Das Phlegma, mit der der namenlose Held von „White Line” durch die Welt zieht, könnte direkt aus Frank Woodrings surrealen „Frank”-Comics stammen. Da war es ein Kater (oder sagen wir: ein Wesen, das sich im Erscheinungsbild dem annähert, was Comicleser als traditionelle Katerfiguren à la Felix und Konsorten kennen), der durch eine phantastische Umgebung voller seltsamer Akteure spazierte. Der junge Mann, den Calle Claus uns präsentiert, ist dagegen im Hier und Jetzt zu Hause, man darf vermuten: in Hamburg, wo Claus lebt. Aber auch sein Protagonist gerät rasch in eine fremde geheimnisvolle Welt.
Auslöser ist eine Verstimmung über die Avancen, die die Frau des jungen Mannes eines Samstagnachts einem DJ macht. Da kommt die Aufforderung einer verschleierten Unbekannten, ihr zu folgen, dem enttäuschten Herrn gerade recht. Die titelgebende „White Line” ist auf den Abwegen buchstäblich der Leitfaden. Doch wie sich bald herausstellt, ist die vermutete Schöne ein Lockvogel, und so findet sich der Mann ungewollt auf dem offenen Meer, wo es auch nicht so friedlich zugeht, wie unser Bild von der christlichen Seefahrt vermuten ließe.
Nachzuerzählen, was Calle Claus in seinem Comic erzählt, würde die traumwandlerische Stimmung unmöglich machen, in die bei der Lektüre gerät. Obwohl der Band schwarzweiß ist, geht es denkbar bunt zu, und der Held ist alsbald in derart viele Schwierigkeiten verwickelt, dass er nur noch ständig auf der Flucht ist. Ruhe verspricht erst eine rätselhafte Katzendame (vielleicht die überfällige Verneigung vor Woodring), der aber auch nicht zu trauen ist, obwohl sie gänzlich ohne Arg agiert. Aber das harte Naturgesetz der Liebe ist für Menschen nur schwer erträglich.
Herausgebracht hat „White Line” die Edition 52, die mit Ulf K einen deutschen Comiczeichner der Extraklasse im Programm hat. Calle Claus hat auch schon seinen eigenen Stil, der aber noch zu sehr in Funny-Konventionen gefangen ist (https://www.edition52.de/files/Leseprobe-WhiteLine.pdf). Dafür hat er erzählerisch einen riesigen Schritt nach vorn getan, und das Kunststück, 140 Seiten lang fast ohne Dialoge zu erzählen (nur das Paar des Anfangs hat sich trotz des angedeuteten Seitensprung noch etwas zu sagen), könnte ihm wohl auch nur noch Ulf K. nachmachen. Auf das, was wir von diesem einundvierzigjährigen Zeichner erwarten dürfen, kann man gespannt sein.