Auf dem Fußweg zum Mittagessen im Münchner Restaurant Volksgarten zeigt Art Spiegelman über die Fahrbahn nach rechts: „Da geht die Dachauer Straße ab. Als ich gestern von diesem Namen hörte, habe ich gestaunt: als ob dieses Land sich Mühe geben will, mich nicht vergessen zu lasen, dass mein Vater hier nicht gerade gut behandelt worden ist.” Vladek Spiegelman ist Anfang 1945, als das Konzentrationslager Auschwitz geräumt worden war, von den Nazi nach Dachau verschleppt worden, ins dortige KZ; im Comic „Maus” seines Sohns kann man das nachlesen. Und nun ist dieser Sohn selbst in München und muss nicht nur erfahren, dass die Straße nach 1945 ihren Namen behalten hat, als wäre in dem Städtchen Dachau nicht zwölf Jahre lang Entsetzliches geschehen, sondern hört von mir auch noch, dass dort auch die Zentrale des Goethe Instituts ihren Sitz hat – jene Institution also, die sich um das Ansehen der deutschen Sprache und Kultur in der Welt bemüht.
Spiegelman ist am vorgestrigen Montag aus Angoulême angereist, wo er in diesem Jahr als Präsident das dortige Comicfestival leitete – eine große Ehre, denn der Große Preis der Stadt Angoulême, dessen Träger jeweils im Folgejahr als Präsident amtiert, ist die höchstangesehene europäische Comic-Prämierung, wenn sie auch kein Preisgeld umfasst. „Diese vier Tage waren schrecklich”, erzählt Spiegelman, „keine Sekunde Ruhe. Und erst die Arbeit vorher: Ausstellungsvorbereitung, Jury-Vorbereitung, Präsentation meines neuen Buchs ‚Meta.Maus’, das gerade in französischer Übersetzung erschienen ist.” Immerhin hat sich der Trubel gelohnt: „Meta.Maus” ist sofort nach Erscheinen in der vergangenen Woche in die französische Bestsellerliste eingestiegen.
Das wird man in Deutschland, wo das Buch im August erscheint, nicht erwarten dürfen. Und es müssen vorher ohnehin noch Kleinigkeiten geklärt werden, denn Spiegelman wird keine Erweiterung des Seitenumfangs gestatten, weil das Buch mit seinen zahllosen Abbildungen genau komponiert ist. „Was an englischem Text auf einer Seite steht, muss dort auch als deutscher Text stehen”, sagt er apodiktisch, „denn Text und Bild gehören zusammen – wie in einem Comic. Mir ist klar, dass alle Sprachen mehr Textumfang erfordern als die englische, wenn es um denselben Inhalt geht, aber da muss sich der Verlag etwas einfallen lassen. In Frankreich hat es auch geklappt: die haben eine kleinere Schrifttype verwendet.” Am kommenden Freitag erwartet Spiegelman in New York Hans Jürgen Balmes, seinen Vertrauten im Verlag S. Fischer. Dann soll alles festgeklopft werden.
Während ich dies schreibe, sitzt Spiegelman im Flugzeug zurück nach New York. Zwei intensive europäische Wochen liegen hinter ihm: erst Turin, dann Paris, Angoulême und zum Finale München, wo er keinen öffentlichen Auftritt absolviert hat. Pech für die hier verlegte „Süddeutsche Zeitung”: Am gestrigen Dienstag fand Spiegelman in deren Feuilleton einen Artikel über das Comicfestival in Angoulême, in dem mit Bedauern festgestellt wurde, dass er dort keine Interviews gegeben habe. Dazu aber wird ein Schnappschuss vom Festivalgelände abgedruckt, der den Zeichner beim Sprechen ins Mikrofon eines Reporters zeigt. Was denn nun? Gab er wirklich keine Interviews dort?
„Es war einfach zu wenig Zeit für Einzelgespräche, aber ich bin bei mehreren Pressekonferenzen aufgetreten, wo man mir natürlich Fragen stellen konnte.” Da ihn seine Frau Francoise Mouly und seine Tochter Nadja nach Angoulême begleitet haben, Französin die eine, perfekt zweisprachig die andere, hatte er keine Verständigungsprobleme. „Nur die sechzig französischsprachigen Comics, die für die Preise in Angoulême nominiert waren, die haben mir harte Arbeit bereitet. Zumal mich die letzten erst in Frankreich selbst erreicht hatten. Da habe ich beim Festival um Hilfe gebeten, so dass ich jemanden beim Lesen dabei hatte, der für Fragen bereitstand. Ich konnte ja nicht Frau und Tochter die ganze Zeit für mich lesen lassen. Francoise hatte mir vorher schon genug geholfen, als ich in New York die nominierten Titel sichtete.”
Ist er zufrieden mit den Preisträgern (wer sie sehen will, kann das hier tun: https://www.bdnet.com/catalogue_operationdetail_Palmares-Angouleme-2012–140)? „Sie müssen wissen, dass man als Präsident man gleich in zwei Jurys sitzt. In der für den Großen Preis der Stadt Angoulême, wo außerdem Veteranen der französischen Comicverlage und Vertreter der Stadt entscheiden. Und in der Jury für die derzeit neun Preise, die das Festival an französischsprachige Publikationen aus dem vergangenen Jahr vergibt. Da juriert man zusammen mit anderen Zeichnern – auf meinen Vorschlag hin war das in diesem Jahr mein Freund Joost Swarte -, mit Fachjournalisten, Comichändlern, also sämtlich neugierigen Fachleuten. Deshalb war diese zweite Juryarbeit für mich viel befriedigender als die für den Großen Preis.” Den hat mit Jean-Claude Denis ein Altmeister des französischen Comics gewonnen – wie die meisten seiner Vorgänger. Spiegelman schätzt ihn, hätte sich aber eher jemand Jüngeren oder noch besser einen Ausländer gewünscht. „Natürlich hätte man Chris Ware nehmen müssen, wenn es wirklich um die ästhetische Ausstrahlung gegangen wäre. Aber zwei Amerikaner hintereinander, das war natürlich undenkbar. Und Sie kennen ja Ware: Der ist schwierig, wenn es um öffentliche Auftritte geht. Nach meinen jetzigen Erfahrungen kann ich das gut verstehen. Aber es hätte ja auch andere gegeben: Lorenzo Mattotti vor allem, der als Italiener in Paris lebt und den Preis längst verdient hätte. Aber der war meinen Jurykollegen zu sehr Illustrator. Wie seltsam, wo doch Mattotti zwei Dutzend Comics gezeichnet hat, alle originell. Über Japaner haben wir geredet, Jiro Taniguchi zum Beispiel. Aber es musste zur vierzigsten Ausgabe des Festivals im kommenden Jahr wohl wieder jemand aus Frankreich sein. Für die internationale Wirkung ist das natürlich nicht so gut.”
Und jüngere Franzosen als Denis? „Zwei meiner Lieblinge, Lewis Trondheim und Blutch, haben den Preis schon gewonnen. Aus diesem Kreis fällt mir sonst nur noch Christophe Blain ein.” Bei der Erwähnung von Joann Sfar zeigt sich Spiegelman skeptisch, mit dem Namen von Emmanuel Guibert kann er gerade nichts anfangen.
Spiegelman wird in zwei Wochen vierundsechzig, derzeit trägt er einen elegant gestutzten Vollbart und zur traditionell schwarzen Kleidung einen schwarzen Hut, den er auch im Lokal nicht abnimmt. Für seine Zigarettenlust hat er ein Surrogat gefunden, nachdem er kaum noch Räume findet, in denen man rauchen darf: Aus einem stiftförmigen Futteral saugt er unriechbaren Nikotinqualm ein. Aber aufhören? Keinesfalls! „Sie haben bei mir etwas festgestellt, dass mir nicht mehr gestattet, alles zu essen. Wäre mir deshalb aber verboten worden zu rauchen, hätte mich diese Krankheit tatsächlich umgebracht.”
Wie haben ihm die französischsprachigen Comics gefallen, die in Angoulême Preise gewonnen haben? „Wir haben als Jury gut gearbeitet”, sagt er ohne falsche Bescheidenheit. „Schon, dass die neue französische Carl-Barks-Gesamtausgabe den Preis für die Pflege des Erbes der Comics gewonnen hat, scheint mir eine schöne Abwechslung dazu, dass in dieser Kategorie meist nur einheimische Zeichner zum Zuge kommen. Und der Hauptpreis, die ‚Goldene Bestie’, für Guy Delisle” – wer mehr zu dessen „Chronique de Jérusalem” lesen will, kann das in einem früheren Eintrag dieses Blogs tun (https://faz-community.faz.net/comic/2012/01/02/jenseits-der-grenzen-im-heiligen-land.aspx) – „ist genau richtig. Wir hatten eine neue Kategorie auszuwählen, die den Titel ‚Blicke auf die Fremde’ trägt. Da hätte Delisles Chronik über sein Jahr in Israel natürlich genau gepasst, aber gerade weil es so perfekt passte, wäre mir das wie ein Trostpreis erschienen. Deshalb haben wir in dieser Kategorie den japanischen Zeichner Yoshihiro Tatsumi mit seiner als Manga erzählten Geschichte der Manga ausgezeichnet. Das ist wirklich ein Blick auf etwas für uns Fremdes. Und Guy Delisle bekam den Hauptpreis. Den hat er schon deshalb verdient, weil ich nach der Lektüre dieses wunderbaren Buchs nie mehr das Bedürfnis haben werde, doch noch nach Jerusalem zu fahren.”
Mit seinen Ausstellungen im Rahmen des Festivals, einer Retrospektive und einer eigens von Spiegelman zusammengestellten Schau zur Ästhetik des Comics, ist der amerikanische Zeichner sehr zufrieden, vor allem mit letzterer. „Da sind alle Zeichner vertreten, die ich für wichtig halte. Und es gab keine Kompromisse. Derzeit will uns die Avantgarde der Comicforschung erzählen, dass man die Geschichte unseres Mediums nicht erzählen könnte ohne Zeichner wie Steven Ditko oder all die anderen Superheldenleute. Doch, das kann man. Und so habe ich es auch getan.”
Leider wird diese Ausstellung nicht an andere Orte wandern, während die Retrospektive noch in Paris, Köln, eventuell Rotterdam, Vancouver und im Jüdischen Museum von New York gezeigt wird. „Das ist auch deshalb schade, weil in der historischen Schau fast alles in Tischvitrinen liegt, statt an der Wand zu hängen. Und das ist viel besser für Comicarbeiten, denn die lesen Sie ja auch, indem sie aufs Buch herunterschauen. Niemand hält es waagrecht vor sich. Das müssen die Ausstellungsmacher alle noch lernen.”
Das Gespräch streift „Meta.Maus”, die Gefahren des E-Books für die Comics, die Chancen von Comics gegenüber E-Books und landet schließlich bei deutschen Städten. In München fühlt sich Spiegelman nicht allzu wohl; er mag Hamburg, und Berlin sei zumindest faszinierend. Nach Köln komme er im September das erste Mal: „Ist es schön dort?” Als er hört, dass die Stadt im Zweiten Weltkrieg zu großen Teilen zerstört worden ist, fragt er, ob es dann dort ähnlich hässlich wie in Frankfurt sei. So richtig glauben will er mein Plädoyer für Frankfurts verborgene Schönheiten nicht.
Auf dem Rückweg überqueren wir eine Ampel und wären fast in ein Auto gelaufen. Das möge er unserem Land nicht antun, bitte ich ihn, hier überfahren zu werden. Spiegelman lacht, zeigt über seine Schulter in die einmündende Straße gegenüber und formuliert eine Schlagzeile: „Art Spiegelman in der Dachauer Straße gestorben”. Sein bitterer Humor würde ihn überleben.