Als ich vor mittlerweile fast achtzehn Jahre zum ersten Mal nach Leipzig kam, wartete dort im Stadtmagazin „Kreuzer” (wenn ich mich noch recht erinnere) eine Comicfigur auf mich, die ich noch nie gesehen hatte: ein untersetztes Schwein mit Krähenfüßen – den echten, nicht denen rund um die Augen – und einem reichlich schlechten Geschmack. Es war erkennbar ein Kind des Underground, Fleisch vom Fleische Robert Crumbs und dessen hemmungsloser Helden, und sein Name war Schweinevogel. Diese Figur war überall, in jeder besseren (und auch einigen schlechteren) Postille, die sich irgendwie der Alternativkultur zurechnete, zu finden. Als Zeichner der schwarzweißen Kurzepisoden oder Einzelgags zeichnete ein Mann verantwortlich, der als Schwarwel firmierte. Ich neige bis heute zum Spott aller anderen Leipziger dazu, diesen Namen auf dem „-wel” zu betonen.
Wer hinter diesem Pseudonym steckte, habe ich erst viel später erfahren: Thomas Meitsch. Kennengelernt habe ich ihn als Betreiber eines Leipziger Comicladens – ach, was sage ich „eines”: des damals ersten und einzigen Leipziger Comicladens – namens „Basement”. Wobei „kennengelernt” viel zu persönlich klingt. Ich habe ab und an bei ihm etwas gekauft, als ich endgültig in Leipzig lebte, aber daß wir nie miteinander gesprochen haben, zeigt sich ja schon daran, daß ich nicht wußte, daß dieser dunkel gekleidete Typ hinter „Schweinevogel” steckt. Dann schloß das „Basement” oder es zog irgendwo hin, wo ich es nicht mehr gefunden habe, und da es in Leipzig mittlerweile zwei neue Comicläden gibt, habe ich ihm in den letzten Jahren auch nicht groß nachgetrauert.
Schweinevogel verschwand auch, zumindest aus dem „Kreuzer”, blieb aber im Stadtbild mittels Plakaten und Flugblättern ebenso präsent wie als eigenständige Heftpublikation in den Regalen der zwei neuen Comicläden – ein Evergreen, der einzige aus dem Osten, wenn ich mal von „Mosaik” absehe. Immerhin (und das konnte man nicht nur im „Kreuzer” lesen, sondern auch in der Fachpresse) hatte Schwarwel sich zwischendurch mit Bela B von den Ärzten zusammengetan, um Comics zu verlegen, und bis heute gestaltet der Leipziger Zeichner die Platten und Plakate der Ärzte. Der ist also gut im Geschäft. Aber was ist mit Schweinevogel?
Der Held himself: Schweinevogel, begleitet von seinen regelmäßigen Sidekicks Iron Doof (oben) und Sid.
Der tauchte kürzlich in der Moritzbastei wieder auf, einer Leipziger Studenten- und Musikkneipe gleich neben dem Gewandhaus. Im großen Gastraum des tief in die Eingeweide des Untergrunds (geologisch verstanden, nicht comichistorisch) eingegrabenen Lokals werden gerne Karikaturisten und Comiczeichner ausgestellt, und nun war „Schweinevogel” Thema. Mehr als zwanzig Jahre, protzte der Begelittext, sollte die Figur schon alt sein, und an den Wänden der Moritzbastei wurden zum Beweis an die vierzig Originalzeichnungen aus diesen beiden Jahrzehnten gehängt – wie immer schwer zu besichtigen, weil davor die Tische stehen und man den Gästen ja nicht unbedingt auf den Schoß kriechen will.
Hat mich beeindruckt, was dort hing? Nö, sonst hätte ich schon darüber geschrieben, als die Ausstellung noch lief. Warum dann jetzt? Weil mittlerweile ein fetter Band erschienen ist, der sämtliche Comics versammelt, die zwischen 1987, also noch zu DDR-Zeiten, und 2007 mit Schweinevogel erschienen sind. Das summiert sich auf mehr als sechshundert Seiten, die vom Dresdner (ausgerechnet!) Holzhof-Verlag, der generell positiv durch die Pflege des DDR-Comic-Erbes auffällt, ediert worden sind. Und diesmal ist es keine Ostalgie, die hier befriedigt wird, sondern eben die Lust am alternativen Comic, am deutschen Underground, für den Schwarwel nicht steht, während sich mittlerweile Gerhard Seyfried oder Volker Reiche längst davon entfernt haben. Das nenne ich beeindruckend.
Natürlich dreht sich bei Schweinevogel einiges, anfangs gar alles, um Sex and Crime and Rock’n’Roll. Nomen est omen. Das muß ja auch so sein, wenn man sich in die Traditionslinie von Crumb stellt. Als die ersten Skizzen von Schweinevogel entstanden, war der Zeichner Mietsch gerade mal neunzehn Jahre alt. Entsprechend rauh sind sie, und die Arbeiten aus den Jahren 1987 füllen gerade mal eine Seite, von 1988 gibt es gleich gar keine. Dann aber explodierte Schwarwels Produktivität, und selbstverständlich lag das am Umbruchjahr 1989. Auch wenn Schweinevogel da schon zwei Jahre alt war, ist er ein Kind der Wende. Unter DDR-Bedingungen war nicht mehr drin als hektographierte Hefte in zweistelligen Auflagen. Knast wäre vielleicht dafür auch noch drin gewesen.
Der frühe Schweinevogel fängt den Wurm: Schwarwels Debütheft mit seinem Superstar erschien 1990 beim Opossum Verlag. Gezeichnet wurde die Seite aber schon 1989. Da waren Träume von fernen Ländern plötzlich realistisch.
Heute ist Schweinevogel ein veritabler Comic-Superheld, wenn auch nur im deutschen Kontext. Aber welche einheimische Figur kann schon auf dreiundzwanzig Jahre Lebenszeit zurückblicken? Zum großen Durchbruch hat es leider nie gereicht, aber in Leipzig sind Schwarwel und seine Hauptfigur weltberühmt. Und da sich der Zeichner nie auf gefällige Bilder hat festlegen lassen, atmet selbst der betagte Schweinevogel von heute noch die Anarchie des Anfangs. Auch das macht diese Serie einmalig.
Der Klotz von Buch, in dem man also alles findet, was das Herz eines Schweinevogel-Birdwatchers begehrt, heißt „Total-O-Rama”. Er ist Hybrid und Hybris: Assemblage von miteinander unvereinbarem Material nämlich und zugleich der nackte Wahnsinn. Wer will schon sechshundert Seiten Underground lesen? Na, vielleicht diejenigen, die auch noch zuverlässig die sogenannten Ziegelsteine kaufen, die ©Tom alle zwei Jahre mit seinen neuen „Touché”-Strips aus der taz bestreitet. ©Tom hat übrigens in Leipzig treue Anhänger, war mit seinen Comics auch schon mehrfach in der Moritzbastei zu Gast, und es wird ihm in „Total-O-Rama” von Schwarwel gedankt. Und sei es nur für die Anregung des dicken Buchs.
Schwarwel aber wünschen wir, daß er uns mit Schweinevogel weitere zwanzig Jahre in Leipzig erfreut. Eigentlich würden wir ihm auch den längst verdienten Erfolg jenseits der Stadtgrenzen wünschen, aber wer weiß? Womöglich zöge es ihn dann nach Berlin? Da läuft schon genug Volk herum, das schwarz gewandet ist und deftige Comics zeichnet. Allerdings niemand so gut wie Schwarwel. Der gehört nun mal nach Leipzig. Und ich möchte ihn da nicht missen, auch wenn wir uns noch nie gesprochen haben. Manchmal langt es ja, wenn man liest, was einer macht. Hier allemal!
Schweinevogel ist herumgekommen in Raum und Zeit: Hier gibt er den Pharao im alten Ägypten. Gezeichnet wurde das 1999.