Heute muss es ja eine Graphic Novel sein. Also heißt es in der Ankündigung des Graf-Verlags, eines Imprints von Ullstein, der sich nun auch auf den Comicmarkt wagt, dass es sich bei „Die Nachtbibliothek” um die erste Graphic Novel handele, die Audrey Niffenegger publiziert hat. Das stimmt, aber man könnte ja auch einfach sagen, dass es der erste Comic der neunundvierzigjährigen Erfolgsschriftstellerin ist.
Das würde wirklich überraschen, denn im Werk von Audrey Niffenegger gehören Zeichnungen fest mit dazu. Sie ist ausgebildete Künstlerin und hat ihre Karriere mit eigenen Bilderbüchern begonnen, die in Winzauflagen vertrieben wurden. Dann kam unglücklicherweise (für die Bilder) 2003 der Erfolg ihres Romans „Die Frau des Zeitreisenden”, und seitdem gilt Audrey Niffenegger als bloße Romanschriftstellerin, auch wenn ihr früher fertiggestelltes Bilderbuch „Drei Schwestern” danach dann erst groß herauskam. Das hätte man übrigens allemal Graphic Novel nennen können, aber nicht Comic.
Ihr jetziger, wirklicher Comic „Die Nachtbibliothek”, den sie 2010 für die englische Zeitung „The Guardian” gezeichnet hat (in der auch die Comics der wunderbaren Posy Simmonds erscheinen), ist also eine Rückkehr auf vertrautes Terrain des graphischen Erzählens. Was aber erzählt Audrey Niffenegger? Es geht um eine junge Frau namens Alexandra, die eines Nachts auf einen Bücherbus stößt, der sich als Bibliothek all jener Bücher erweist, die sie jemals gelesen hat. Nicht beendete Lektüren sind dadurch berücksichtigt, dass die ungelesenen Seiten weiß bleiben, dafür ist aber auch alles im Bus zu finden, was sonst von Alexandra gelesen wurde. Lebensmittelpackungen etwa, Zeitschriften natürlich, Urkunden, Briefe. Kurz gesagt: Es steckt ihr ganzes Leben in diesem Bus.
Am Morgen wird sie von Robert Openshaw, dem Bibliothekar, höflich hinaus komplimentiert. Er schließt. Und danach findet Alexandra den Bus nie wieder. Über diese Sehnsucht geht ihre Beziehung in die Brüche, und als sie nach vielen Jahren endlich wieder unerwartet auf Openshaws Bibliothek stößt, ist diese angewachsen um alles, was seit damals gelesen wurde, und natürlich will Alexandra jetzt erst recht nicht wieder weg. Es ist ja auch zu schön, im eigenen Leben zu stöbern. Doch das Anerbieten, als Bibliothekarin für Openshaw zu arbeiten, lehnt dieser ab. Und am Morgen muss Alexandra doch wieder raus.
Es wäre schade, jetzt zu erzählen, worauf das kluge Buch hinausläuft. Nur so viel: „Die Nachtbibliothek” behandelt ein Thema, wie es größer kaum gedacht werden kann, aber auf denkbar lakonische und poetische Weise. Angeblich ist der Band Teil eines nach einem Traum von Audrey Niffenegger ausgearbeiteten größeren Zyklus. Wenn das stimmt, dürfte es schwer sein, nach diesem vollendet zu Ende erzählten Buch wieder einzusetzen.
Aber musste es ein Comic sein? Nein, nein und nochmals nein. Die Bilder sind schön, sie passen auch zur Stimmung des Erzählten, aber der Zwang zur Integration von Texten ins Bild ist hier unangenehm spürbar. Schon die wechselnden Typographien in Begleit- und Sprechblasentexten sind extrem hässlich, die Aufspaltung in erzählten Text und Dialoge ist mühselig (es gibt viel zu viel erzählten Text) und mit der querformatigen Seitenarchitektur weiß die Autorin nur dann etwas anzustellen, wenn’s mit Einzelbildern ins Innere des Busses geht. Niffenegger ist einfach keine Comicerzählerin, und zu ihren Vorbildern (darunter Goya, Max Ernst, Käthe Kollwitz, Aubrey Beardsley) zählt mit Winsor McCay nur ein Comic-Künstler. Klar: Träume, Nachtreisen, Poesie – passt alles. Aber bei McCay war das alles noch neu, wie der Comic selbst als Form neu war. Jetzt wirkt es in dieser Form überholt.
Als Bilderbuch wäre „Die Nachtbibliothek” mutmaßlich ein Triumph. Aber dann käme das Problem, dass Erwachsene zu wenig Bilderbücher lesen. Aber darf das eine Entschuldigung für den Griff zur falschen Form sein?