Nein, es wurde gestern nicht besonders spät in Stuttgart. Schon um viertel vor eins in der Nacht war ich im Bett. Aber die vier Stunden seit dem Beginn der Präsentation des Comics „Aus der Nachwelt” im Stuttgarter Literaturhaus hatten es in sich – volles Haus, blendend aufgelegte Gesprächspartner, große Aufmerksamkeit des Publikums. Aber der Reihe nach.
Daß man am Montag bei einer Veranstaltung in Stuttgart nicht auf die Minute pünktlich beginnen kann, versteht sich von selbst. Diverse Gäste kamen erst von der allwöchentlichen Montagsdemo gegen das dortige Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21″, aber immerhin kann ich mir nun etwas darauf einbilden, durch die Veranstaltung im Literaturhaus einige Demonstranten davon abgehalten zu haben, auch noch vor der Staatsgalerie gegen den Oberbürgermeister zu protestieren und ihn dort an der Heimfahrt zu hindern. Das nämlich geschah parallel zur Comicvorstellung, und diese Ereignisse nahm heute Morgen die „Stuttgarter Zeitung” zum Anlaß für einen geharnischten Kommentar. Klar, wenn es in der Heimat von Daimler-Benz und Porsche gegen Autos geht, hört der Spaß auf.
Allerdings muß man sich fragen, wer den Kommentar überhaupt geschrieben haben kann. Unter dem Publikum war die Redaktion der „Stuttgarter Zeitung” nämlich in ziemlich großer Zahl vertreten. Kunststück, saß doch auf dem Podium Friederike Groß, die das Blatt seit Jahren mit Illustrationen und Karikaturen versorgt. Nun hat sie ihren ersten Comic gezeichnet – bemerkenswert genug für eine Illustratorin. Und was für einen dann auch gleich!
Frau Groß kannte ich bis gestern nicht. Trotzdem hatte ich sofort zugesagt, als die Frage kam, ob ich den Abend moderieren könnte. Das hatte einerseits mit dem Literaturhaus Stuttgart zu tun, dessen Engagement für den Comic ich schätze, vor allem aber mit dem zweiten Gast auf dem Podium, dem Schauspieler, Schriftsteller, Rezitator, Herausgeber, kurz: Tausendsassa Hanns Zischler. Er hat den Comic „Aus der Nachwelt” geschrieben, und als ich das vor ein paar Monaten erfuhr, war ich elektrisiert, denn Hanns Zischler verdanke ich ein paar schöne Gespräche über Comics und einen Bombentip: auf den französischen Comic „Travelling Square District” von dem belgischen Zeichner Greg Shaw. Wer ihn noch nicht kennt – lesen!
Zischler, soviel weiß ich seit einigen Jahren, ist ein begeisterter Comicleser. Das heißt natürlich keineswegs, daß er automatisch auch ein bravouröser Comicautor sein muß. Ist er aber. „Aus der Nachwelt”, verlegt in Zischlers eigenem Verlag Alpheus, weil sowohl Knesebeck als auch – man höre und staune! – Reprodukt den Band abgelehnt hatten, erweist sich als hochvirtuoses erzählerische Spiel, mit einem Künstlerschicksal als Thema. Zentrale Figur ist der Maler und Graphiker Leonid Kusmin, benannt nach zwei Künstlern, die Zischler viel bedeuten, dem 1936 gestorbenen russischen Schriftsteller Michail Kusmin und dem 1945 gestorbenen gleichfalls russischen Maler Leonid Pasternak. Das Geschehen im Comic aber spielt sich weitgehend 1971 ab, als Kusmin überraschend Besuch erhält, einen Mann, der aus der Zukunft kommt und Utamor heißt.
Was verbirgt sich nun hinter diesem Namen? Das weiß nur Friederike Groß, denn sie hat ihn ausgewählt. Eigentlich sollte Utamor in Zischlers Vorstellung Awater heißen, nach der Figur aus einem Gedicht des holländischen Poeten Martinus Nijhoff (wieder einer, der Zischler viel bedeutet). Aber dann kam kurz vor Abschluß des Comics der Film „Avatar” in die Kinos, und Zischler fürchtete, daß man eine Figur mit so ähnlich klingendem Namen nur als Paraphrase auf James Camerons Akteure betrachten würde. Da er aber kurz vorher auch schon die dritte wichtige Comicfigur in „Aus der Nachwelt”, das junge Modell des Künstlers Kusmin, von Laura in Livia umbenannt hatte (weil gerade Nabokovs unsäglich schlechtes Fragment des lange geplanten „Laura”-Romans nach jahrzehntelangem Warten herausgekommen war), hatte er es nun satt, sich noch einen zweiten neuen Namen auszudenken. So wählte Friederike Groß einen Ersatz für „Awater” aus, und sie verkürzte dazu den Namen des japanischen Holzschnittkünstlers Utamaro zu Utamor, wobei darin auch „ut amor” steckt (als Hinweis auf die Liebe als Antrieb seiner Zeitreise) und das Hauffsche Märchenwort „Mutabor” aus „Kalif Storch” anklingt. Man sieht, da arbeiteten zwei Menschen zusammen, die es gerne anspielungsreich haben.
Das Schöne indes ist, daß der ganze Beziehungsreichtum von Zischlers Szenario und den Zeichnungen von Friederike Groß das Lesevergnügen nicht im Mindesten stören. Oder sagen wir besser: das Sehvergnügen, denn viel zu lesen gibt es gar nicht. Die Dialoge beschränken sich auf wenige Zeilen, und das ist doch nicht schlecht für eine Geschichte, die Zischler vor etlichen Jahren schon einmal als zweihundertseitiges Drehbuch für eine Verfilmung angelegt hatte. Drehorte, Besetzung – alles war schon gefunden, aber dann zerschlug sich das Vorhaben, und die spätere Umarbeitung der Handlung zu einer Novelle befriedigte den Autor nicht. Aber dann begegnete er just im Stuttgarter Literaturhaus bei einer Lesung Friederike Groß, die damals im Publikum saß. Beide sprachen miteinander über das Zeichnen, entdeckten ästhetische Gemeinsamkeiten – und verabredeten den gemeinsamen Comic. Nach mehr als einem Jahr Arbeit und intensivem Austausch über die Modifikationen, die diese Form der Umsetzung für die Geschichte bedeuteten, war die Sache fertig.
Schauwerte, nicht nur für die Comicfiguren selbst: Friederike Groß gestaltet die Bilder ihres Künstlers in der Manier japanischer Holzschnitte. Daß es Utamor nach dieser Frau verlangt, kann man verstehen.
Ich will jetzt gar nicht viel mehr verraten, denn das ist ein Band, den man sich selbst erschließen muß. Und immer wieder lesen wird, denn man kann darin geradezu mustergültig betrachten, wie eine Comiczeichnerin alle Mittel ihres Metiers einsetzt. Kaum glaublich, daß die 1965 geborene Friederike Groß eine Debütantin ist, die selbst auch nur wenige Comics gelesen hat. Daß man sich sofort an Dave McKeans „Cages” erinnert fühlt, also an die virtuoseste aller fiktiven Comic-Künstlerbiographien, ist somit kein Zeichen von Nachahmung, sondern davon, daß kluge Zeichner eben zu ähnlichen Bildlösungen kommen. Und so lohnt auch der vergleichende Blick in Marc-Antoine Mathieus Band „Le Dessin” oder Joann Sfars sechs „Pascin”-Hefte, um zu bemerken, wie sich im Bemühen, ein Künstlerschicksal zu erzählen, bestimmte Topoi und Codes aufdrängen. Das ist eine spannende Lehrstunde in europäischen Erzähl- und Kulturtechniken.
„Aus der Nachwelt” ist nicht annähernd so trocken, wie es nach meinen dürren Worten scheinen könnte. Das Publikum im Literaturhaus jedenfalls hatte seinen Spaß an den Bildern und den Auskünften von Friederike Groß und Zischler, die sich auch noch gegenseitig zu überraschen verstanden, etwa, als Frau Groß erläuterte, daß sie die Figur von Utamor gestalterisch an Gustav Gründgens Darstellung des Mephistos von Goethe angelehnt hat. Und wir haben so viel im Gespräch erst gar nicht ansprechen können: etwa die an japanischen Holzschnitten orientierten Bilder von Kusmin, die mit einem Mal Farbe ins schwarzweiße Geschehen bringen. Und später kommt die Farbe wieder, wenn es von 1971 in die Zukunft des Jahres 2011 geht, wo eine große Retrospektive von Leonid Kusmin zu dessen hundertstem Geburtstag gezeigt wird. Aber sie nutzt ihm nichts mehr, denn zu Lebzeiten hatte er keinen Erfolg. Und der Besucher aus der Zukunft sucht 1971 auch gar nicht ihn, sondern sein Modell Livia, in das er sich in der Ausstellung verliebt hat.
Später gibt es noch einmal Farbe – ein monochromes Ultramarin, wenn Kusmin enttäuscht in die Stadt läuft. Dort trifft er auf phantastische Passanten, die einer surrealistischen Szenerie zu entstammen scheinen, und er bewegt sich dabei unter einer seltsamen Konstruktion, für die Hanns Zischler ein Foto an Friederike Groß geschickt hatte, das eine Tarnvorrichtung zeigte, mit dem im Zweiten Weltkrieg das Brandenburger Tor vor der Bombardierung geschützt werden sollte. Doch „Aus der Nachwelt” spielt gar nicht in Berlin, sondern in der fiktiven Stadt, die allerdings einmal auch, bezeichnenderweise in einer Vision von Utamor, Züge von Stuttgart annimmt: samt dem dann fertigen Bahnhof „Stuttgart 21″ und Hochhäusern, auf denen das Toyota-Zeichen den Daimler-Benz-Stern abgelöst hat. Darüber haben wir in weiser Voraussicht am gestrigen Abend nicht gesprochen, denn wer weiß, was darauf für Reaktionen aus dem Publikum dieser aufgeheizten Stadt gekommen wären.
Leonid Kusmin geht durch Yorba, und über ihm hängen Tarnnetze, wie sie die Nazis 1943 über das Brandenburger Tor gebreitet haben. Hanns Zischler hat dieses Motiv entdeckt; die Insektenwesen auf dem Trottoir oder der schwarzgekleidete Zeichner mit dem überdimensionierten Bleistift sind dagegen wieder Zutaten von Friederike Groß.
So feierten die Anwesenden die Künstlerin aus ihrer Mitte und den hier so beliebten Hanns Zischler. Aber Lokalpatriotismus tut bei der Begeisterung für „Aus der Nachwelt” gar nichts zur Sache. Das ist schlicht einer der schönsten deutschen Comics. Im Stuttgarter Literaturhaus hängen noch bis 30. November vergrößerte Ausdrucke aller Seiten der Geschichte, die Zischler und Friederike Groß in zwei Vitrinen um Objekte ergänzt haben, die den Arbeitsprozeß am Buch erläutern. Diese Ausstellung geht dann im Februar ins Berliner Literaturhaus, und wem es bis Stuttgart zu weit ist oder wer Angst hat, beim Abriß des Bahnhofs oder in den dagegen durchgeführten Protesten unterzugehen, der reise eben meinetwegen später in die winterlich-unwirtliche Hauptstadt. Dort wird man auf der Eröffnung auch Friederike Groß und Hanns Zischler noch einmal im Gespräch über ihren Comic erleben können, und das lohnt sich. Nur der genaue Termin steht noch nicht fest.