Wie soll das Tal der Könige denn sterben? Dort liegen doch ohnehin nur Tote. Und für das Tal der Königinnen oder die berühmten Beamtengräber dazwischen gilt doch dasselbe. Sie alle aber wurden von Menschen in den Fels am linken Nilufer gehauen, ausgemalt und schließlich verborgen, deren Nachfahren bis heute in Qurna leben, einer kleinen Stadt gegenüber von Luxor, der früheren Hauptstadt Ägyptens. Und in Qurna lebten von 1995 bis 2010 auch die Kommunikationsberaterin Édith Pointeau und der Comiczeichner Guy Nadaud. Letzterer hielt sich schon länger in Äypten auf, und der Zufall führte seine Landsfrau aus Paris in Qurna mit ihm zusammen. Die beiden verliebten sich ineinander, zogen zusammen, machten in Qurna einen Laden auf – und verließen das Dorf wieder, als die alten Häuser fast sämtlich abgerissen und die Bewohner umgesiedelt wurden. Mit dem Tod der alten Siedlung stirbt auch die Welt rund herum. Von diesen fünfzehn Jahren erzählt die „Chronik einer verlorenen Stadt”, ein zweihundert Seiten starker Comic, den die beiden Franzosen unter ihren Künstlernamen Dibou und Golo herausgeben haben (Leseprobe unter https://issuu.com/avant-verlag/docs/chronik_einer_verschwundenen_stadt/3).
Für Dibou ist es ein Debüt, Golo ist schon ein etablierter Zeichner. Vor zwei Jahren erst erschien seine große Comicbiographie über den Schriftsteller B. Traven, auch sie auf Deutsch im Avant Verlag. In Ägypten war Golo so etwas wie ein Comic-Entwicklungshelfer. In „Metro”, dem ägyptischen Comic, der an dieser Stelle vor einer Woche vorgestellt wurde, steht eine Danksagung des Zeichners an Golo. Am meisten zu danken aber hätte ihm das Gastland für diesen neuen Comic. Eine schönere Liebeserklärung an Ägypten ist schwer vorstellbar.
Doch im offiziellen Ägypten wird die Geschichte keine Begeisterung auslösen, denn so skrupellos, wie darin die Altertümerverwaltung porträtiert wird, die im Interesse des devisenbringenden Massentourismus zwar nicht über Leichen geht, aber über alle individuellen Interessen der einfachen Ägypter einfach hinwegsieht, dürfte „Chronik einer verschwundenen Stadt” als nationalschädigende Publikation betrachtet werden. Und die einfachen Ägypter kommen in diesem autobiographischen Band auch nicht gerade blendend weg – bestechlich, bequem, eingebildet sind sie. Zumindest manchmal. Viel häufiger sind sie gastfreundlich, witzig, hilfsbereit. Und man merkt ihre Herzlichkeit, die Dibou und Golo erst an diesen Ort gefesselt hat.
Die Geschichte der beiden Franzosen ist ein Requiem auf Qurna und damit auf ein ursprüngliches, wie aus der Zeit gefallenes Ägypten, das es heute kaum noch gibt. Wir lernen als Leser, was wir falsch gemacht haben, als wir auf unserer Ägyptenreise nur Augen für die Gräber der Toten und nicht für die Häuser der Lebenden hatten. Denn Letztere sind mittlerweile weg, während die Gräber geblieben sind. Wir lernen aber auch einiges über die Vergeblichkeit sozialen Engagements, wenn es den Mächtigen in einem Land nicht passt. Und wir lachen über manche Anekdoten zum Kulturzusammenstoß, die nur den Nachteil haben, dass sie in der Realität gar nicht so komisch gewesen sein dürften.
„Chronik einer verschwundenen Stadt” kostet Zeit; es ist in seiner Crumb-Ästhetik ein auf den ersten Blick simpel gemachtes Comicalbum, das sich bei der Lektüre jedoch als geradezu hinterhältig komplex erweist. Fotos werden einmontiert, Briefe, Plakate – es ist ein Montagekunstwerk, das auf diese Weise das Erzählte beglaubigt. Für jeden Touristen sollte es Pflichtlektüre ein – ob vor oder nach der Reise. Und für jeden, der neugierig ist auf einen intimen Einblick in die Alltagswelt eines Landes im Umbruch, sowieso. Denn was die Unzufriedenheit in den arabischen Staaten auslöst, auch das lernt man hier besser verstehen.
Lieber Herr Platthaus,
ich...
Lieber Herr Platthaus,
ich finde keinen anderen Weg als so mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Ich bereite für das kommende Studienjahr als DAAD-Lektor in Sofia einen Comic-Workshop vor, der sich mit “Literatur im Comic” beschäftigen soll. Oder eben andersrum, einen Hinweis haben Sie ja schon auf das “Imperium”-Cover gegeben.
Nur ganz kurz meine Frage, die mir unendlich peinlich ist: Welche deutschsprachigen Literaturcomics würden Sie denn als besonders gelungen einschätzen?
Gerne können Sie mir schreiben unter joachim.jordan@gmx.de
Das würde mich sehr freuen!
Viele Grüße,
Joachim Jordan