Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Kleine Fragen an „Große Fragen"

Sechshundert sehr ambitionierte Seiten, eine Liebeserklärung des comicaffinen Schriftstellers Clemens J. Setz und fast vierzig Euro als Kaufpreis - „Große Fragen" von Anders Nilsen kommt mit einigem Anspruch an Lese-, Aufnahme- und finanzielle Leistungsfähigkeit daher. Lohnt sich das?

Heute geht im Comicverlagsgeschäft alles, wenn es nur mit genug Anspruchsanspruch daherkommt. Ein Comic von sechshundert Seiten, als Hardcover, mit einem Inhalt, der auch in sechzehn Seiten abzuhandeln gewesen wäre (allerdings ganz anders)? Kein Problem, wir nennen es Graphic Novel, lassen es bei einem bestens beleumundeten kanadischen Comic-Verlag erscheinen (Drawn & Quarterly), vergeben die deutsche Lizenz an einen jener literarischen Verlage, die sich schon seit einigen Jahren an ambitionierten Comics versuchen (Atrium), und lassen einen jungen Shooting Star der deutschsprachigen Literatur – Clemens J. Setz – einen raunenden Satz sagen wie: „Mein Buch des Jahres – in diesem Jahr hat kein anderer Roman, der die Zumutungen der Existenz und den Überlebenskampf der Vorstellungskraft inmitten völliger Zerstörung und Sinnlosigkeit beschreibt, mich so belebt wie dieser.” Fragt sich nur, ob Setz überhaupt noch andere Bücher dieses Typs gelesen hat oder für ihn alle Literatur in diese Kategorie fällt.

Große Frage. Also passt sie zu dem Comic des neununddreißigjährigen Amerikaners Andres Brekhus Nilsen, der den Titel „Große Fragen” trägt. Er stellt darin allerdings keine einzige, denn das, was Nilsen erzählt, dreht sich um Leben und Tod und Täuschung und Manipulation und Treue und Freundschaft, also ums Alleralltäglichste. Das macht die Fragen nicht klein, aber sie sind auch nicht schon deshalb groß, weil jeder sie sich stellt. Man mag bedauern, dass es sich so verhält, aber zu großen Fragen gehören auch große Antworten. Nilsen hat keine zu bieten.

Dafür eine schön abstruse Ausgangskonstellation: Die Protagonisten seines Comics sind ein Dutzend Finken. Über ihrem Habitat, einer weiten grasbestandenen Ebene mit vereinzelten Bäumen, wirft eines Tages ein Flugzeug eine Bombe ab, die beim Aufprall nicht explodiert. Die Vögel fragen sich, was es mit diesem Ei aus dem Riesenvogel wohl auf sich habe. Doch das merken sie bald, und mit ihnen auch drei Menschen, ein paar Krähen und ein Rudel wilder Hunde.

Die Tiere sind beredter als die Menschen, aber dass ein gemeinhin als naiv verstandener Beobachter eher zur Wahrheit findet, weiß man spätestens seit Montesquieus „Lettres Persanes”.  Eine neue Idee hat Nilsen also nicht zu bieten. Wenn er seine Vögel dann sogar in eine Unterwelt vordringen lässt, in der sich das verstorbene Geflügel sammelt, wird eifrig der Orpheus-Mythos bemüht, aber leider nicht so originell wie in David Mazzucchellis „Asterios Polyp”, sondern auf die Art, wie man es von einem Kunststudenten erwarten würde, der Nielsen tatsächlich gewesen ist, als er mit „Große Fragen” begann. Das war vor fünfzehn Jahren, und gottlob hat er nicht die ganze Zeit seither auf dieses eine Buch verwendet.

Aber doch einen guten Teil davon, und man merkt, dass er währenddessen eifrig Craig Thompson, Chester Brown und Sammy Harkham gelesen hat. Thompsons Erzählstruktur, Browns Abstraktionsvermögen und Harkhams Liebe zur Metaphysik haben jeweils tiefe Spuren in Nilsens eigenem Werk hinterlassen. Wobei es „Große Fragen” leider an graphischer Eleganz fehlt, die eben zuverlässig verfehlt wird, wenn man den ganzen Werkzeugkasten eines Seitenarchitekten auspackt. Natürlich ist es toll, eine Ausklappseite in die Geschichte einzuarbeiten, aber man muss mit dieser Cinemascope-Totale auch inhaltlich etwas anfangen wollen. Nilsen wollte die Ausklappseite, sonst nichts.

Und das bietet „Große Fragen” fast überall: eine stete Behauptung großen Könnens, die aber eine große Fragwürdigkeit aufwirft, die nichts mit dem Titel zu tun hat. Ein paar kleine Fragen an das Buch: Warum schwarzweiß? Warum das hässliche Lettering (auch im Original)? Warum die manierierten Liniengeflechte als Zäsuren? Warum die dubiose Parallelexistenz von Schwänen und Schlangen und wilden Hunden? Warum der weitgehende Verzicht auf Bäume in einer Gegend, die von Eichhörnchen bevölkert ist? Warum sucht niemand ein abgestürztes Flugzeug?

Wer es sich mit seinem Stoff so leicht macht, aber die Behauptung seiner Genialität offenbar so ernst nimmt wie Nilsen, der hinterlässt nicht mehr als ein großes Fragezeichen.