Die mächtigste Frau der Welt, das war im Herbst 1988 für uns noch Dorit Kinkel. Nur zu viert trauten wir uns – wir, das waren Johnny Grote, Hartmut Hänsel, Michael Machatschke und ich, also immerhin lauter gestandene Donaldisten – nach Frankfurt auf die Buchmesse an den Stand des Ehapa-Verlags, um sie dort zu treffen (und mit Michael Kompa und Steffen Haug stießen im Verlauf des Gesprächs sogar noch zwei weitere Mitglieder der D.O.N.A.L.D. hinzu). Kurz zuvor, im Juni, hatte es einen Epochenbruch gegeben: Nach siebenunddreißig Jahren stand im Impressum der „Micky Maus” unter der Rubrik „Chefredaktion” erstmals nicht mehr der Name Dr. Erika Fuchs, sondern eben Dorit Kinkel, noch dazu mit dem bislang nie gebrauchten Titel „verantwortlicher Chefredakteur” (damals mußte es noch überall männlich sein). Sollte das heißen, daß Erika Fuchs zuvor unverantwortlich gehandelt hatte?
Solcherart war die Kaffeesatzleserei, die Donaldisten seinerzeit betrieben. Wir waren im Besitz der Wahrheit, wußten aber nicht viel über deren Hintergründe. Was man durch Nachschlagen in den eigenen mehr oder minder vollständigen Heftkollektionen (aber vier Donaldisten bekommen im Regelfall eine Komplettsammlung zusammen) erfahren konnte, war, daß Dorit Kinkel im Sommer 1975 ins Redaktionsteam der „Micky Maus” eingetreten war, jenes nach außen scheinbare Einfrauunternehmen, für das seit September 1951 ununterbrochen der mythische Name Erika Fuchs stand. Immerhin gab es vor 1975 schon seit einiger Zeit noch eine andere Dame im Impressum, Gerlinde Schurr, die aber ausdrücklich nur für den redaktionellen Innenteil, sprich: das verachtete „Micky Maus Magazin” mit seinen Reportagen, Fußballalbumseiten, Fernsehtips, Plattenkritiken, MMK-Nachrichten und sonstigem Humbug, zuständig war. Plötzlich jedoch tauchte neben der Chefredaktion in Gestalt der damals schon achtundsechzigjährigen Erika Fuchs auch eine Redaktion auf, die Dorit Kinkel bildete, und Gerlinde Schurr als Verantwortliche fürs Magazin wurde gleichzeitig Peter Schlecht beigesellt. Kurz darauf, zum Jahreswechsel 1975/1976 gab es einen weiteren großen Einschnitt, als das „Micky Maus Magazin” kurz vor Erreichen seiner tausendsten Ausgabe (und darum tat es einem dann doch leid) eingestellt wurde – zugunsten von „10 Comic-Seiten mehr!”, wie es von den Werbeaufklebern trompetete, die von Nummer 2/1976 an das „Micky Maus”-Heft schmückten. Und zu diesem Anlaß erweiterte sich die Redaktion unter der weiterhin amtierenden Chefredakteurin Erika Fuchs auf drei Personen: Kinkel, Schurr und Schlecht.
Wer weiterhin genau das Impressum las, der konnte verfolgen, wie Ende 1977 erst Peter Schlecht und ein halbes Jahr danach dann Gerlinde Schurr wieder verloren gingen; ihre Redaktionsarbeit in der „Micky Maus” war wohl nur Kompensation für die verlorenen Magazinredakteursposten gewesen. So blieb Dorit Kinkel schließlich als nunmehr einzige namentlich genannte Person neben Erika Fuchs, und das ging weiter bis eben 1988. Die Chefredakteurin war da schon über achtzig, und selbst wer blind an sie glaubte, konnte sich kaum noch vorstellen, daß sie tatsächlich die deutschen Texte für all die Disney-Comics schuf. Das war schon lange Aufgabe der Redakteurin Kinkel gewesen, die nunmehr also auch formal das Amt antrat, an dem die Welt von Entenhausen und damit auch die des Donaldismus hing. Und diese Dame von Welt empfing das donaldistische Quartett auf der Buchmesse ganz in Schwarz und mit rotgefärbtem Wallehaar – von der Gestalt eine veritable Walküre, in der Diktion entsprechend entschieden, aber herzensgut.
Was wissen wir von ihr übers Aussehen hinaus? Geboren wurde Dorit Kinkel am 15. Februar 1948; zu Ehapa, dem „Micky Maus”-Verlag, kam sie im Alter von fünfundzwanzig Jahren 1973, als Assistentin in der Jugendredaktion, die damals auch an der „Micky Maus” mitarbeitete, vor allem am Magazin, für das Frau Kinkel Buch- und Spielerezensionen schrieb. Daß sie überhaupt ins Verlagswesen geraten war, darf man als glücklichen Zufall betrachten, denn nach einer Lehre als Chemielaborantin hatte sie zunächst in einer Textildruckerei gearbeitet, ehe sie Stewardess wurde. Ihr Arbeitgeber, die Fluggesellschaft Atlantis, ging allerdings schon zwei Jahre später pleite („Der Firmenname war sehr typisch”, sagte Dorit Kinkel mit dem ihr eigenen trockenen Humor), und die erste offene Stelle, die sich ihr danach bot, war der Job bei Ehapa.
Dort machte sie sich mit der Zuarbeit für die „Micky Maus” derart unentbehrlich, daß sie 1974 als vollwertige Redakteurin angestellt wurde. Die Textarbeit -mit Ausnahme der Donald-Duck-Geschichten, die zunächst weiterhin alle von Erika Fuchs übersetzt wurden – war nunmehr ihre Aufgabe, und binnen weniger Jahre beschränkte sich das Wirken von Fuchs nur noch auf die Geschichten von Carl Barks, die mittlerweile durch diverse Indizes auch für Laien und den Verlag identifizierbar geworden waren. Die endgültige Wachablösung in der Redaktion wurde erstmals 1983 deutlich, als in Heft 74 der „Tollsten Geschichten von Donald Duck” als Chefredakteur Dorit Kinkel genannt wurde, während Erika Fuchs nur noch als Textverfasserin Erwähnung fand. Damit hatte die weitgehend unbekannte Verlagsangestellte die für Donaldisten interessanteste Heftreihe übernommen, und nur wenige Ausgaben später begann die Serie von Erst- und Neupublikationen zahlreicher langer Barks-Geschichten, auf die wir seit Jahren gewartet hatten.
In Nummer 97 aus dem Epochenschwellensommer 1988 aber verschwand Erika Fuchs ganz aus dem Impressum der „Tollsten Geschichten”. Das war der Grund für Hartmut Hänsel gewesen, um ein Gespräch mit Dorit Kinkel nachzusuchen (das dann im „Donaldisten” Nr. 67 erschien), und sie konnte uns beruhigen: Erika Fuchs würde weiterhin sämtliche Barks-Geschichten übersetzen, und tatsächlich kehrte ihr Impressumseintrag nur wenig später ins Heft zurück – unsere Sorge um die alte Dame mag ein bißchen dazu beigetragen haben. Dorit Kinkel jedenfalls hat zweifellos darunter gelitten, daß sie während ihrer Karriere im Schatten der großen Übersetzerin geblieben ist, obwohl nicht sie, sondern die einfache Redakteurin fast anderthalb Jahrzehnte die eigentliche Arbeit in den Disney-Heften von Ehapa geleistet hat. Und das Interview, das wir vier mit ihr führten, blieb denn auch das einzige in den gerade einmal zweieinhalb Jahren, die sie Chefredakteurin bei der „Micky Maus” blieb.
Zum Jahreswechsel 1991 verließ sie den Comicbereich. Fortan interessierte sich erst recht mehr niemand für sie. Der traurige Beweis dafür ist die Tatsache, daß der Tod von Dorit Kinkel im Alter von nur zweiundsechzig Jahren mehr als ein halbes Jahr lang unbeachtet blieb. Mich erreichte die Nachricht im Oktober 2010 über Ernst Horst, der es gerüchteweise von Jan Gulbransson gehört hatte, der es vom Disney-Zeichnerkollegen Ulrich Schröder gewußt haben soll. Schließlich bestätigte sich die traurige Nachricht durch einen Hinweis des Internetforums „Comicguide”, das die aktuelle Präsidente der D.O.N.A.L.D. Jürgen Wollina informierte.
Die Donaldisten haben Dorit Kinkel einiges zu verdanken, vor allem die Qualitätskontinuität in der „Micky Maus” während der wenigen Jahren ihrer Chefredaktion und mehr noch die massive Qualitätsverbesserung der „Tollsten Geschichten” von Nummer 78 an. Als sie mit Heft 110 auch dort ausschied, wurde das Heft im Hinblick auf Barks weitgehend uninteressant. Dabei war Barks für Dorit Kinkel nur insofern wichtig, als sie sah, wie gut dessen Geschichten beim Publikum ankamen. Für von Donaldisten geschätzte Zeichner wie Volker Reiche oder Gulbransson sah sie keine Zukunft. Nicht nur darin hat sie sich getäuscht, sondern auch mit ihrem entschiedenen Nein als Antwort auf unsere 1988 gestellte Frage, ob es jemals eine qualitätvoll gedruckte Albenreihe mit dem gesamten Barks-Werk geben werde. Vier Jahre später startete die „Barks Library”.
Die entscheidende Leistung Dorit Kinkels aber, für die sie zum zwölften Ehrenmitglied der D.O.N.A.L.D. ernannt wurde, liegt zweifellos in ihrer Bereitschaft, weiterhin Erika Fuchs übersetzen zu lassen. Daß sie mehrfach versucht war, daran etwas zu ändern, steht fest – solange Erika Fuchs arbeitete, mußte der zweiten Frau die wirkliche Anerkennung versagt bleiben, auch wenn sie in der Hierarchie des Verlags mittlerweile die erste war. Aus welchen Gründen auch immer es dennoch nie zur Ablösung von Erika Fuchs als deutsche Barks-Texterin kam, soll hier nicht interessieren. Es spricht für Dorit Kinkels Größe, sich dann doch im Schatten von Erika Fuchs klein gehalten zu haben, obwohl sie selbst bis zur Übernahme der Chefredaktion der „Micky Maus” viel übersetzt hatte. Das schönste Kompliment, so erinnerte sie sich in Frankfurt, seien Anrufe von Erika Fuchs gewesen, in denen die Grande Dame ihr mit einem bestimmten Satz zu einzelnen Kinkel-Texten zu gratulieren pflegte: „Ich hab’ nachgeguckt, ob ich die Geschichte übersetzt habe.” Dorit Kinkel, das derart von der Meisterin selbst anerkannte Double von Erika Fuchs, starb am 22. April 2010.