. Sie abzurufen und dadurch Erzählungen in Gang zu bringen, die Patienten aus ihrer Lethargie reißen, das ist das Ziel des Buches „Daran erinnere ich mich gern!”
Es ist kein Comic, aber für die Illustrationen hat ein bedeutender Comiczeichner ästhetische Pate gestanden: der Franzose Jacques Loustal. Die Farben mit ihrem nostalgischen Grauschleier, als sei Bleistiftstaub über die Zeichnungen geweht, sind ebenso Merkmale seines Stils wie die leicht eckigen Physiognomien, die an die Ligne claire anknüpfen (häufiger Verzicht auf Schatten). Thomas Haubold heißt der Illustrator des Buches, und es erscheint bei der Schlüterschen Verlagsanstalt, die zwar schon mehrfach mit ambitionierten Projekten im buchkünstlerischen Bereich aufgefallen ist, aber in diesem Fall vor allem deshalb das geeignete Haus ist, weil sie auch Medizinratgeber und -fachbücher verlegt. Und kaufen sollen das Buch die Betreuer oder Verwandten von Demenzkranken. Wolf selbst half vor fast zwanzig Jahren seiner eigenen Großmutter bei der Aufzeichnung ihrer Lebensgeschichte; er kennt also die Anforderungen, die das Erinnerungsvermögen alter Menschen stellt. Seine Erfahrung als Werbegrafiker sorgt zudem für pointierte Zeichnungen.
Verfasserin von „Daran erinnere ich mich gern!” aber ist Beate Wolf, die als Caritasangestellte über langjährige praktische Erfahrung in der Betreuung dieser Gruppe verfügt. Daher weiß sie, daß die meisten Erkrankten derzeit den Geburtsjahrgängen zwischen 1920 und 1930 angehören. Entsprechend ist das Buch aufgebaut: entlang einer Zeitachse, die in den zwanziger Jahren ihren Anfang nimmt und bis zu den fünfziger Jahren reicht, um jeweils möglichst viele biographische Anknüpfungspunkte für Erinnerungen zu bieten. Jeweils eine Doppelseite widmet sich einem Fragenkomplex: Links steht ein detailreiches ganzseitiges Bild mit dem Leitthema (etwa „Wann haben Sie geheiratet?”), rechts dann ein halbes Dutzend vertiefender Fragen („Hatten Sie eine erste große Liebe?”, „Besitzen Sie noch Ihren Ehering?”), zu denen Haubold jeweils ein zugehöriges Accessoire gezeichnet hat. Die optische Erinnerung soll das Sprachvermögen unterstützen. Und je näher an der konkreten Biographie der Erkrankten, desto besser.
Deshalb lautet die erste Frage im Buch: „Was haben Sie als Kind gespielt?” Dazu sieht man einen Hinterhof, in dem drei Jungen in kurzen Hosen und gedeckten Hemden mit Murmeln spielen, während zwei Mädchen in gemusterten Kleidchen einen artdéco-geformten Kinderwagen betreuen und eine erwachsene Frau frisch gewaschene Hemden im Korb herumträgt. Die Rollenverteilung ist traditionell, das Ambiente (bröckelner Wandputz, Kopfsteinpflaster) verweist gleichfalls zeitlich weit zurück, aber das sind ja eben die Konstellationen, an die sich die heute Achtzig- bis Neunzigjährigen aus ihrer Kindheit erinnern können. Wir sind mit diesem Bild in der Weimarer Republik. Am Schluß des Buchs lautet die Leitfrage: „Wo verlebten Sie Ihren Urlaub?”, und da sind wir in den fünfziger oder frühen sechziger Jahren angelangt: Die Farben sind pastellen und heller, ein Borgward steht am Ufer eines Sees, daneben der Wohnwagen, und vor ihm tummelt sich eine entspannte Familie in der Sonne, deren Bademoden und Sonnenbrillen zusätzlich Zeitstimmung vermitteln. Wir befinden uns in der Wirtschaftswunderwelt.
Was war dazwischen? Drittes Reich und Krieg. Beides spart das Buch nicht aus, aber es will keine unangenehmen Erinnerungen wecken: Das Gedächtnistraining soll Freude bereiten. Also gibt es die Frage: „Haben Sie früher gezeltet?”, und Haubold zeichnet dazu eine Gruppe Jugendlicher, deren Kleidung Anklänge an HJ und BDM aufweist, ohne aber explizite Naziverweise zu enthalten.
Das ist gewollt, denn es hat bei Demenzkranken keinen Sinn, konfliktträchtige Themen heraufzubeschwören, und so muß auch die NS-Zeit als Lieferant wohliger Reminiszenzen dienen. Sinnlos, das zu kritisieren – hier soll nicht beschönigt werden, sondern geholfen. Bei der Frage „Gingen Sie gern tanzen?”, die auf die unmittelbare Nachkriegszeit abstellt, findet sich ein Mikrophon des Rias als Gedächtnisstütze. Später kommen auch Persil, Karneval und Waschmaschinen zum Einsatz. Kritisieren könnte man also allenfalls, daß hier ausnahmslos westlich konnotierte Erinnerungsbilder geboten werden.
Das Buch, das eine lange Einleitung enthält, in der den Käufern Hinweise auf den richtigen Umgang damit gegeben werden und auch vor übertriebenen Erwartungen gewarnt wird, ist ein extrem interessantes Beispiel für die pädagogische Wirkung von Bildergeschichten – hier einmal im Bereich der Altenpflege. Recht so, warum nicht das, was man für Schüler versucht, auch auf die immer weiter wachsende Zahl von Senioren übertragen und die jeweils benachteiligten Teile dieser Altersgruppen durch die Anschaulichkeit von Bildern fördern? Wolfs und Haubolds Buch ist hier ein erster Versuch, dem jeder Erfolg zu gönnen wäre. Dann werden wir auch nicht mehr lange auf die ersten speziellen Seniorencomics warten müssen.
Ich finde, das ist es klasse...
Ich finde, das ist es klasse Konzept, da hier Pädagogik mit Erinnerungsstärkung verbunden wird. Bei Filmen – heute sehr häufig genutzt – ist dies nicht der Fall. Comics regen dazu noch die Phantasie an.
in meinen Augen hat das Buch...
in meinen Augen hat das Buch einen nicht unerheblichen ironischen Anteil dabei.