Vor einem Jahr war ich an der Universität Kassel in die Comic-Klasse von Hendrik Dorgathen eingeladen. Da zeigte mir eine Studentin einen Comic, an dem sie gerade arbeitete: Hunderte von kleinformatigen Seiten, alle in Bleistift ausgeführt, eine Geschichte über ein junges Mädchen, das an ihrer Mutter, ihrer Schwester, den Freundinnen, überhaupt der ganzen Welt verzweifelt. Der Stil war bewusst kindlich gehalten, als wäre es wirklich die Schülerin, die da erzählt. Und was sie da erzählt! Irgendwann nämlich sitzt ein Außerirdischer in der Fußmatte (ja: “in”, nicht “auf”) zur Wohnung, und das Mädchen nimmt ihn mit in sein Zimmer. Diesem stummen Gast verdankt die Geschichte ihren Namen: „Alien”.
Heute, kaum ein Jahr später, ist der Band bei Reprodukt, einem der renommiertesten deutschen Comicverlage, erschienen, und die Zeichnerin Aisha Franz, 1984 geboren, gilt als eine der großen deutschen Comic-Hoffnungen. Weil sie aus der Flut von autobiographischen Kindheitsgeschichten durch die Skurrilität der ihren herausragt. „Alien” ist auf seinen knapp mehr als zweihundert Seiten bisweilen hochkomisch und dann wieder tieftraurig, vor allem, wenn man die Schwierigkeiten der alleinerziehenden Mutter vorgeführt bekommt, ihre zwei Töchter zu verstehen. Aber auch das ältere der beiden Mädchen sucht nach sich selbst, fängt eine Liebebeziehung mit einem Jungen an, wird dabei enttäuscht und muss doch aus ihrem Selbstverständnis als Rebellin heraus an ihm und allem anderen festhalten, was von der Mutter abgelehnt wird. Für die jüngere Schwester sind diese beiden Menschen oft fremdartiger als der Außerirdische in ihrem Zimmer.
Der Erzählton von „Alien” erinnert an Sascha Hommers „Insekt” (auch dieser Band war bei Reprodukt erschienen), nutzt aber ganz andere graphische Mittel. Die Außenseiterperspektive wird hier auch nicht nur von einer Figur, sondern von allen drei Hauptpersonen eingenommen. Und immer wieder durchbricht Aisha Franz ihre kleinteilig in Bilder gefassten Sequenzen durch stille ganzseitige Totalen mit Blicken über Wiesen, durch Zäune, auf Möbel – wie überhaupt in diesem Comic viel mehr gezeigt als geschrieben wird. Wann immer überhaupt geredet wird, ist der nächste Konflikt nicht weit.
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