Heute schickt mir ein Freund aus Spanien die Nachricht, daß die dortige Comicbranche in großer Sorge ist, weil achtzig Prozent der spanischen Comics illegal im Netz heruntergeladen werden können. Jetzt verstehe ich den kleinen Ausbruch besser, dem ich gestern Abend beiwohnen durfte, als Àngel de la Calle, seines Zeichens Spanier, aber mehr noch Comiczeichner, -autor, -verleger und -theoretiker, eine Bemerkung von mir über das Netz aufnahm und losschimpfte: „Reden wir doch nicht übers Internet. Wir reden hier über Comics.” Nur daß man, wenn man über Comics redet, mittlerweile auch über das Netz reden muß. Aus erfreulichen wie unerfreulichen Gründen.
Ich aber rede hier im Netz, und da muß man nicht auch noch übers Netz reden, also schreibe ich über Àngel de la Calle. Denn dieser Mann ist meine liebste Entdeckung der letzten Monate – und das will einiges heißen. Zunächst aber mal eines klargestellt: „Meine Entdeckung” soll nur ausdrücken, daß ich ihn für mich entdeckt habe. Àngel de la Calle gehört in Spanien zu den bekanntesten Akteuren, was Comics angeht, vor allem deshalb, weil er nicht nur großartige Geschichten schreibt und zeichnet, sondern auch vor mehr als zwanzig Jahren die „Semana Negra” (Schwarze Woche) in Gijón mitbegründet hat und dort bis heute die Sektion Comics verantwortet. Die „Schwarze Woche” ist ein schöner Ertikettenschwindel in gleich doppelter Hinsicht: Sie dauert länger als eine Woche, nämlich zehn Tage (jeweils Anfang Juli), und auch wenn der Name ihre ursprüngliche Konzeption noch andeutet – sie begann als Krimifestival -, hat sie längst alle literarischen Gattungen ins Programm aufgenommen. Daneben leitet Àngel de la Calle übrigens auch noch ein separates kleines Comicfestival im asturischen Avilés.
Man sieht: Er ist ein Mann von Einfluß, doch ich kannte bis vor kurzem nicht einmal seinen Namen. Dann engagierte man mich für die Moderation eines Comicgesprächs auf dem Harbour Front Literaturfestival in Hamburg, aber dabei hätte ich Àngel de la Calle auch nicht kennengelernt, denn ich war für die Begegnung des wunderbaren italienischen Zeichners Igort mit der charmanten französischen Zeichnerin Nine Antico vorgesehen. Wer das hier liest und in Hamburg wohnt, möge hingehen (16. September um 21 Uhr im Kesselhaus in der HafenCity), nur mich wird man dort nicht treffen, denn durch ein kleines Terminchaos wurde plötzlich ganz dringend ein Moderator für einen Abend mit dem deutschen Zeichner Reinhard Kleist gebraucht, den ich immens schätze. Und wer sollte neben Reinhard Kleist dabei als zweiter Zeichner auftreten? Ein mir völlig unbekannter Herr namens Àngel de la Calle.
Na, mit dem konnte ja wohl nicht so viel los sein, denn er ist Jahrgang 1958, hat also eine lange Karriere hinter sich und offenbar nichts geschaffen, was gut genug gewesen wäre, um einen deutschen Comicinteressierten zu erreichen. Dachte ich. Und irrte mich. Denn das Istituto Cervantes, auf dessen Einladung Àngel de la Calle nach Hamburg kommen würde, schickte mir zur Vorbereitung einen Band von ihm zu: „Modotti – Una mujer del siglo XX”. Nun kann ich zwar Spanisch, das ich nie gelernt habe, besser lesen als Latein, das ich durchaus gelernt habe, aber heißen soll das immer noch nicht viel. Und da „Modotti” 250 Comicseiten umfasst, hielten sich Respekt und leichter Widerwille bei mir zunächst die Waage – bis ich anfing zu lesen und nicht mehr aufhörte, bis das Buch zu Ende war.
Tina Modotti 1931 in Moskau, damals Weltzentrum der kommunistischen Bewegung. Hier beschließt die Fotografin, ihre eigene künstlerische Arbeit gegenüber den Interessen der Revolution zurückzustellen. Ihre Kamera wirft sie in den Fluß. Tina Modotti sollte nie mehr ein Bild afnehmen.
Für alle, die jetzt schon Lust bekommen haben, es auch einmal zu versuchen, mehrere Hinweis: Selbst halbwegs gut sortierte deutsche Comicanbieter im Netz haben „Modotti” nicht vorrätig. Schande über sie. Und Schande auch über die deutschen Verlage, denen das Buch, dessen erster Teil 2003 erschienen ist, offenbar genau so wenig aufgefallen war wie mir (aber ich bin ja auch kein Verleger). Lob dagegen dem Berliner Rotbuch-Verlag, der „Modotti” im nächsten Jahr auf Deutsch herausbringen wird. Wer nicht so lange warten will, kann sich wie ich ans Spanische wagen oder auch ans Italienische und Portugiesische, denn in diese Sprachen ist der Band mittlerweile übersetzt. Griechisch wird bald folgen.
Am Auslandsinteresse sieht man schon: Der Band hat etwas zu bieten, was weit über Spaniens Grenzen hinaus gern gelesen wird. Er erzählt das Leben der in Italien gebürtigen Fotografin Tina Modotti (1896 bis 1942), die aber viel mehr war als nur Künstlerin, nämlich auch noch Muse und Geliebte von Edward Weston, Freundin von Frida Kahlo und Diego Riveira, Filmschauspielerin in der Hollywood-Stummfilmära, Spionin für die Komintern und so manches mehr. Was Àngel de la Calle in seinem biographischen Wälzer ausbreitet, ist ein Panoptikum der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, mit allen politischen und kulturellen Wirren, an Schauplätzen in Mexiko, den Vereinigten Staaten und Europa (u.a. Berlin, Dessau, Paris, Moskau, Madrid), am Beispiel einer faszinierenden Frau, deren Fotografien heute zu den höchstbezahlten Werken in dieser Kunst überhaupt zählen, die aber zehn Jahre vor ihrem Tod (angeblich ein Herzinfarkt in einem mexikanischen Taxi) das Fotografieren ganz aufgab, um sich für den Kommunismus in den politischen Kampf zu stürzen, der auch ihr dann die grässlichsten Enttäuschungen bereitete.
Von jetzt an werden die Sätze wieder kürzer, denn das Vergnügen dieser Lektüre will ich nicht dadurch schmälern, zuviel über das Geschick de la Calles zu verraten, Seitenarchitektur zum Ausdruck des Gefühls- und Gesellschaftslebens zu machen, Hommagen an seine Lieblingszeichner (allen voran Hugo Pratt) unterzubringen und uns nebenbei Unmengen an Wissen zu vermitteln. Was ich nur noch erzählen möchte, ist ein bißchen von unserem gemeinsamen Hamburger Abend, an dessen Ende ich sehr viel über Àngel de la Calle wußte und trotzdem das Bedürfnis hatte, daß es noch mehr werden müßte.
Vorher aber noch zwei Sätze zu Reinhard Kleist: Er war schon rein thematisch der perfekte Partner in diesem Gespräch, denn sein neuer Comic, der noch in diesem Monat erscheinen wird, ist eine Biographie über Fidel Castro. So trafen sich zwei Künstler, die beide an der lateinamerikanischen politischen Linken interessiert sind und beide grandiose Zeichner sind. Mehr zu Reinhard Kleist zu sagen, wäre sinnlos – wer ihn noch nicht kennt, hat in Deutschland die letzten zehn Jahre Comic verschlafen, und ich werde heute nicht der Weckrufer sein. Seine Bücher bekommt man leicht.
Man muß indes sagen, daß Reinhard Kleist nur den kleineren Teil des gemeinsamen Abends mit Wort und Bild bestritten hat. Das lag einerseits daran, daß Àngel de la Calle nur drei Worte Deutsch beherrscht, wie er anschaulich vorführte: „Achtung”, „Danke” und „Palma de Mallorca”. Die ersten beiden hat er in seiner Jugend unter Franco durch die Lektüre von Kriegscomics gelernt, in denen die deutschen Nazis immer im Kampf gegen die Bolschewiken standen und also die Guten waren; das dritte Wort hat er bei deutschen Touristen aufgeschnappt, und dessen Aussprache aus dem Mund eines Spaniers war schon sehr komisch. Da aber „Achtung”, „Danke” und „Palma de Mallorca” nicht für ein Gespräch über Comics reichen, wurde alles, was Àngel de la Calle sagte, aus dem Spanischen übersetzt (sehr gut für mich, denn Spanisch lesen und Spanisch hören sind zweierlei). Und Übersetzungen dauern notgedrungen.
Aber der eigentliche Grund, warum Reinhard Kleist kaum zu Wort kam, war die Wortmächtigkeit unseres spanischen Gastes. Er hat viel zu sagen, und er sagt viel. Für einen Spanier ist zudem ein Veranstaltungsbeginn um 21 Uhr gar kein Problem, für seine deutschen Gesprächspartner und auch Teile des Publikums irgendwann schon. Das wird Àngel de la Calle aber erst bemerkt haben, als wir nach dem Ende unseres Gesprächs gegen Mitternacht gemeinsam noch etwas trinken wollten. Nicht in Hamburgs HafenCity! Der Gast aus dem lebensfrohen Süden war fassungslos.
Es hat sich aber extrem gelohnt, ihm so lange zuzuhören. Es zeigte sich ein Comicfanatiker, der in „Modotti” ein Lebenswerk gefunden hat, und der entsprechend begeistert darüber zu erzählen wußte. Nach unserem Gespräch war Àngel de la Calle natürlich auch noch bereit, seine Comics zu signieren, und da er sich schon dachte, daß man mit deren Beschaffung in Deutschland Probleme haben könnte, hatte er zahlreiche Karten mit von ihm illustrierten Motiven mitgebracht, die spontan um weitere Zeichnungen ergänzt und ans Publikum verschenkt wurden. Und man mochte seinen Augen kaum trauen, als der Künstler dafür eine ganze Batterie an Stiften und Pinseln auspackte, Farben anrührte, das Mineralwasserglas zum Aquarellieren nutzte und jedes Motiv in einem neuen Stil anging. Da war ein Meister seines Metiers am Werk, der sich erst zwei Stunden lang als begnadeter Erzähler erwiesen hatte und dann eine weitere Stunde als großer Zeichner zeigte.
Trotzdem gut, daß meine nächste Moderation in Sachen Comics verspricht, etwas schonender zu verlaufen: am kommenden Montag, dem 13. September, abends um 20 Uhr im Stuttgarter Literaturhaus. Reden werde ich da mit zwei Deutschen, dem Schauspieler Hanns Zischler und der Comiczeichnerin Friederike Groß, die zusammen einen wundervollen Comic gemacht haben: „Aus der Nachwelt”. Dazu dann mehr an dieser Stelle am Dienstag – falls in Stuttgart die Lokale nicht länger offen sein sollten als in Hamburg. Denn hätte Àngel de la Calle mich gestern noch in eine Kneipe gebracht, wäre ich jetzt wohl noch nicht wach, um zu schreiben.
Am 9. Januar 1929 wird der kubanische Revolutionär Julio Antonio Mella in Mexiko-Stadt erschossen, als er gerade mit Tina Modotti nach Hause geht. Die hier gezeigte Szene findet sich auf Seite 96 von Àngel de la Calles Buch, das aber mit diesem Mord auch anfängt. Doch erst hier erfährt man etwas über die genauen Umstände.