Vor mir liegt ein dicker Comic: „Die Bekehrung” von Matthias Gnehm. Er ist genau so dick wie „Blankets” von Craig Thompson, mit dem „Die Bekehrung” einiges gemein hat. Das ist kein schlechtes Zeichen, denn „Blankets” ist ein Meisterwerk und auch sieben Jahre nach seinem Erscheinen immer noch die intensivste Auseinendersetzung eines Comics mit christlichem Rigorismus in der Familie. Allerdings ist uns Europäern der amerikanische Mittelre Westen, wo “Blankets” angesiedelt ist, einigermaßen fern. Da überrascht religiöse Radikalität nicht mehr als andere skurrile Bräuche fremder Völker.
Aber wenn das Ganze in der Schweiz spielt? Denn “Blankets” stellt nun der 1970 geborene Schweizer Architekt und Comiczeichner Matthias Gnehm eine ähnlich intensive Geschichte an die Seite (obwohl sie mit dreihundert Seiten doch nur halb so umfangreich ausgefallen ist wie Thompsons Riesenwerk; den Rest des Volumens macht das dickere Papier aus, das die Edition Moderne gewählt hat). Im Jahr 1984 verliebt sich der vierzehnjährige Kurt in seine um ein Jahr ältere Mitschülerin Patrizia und schließt sich deshalb ihrem Gebetskreis bei einem fundamentalistischen Dorfpfarrer an. Während „Blankets” die befreiende Wirkung der Liebe gegenüber religiösen Fesseln schildert, erzählt Gnehm vom genauen Gegenteil: Kurt verfällt nicht nur Patrizia, sondern auch dem strengen Jugendkreis des Pfarrers.
Dass es dort nicht mit rechten Dingen zugeht, wird deutlich, ohne dass Gnehm es explizit machen müsste. Er verlässt nie die Erzählperspektive des unerfahrenen Vierzehnjährigen, auch wenn die Rahmenhandlung des Comics im Jahr 2009 spielt: Der nunmehr erwachsene Kurt fährt noch einmal zurück ins Heimatdorf und findet dort ein vor allem städtebaulich völlig verwandeltes Leben vor. Es ist die architektonische Seite des Zeichners, die da zu ihrem Recht kommt, und das ist schön, denn dadurch bekommt der Comic über die Grundhandlung hinaus noch eine zweite Dimension. Man liest das Buch wie einen Krimi, fast im Manga-Tempo, denn mehr als auf Dialoge setzt Gnehm auf Stimmungen – vor allem, was die zwiespältige alte Dorfwelt angeht und die mittelalterlich anmutende Religiosität neben den Freiheiten der achtziger Jahre. Die strenge Seitenarchitektur mit ihrem Grundraster aus vier gleich großen Einzelbildern, die bisweilen zu ganzseitigen oder halbseitigen Panels zusammengefasst werden, passt perfekt zu dieser geradlinigen Geschichte, in der eine angebliche Jungfernschwangerschaft die Katharsis auslöst.
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