1. Chris Ware: „Building Stories”
Das war ein harter Kampf für mich: Wen setzte ich auf den ersten Platz? Jacques Tardi oder Chris Ware? Ich bewundere das Werk beider Zeichner, und beider aktuelle Comics sind Bücher, wie man sie nur alle Jubeljahre findet, doch am Ende hat die schiere Begeisterung für den Experimentierwillen des Amerikaners den Ausschlag gegeben. „Building Stories” macht so viel neu, dass man sich staunend durch die insgesamt vierzehn Hefte und Bücher liest, die in der kartonierten Wundertüte von Ware enthalten sind. Mit ihnen und durch sie hindurch muss man als Leser seinen eigenen Weg zur Geschichte einer unterschenkelamputierten Frau und deren drei Wohnungen suchen. Man wird ihn finden, denn Wares Geschichte lässt einen nicht los, egal, wo man beginnt. Bisher – und wohl auch auf lange Sicht – muss man diesen Band im englischen Original (Pantheon Verlag) lesen. Aber das geht leichter, als man angesichts der vollgepackten Seiten denken mag, und einen Preis von 50 Dollar für das in China aufwendig gedruckte Konvolut kriegt sowieso kein deutschsprachiger Verlag hin (bei etlichen Anbietern ist die Box mangels Preisbindung in den Vereinigten Staaten noch viel billiger).
2. Jacques Tardi: „Moi, René Tardi, prisonnier de guerre au Stalag IIB”
Eigentlich gehörte Tardis Zweiter-Weltkrieg-Comic neben Chris Wares „Building Stories” auf Platz 1, aber ich mag es nicht, wenn man sich auf solche Weise aus der Entscheidung stiehlt. Also verliert das Herzensprojekt des französischen Zeichners gegen das Kopfprodukt des Amerikaners, aber wohl in jedem anderen Jahr wäre Tardi mein persönlicher Favorit gewesen. Seit Jahren war bekannt, dass der berühmte Zeichner an der Umsetzung der Aufzeichnungen seines Vaters René aus dessen Zeit als Kriegsgefangener in Deutschland arbeitet, nun ist der erste Band auf Französisch da (Casterman Verlag), satte 200 Seiten stark und auf eine Weise erzählt, die einfach, aber genial ist. Denn niemand anderer als der damals noch ungeborene Jacques Tardi begleitet seinen Vater als nur für diesen sichtbaren Begleiter durch die Vorkriegszeit, die drôle de guerre und schließlich den Krieg selbst. In Band 2 wird es um die Befreiung gehen und dann um das Wiederankommen in der Heimat nach fast fünf Jahren Gefangenschaft. Im kommenden April wird Tardi mit einer Ausstellung im Literaturhaus Stuttgart geehrt werden; dann dürfte „Stalag IIB” zwar noch nicht fertig übersetzt sein, aber die Edition Moderne hofft auf einen Publikationstermin noch im ersten Halbjahr. Und wir hoffen darauf, dass Tardi nach Stuttgart kommt.
3. Manu Larcenet: „Blast 3″
Im dritten Teil jener Serie, die im vergangenen Jahr den ersten Platz meiner Favoritenliste einnahm, geht es noch heftiger zur Sache als bislang. Sensible Leser seien gewarnt, das Manu Larcenet seinen Protagonisten, den wegen Mordverdacht in Untersuchungshaft sitzenden Polza Mancini, diesmal erst richtig durch die Hölle schickt. Obwohl dieser Aussteiger doch das Paradies gesucht hat, jenen titelgebenden „Blast”, einen visionären Schock, den ihm Drogen und Extremerfahrungen schenken. Es gibt Szenen, die man zum eigenen Leidwesen nie vergessen wird. Und es gibt am Schluss die Erkenntnis, dass es der französische Comicstar Manu Larcenet nicht bei der angekündigten Trilogie mit ihren bisher 600 schon Seiten belassen wird: Ein vierter Teil wird mindestens nötig sein, denn noch immer weiß man über den Mord, der Polza in Haft gebracht hat, so gut wie nichts. Das wird eine echte Herausforderung für den Reprodukt Verlag, der das Wagnis eingegangen ist, „Blast” ins Deutsche zu bringen. Der kürzlich erschienene erste Band verkauft sich dem Vernehmen nach nur mittelprächtig. Daran kann man leider sehen, dass es Grenzgänge im Comic trotz allem Graphic-Novel-Gerede in Deutschland unverändert schwer haben. (Dargaud Verlag)
4. Luke Pearson: „Hilda and the Bird Parade”
Die größte Überraschung im vergangenen Jahr. Ein junger Brite publiziert im kleinen NoBrow Verlag gleich drei Comics um das phantastische Leben der kleinen Hilda, eines Mädchens, das mit seiner Mutter erst in einem abgelegenen Tal und nun, im neuesten Band der Serie, in der großen Stadt lebt. Genaue geographische Angaben sind sinnlos, aber Pearson hat erkennbar Skandinavien als Handlungsort im Auge, auch hinsichtlich der Mythologie, aus der er reichlich für seine zauberhaften Geschichten schöpft. Auf Deutsch wird im Frühjahr der erste Band erscheinen, wie „Blast” bei Reprodukt, die damit aber kaum ein Risiko eingehen. Diese Comics mit ihren klassischen Albenlängen von um die 40 Seiten werden in Deutschland Liebhaber unter Kindern wie Erwachsenen gleichermaßen finden.
5. Joe Sacco: „Journalism”
Joe Sacco hat im Alleingang das Genre des Reportagecomics neu begründet. Normalerweise umfassen seine Bücher viele hundert Seiten zu einem sorgfältig recherchierten Thema, diesmal aber sind es zwar wieder viele hundert Seiten geworden, die jedoch aus kürzeren Reportagen bestehen, die der Amerikaner immer wieder zwischen seinen Großprojekten gezeichnet hat. Entstanden sind sie für Magazine und Anthologien in Amerika und Frankreich, und nur das Allerwenigste war bislang leicht zu finden. Deshalb ist dieser Sammelband ein Glücksfall. Er führt an die aus Saccos Großreportagen vertrauten Schauplätze wie den Balkan oder den Nahen Osten, aber zum Beispiel auch nach Indien, wo Sacco sich des Kastensystems annimmt. Egal, wo er sich aufhält, immer ist seine Position an der Seite der Benachteiligten. Dass der Band einfach „Journalism” heißt, dürfte deshalb eine Provokation sein für alle, die meinen, Journalismus habe objektiv zu sein. Warum das nicht so sein kann, erläutert Sacco in Wort und Bild aufs Anschaulichste. Dass sein deutschsprachiger Verlag, die Edition Moderne, diesen Band je übersetzen lassen wird, darf man bezweifeln. Also kaufe man das amerikanische Original (Metropolitan Books).
6. Simon Schwartz: „Packeis”
Der erste deutsche Comic in meiner Favoritenliste und gleich auch der, der auf dem Comicsalon von Erlangen im Jahr 2012 den Max-und-Moritz-Preis für die beste Eigenproduktion gewonnen hat. Völlig zu recht. Simon Schwartz hat sich seit seinem Debüt „Drüben!” erstaunlich und erfreulich weiterentwickelt, und vom autobiographischen Schema ist in seiner Geschichte über die amerikanischen Polarexpeditionen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts nichts mehr übrig geblieben außer einem starken Plädoyer gegen die Rassentrennung, die das eigentliche Thema von „Packeis” darstellt. Graphisch herausragend ist seine Adaption der Inuit-Sagenwelt. Da kommt hoffentlich noch einiges auf uns zu von diesem jungen Zeichner. (Avant Verlag)
7. Gipi: „S”
Lange auf Deutsch nichts mehr gesehen von dem Italiener, der vor fünf, sechs Jahren als später Shooting Star die europäische Comicszene aufmischte. In „S”, dessen Titel man wohl gemeinsam mit dem Verfassernamen auch als Wortspiel lesen darf (nämlich als „GPS”, weil es bei Gipi immer auch um die Topographien der Geschichten geht), steht wie bei Tardis „Stalag IIB” der eigene Vater im Mittelpunkt, und auch hier beginnt alles im Zweiten Weltkrieg. Doch bei Gipi dreht es sich um das, was Tardi (noch) ausgespart hat: die Traumatisierung und die Rückkehr in die Normalität. So wird „S” zum Porträt von Nachkriegsitalien und einer Generation, für die Alltag nie das sein kann, was er für ihre Kinder bedeutet. Und das alles kleidet Gipi in seine unglaublichen Aquarellzeichnungen, die das Licht Norditaliens auf eine Weise beschwören, die noch die tristeste Episode glanzvoll macht. (Reprodukt Verlag)
8. Charles Berberian: „Cinérama”
Gut, Charles Berberian stellt nur eine Hälfte meines Lieblingsduos in der Welt der Comics dar, aber auch ohne Philippe Dupuy, mit dem er leider eh kaum noch zusammenarbeitet, hat er in „Cinérama” ein Meisterwerk der Komik geschaffen. Es ist seine persönliche Begeisterung fürs Kino, die hier in mehreren Episoden erzählt wird und in der Konsequenz des naiven, oft kindlichen Bebachters grandios zu lesen ist, selbst wenn man wenig über die italieniaschen, französischen, arabischen oder türkischen Filme weiß, die der als Diplomatensohn aufgewachsene Berberian vorstellt. Leider wird man diesen Band wohl nie in einer anderen Sprache als Französisch lesen können, aber wer’s beherrscht, der wird auf seine Kosten kommen. (Fluide Glacial)
9. Mathieu Sapin: „Campagne présidentielle”
Hierzu gilt dasselbe wie im letzten Satz zu Platz 8: Auch Sapins albenlange Reportage (erschienen bei Dargaud) über den erfolgreichen Präsidentschaftswahlkampf von François Hollande ist zu spezifisch französisch geraten, als dass man damit je auf Deutsch rechnen dürfte. Dabei sind die Einblicke, die der sich schüchtern gebende Mathieu Sapin, der sich selbst in seinen mittlerweile zahlreichen Comicreportagen immer als zwergenhafte Witzfigur zeichnet, extrem interessant. Zudem war Sapin mit seinem Tatsachenbericht viel schneller als die gleichfalls in die Kampagne „eingebetteten” Kollegen von der schreibenden Zunft. Das allein ist schon eine große Leistung gewesen, aber diesen Comic wird man auch noch gern lesen, wenn Hollande längst Geschichte ist.
10. Flix: „Don Quijote”
Ja, bei diesem Band bin ich Partei, denn die Adaption von „Don Quijote” entstand für die F.A.Z., ehe dann ein Buch daraus wurde. Doch weil Flix es nach „Faust” wieder geschafft hat, für die Buchpublikation etliches noch einmal umzuarbeiten (was allein schon das Format erforderte), ist die Leistung auch unabhängig vom Comicstrip bewertbar. Und da liefert der Berliner Publikumsliebling nicht nur seine bislang ausgereifteste Graphik (für die er einiges bei Manu Larcenet gelernt hat, allerdings nicht aus „Blast”), sondern auch eine hochintelligente Aktualisierung der mittlerweile vier Jahrhundert alten Ritterromanparodie von Cervantes. (Carlsen Verlag) Darf es noch ein Wunsch für 2013 sein? „Schöne Töchter” möge endlich als Sammelband erscheinen.
11. André Franquin: „Bravo, les Brothers”
Ein Klassiker, erschienen erstmals 1967 und nun in Frankreich neu aufgelegt. Braucht man das? Aber allemal, denn der Dupuis Verlag hat aus dem Erfolg der großen Faksimile-Ausgaben mit den Orginalseiten von André Franquin, die der von dessen Erben betriebene Verlag Marsu Productions für ein Heidengeld anbietet, gelernt und publiziert nun auf ähnliche Weise kurze Episoden der „Spirou”-Serie, die nicht für ein 120 Euro kostendes repräsentatives Sammlerstück zu taugen scheinen. Die Ausgaben von Dupuis bieten neben einer neu kolorierten Version des Comics auch sämtliche schwarzweißen Originalseiten als Faksimile, allerdings nicht im ursprünglichen Format, dafür jedoch sehr preiswert, nämlich für unter 20 Euro, und mit reichhaltigen Begleittexten, die sogar mehr bieten als die „Versions Originals” von Marsu. „Bravo, les Brothers” ist der Auftakt zu dieser Nachdruckausreihe (ein zweiter Band ist mittlerweile schon erschienen) und vielleicht auch Versuchsballon für Volksausgaben der großen Faksimile-Ausgaben: Jedenfalls ist der Band ein Muss für Liebhaber Franquins im Speziellen und guter Comics im Allgemeinen. Natürlich nur auf Französisch.
12. Yoann Sfar: „Tokyo”
Und noch einmal ein Album aus Frankreich, diesmal allerdings mit Potential, übersetzt zu werden, weil der Zeichner kein Geringerer ist als Joann Sfar. Dass der 1970 geborene Tausendsassa neben seinen Filmprojekten immer wieder noch Zeit für Comics findet, ist bemerkenswert genug. Dass er mit „Tokyo” eine selbstreflexive Geschichte übers Comiczeichnen erzählt, die aber ganz in einer fiktiven Inselwelt angesiedelt ist (und durch ihren freizügigen Inhalt für Erwachsene gedacht) und munter Fotomontagen verwendet, das zeigt, dass Sfar mit seinem eigentlichen Medium, dem Comic, noch lange nicht fertig ist. Wer etwas über dessen Funktionsweise lernen will, während er eine vollkommen abgedrehte Geschichte liest, wird mit „Tokyo”, der nicht nach der Stadt, sondern nach einer der im typischen Sfar-Stil ätherisch gezeichneten Protagonistinnen benannt ist, bestens bedient. (Dargaud Verlag)
13. Spring # 9: „Reineke F.”
Das ist die originellste der vielen Klassiker-Comic-Adaptionen der letzten Jahre. Die Hamburger Gruppe „Spring”, die sich ausschließlich aus Zeichnerinnen zusammensetzt, hat sich Goethes Versepos „Reineke Fuchs” angenommen, und jeder Gesang wird dabei von einer anderen Künstlerin umgesetzt. Das muss man sehen, man kann es kaum beschreiben. Es ist auf jeden Fall eine höchst konsequente Weiterentwicklung der im Eigenverlag herausgegebenen Anthologiereihe „Spring”, die Jahr für Jahr mit bewundernswerter Zuverlässigkeit einen weiteren Band hervorbringt.
14. Igort: “Berichte aus Russland”
Der vorletzte Comicband des italienischen Zeichners Igort widmete sich der Schreckensgeschichte der Ukraine im zwanzigsten Jahrhundert und zeigte den Künstler von einer unbekannten Seite: als Dokumentaristen, der sich selbst auf die Spur der Geschichte gesetzt hatte. Es war in Teilen auch seine private, denn Igort – schon der Name zeigt es – ist als Kind kommunistischer Eltern im Nachkriegsitalien aufgewachsen, und die Beschäftigung mit Russland war ihm zugleich Aufarbeitung eigener Prägung. Nun ist bereits ein Nachfolgeband erschienen, der die Recherchen auf Russland ausdehnt und die Gegenwart in den Blick nimmt, konkret den Krieg im Kaukasus. Wobei als zentrales Ereignis die Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja vor sieben Jahren im Mittelpunkt steht. Igort gelingen dazu keine neuen Erkenntnisse, aber seine Bildgewalt und -poesie ist genau das Richtige für diesen Stoff. Reprodukt hat sich sich auch dieses Bandes auf Deutsch angenommen.
15. Len Wein, Jae Lee: „Before Watchmen – Ozymandias 1″
Die Fortsetzung der legendären „Watchmen”-Reihe von Alan Moore und Dave Gibbons (oder besser „die Ergänzung”, denn nun wird die Vorgeschichte der Figuren erzählt) hat zuverlässig Prügel von Lesern und Kritik bezogen. Wie konnte der DC Verlag es wagen, einen Comic, der vor einem Vierteljahrhundert Epoche gemacht hat, gegen den Willen des Autors fortzuschreiben? Nun ja, Alan Moore ist selbstsicher und selbstherrlich genug, um niemand anderem zuzutrauen, das zu leisten, was er in „Watchmen” munter gemacht hat: sich älterer Figuren zu bedienen und sie in einen neuen Kontext zu setzen. Ich bin jedenfalls dankbar, dass er es nicht verhindern konnte, denn einige der bisher erschienenen rund zwanzig Hefte sind höchst lesenswert. Wenn aber eines davon empfohlen sein soll, dann der Auftakt zur Ozymandias-Reihe. „Before Watchmen” erzählt nämlich in mehreren Serien, die jeweils einem Helden oder der ursprünglichen Vigilantengruppe „The Minutemen” gewidmet sind. Und für „Ozymandias” hat Jae Lee eine Optik gefunden, die dem auf die Antike bezogenen Gehabe ihres Protagonisten genial entspricht. Dazu ist die Seitenarchitektur wagemutig, und das löst diese Heftreihe weit vom Vorbild der strikten Ästhetik, die Gibbons dem Original gegeben hatte. Len Wein wiederum bringt seine ganze Erfahrung als Autor ins Spiel, und es fügt der Beklemmung, die man gegenüber Ozymandias schon immer empfand, noch Facetten hinzu. Auf Deutsch wird sicher mal etwas von „Before Watchmen” kommen; ob es aber ausgerechnet „Ozymandias” sein wird, bezweifele ich.
16. Yoshihiro Tatsumi: „Gegen den Strom – Eine Autobiographie in Bildern”
Der einzige Manga unter meinen Favoriten, und das hat damit zu tun, dass von Jiro Taniguchi im Jahr 2012 nichts Wichtiges auf Deutsch publiziert wurde. Dessen älterer Kollege Yoshihiro Tatsumi zeigt aber, wo Taniguchis Wurzeln liegen. In „Gegen den Strom”, einem über Jahre erarbeiteten Buch von mehr als 800 Seiten Umfang, erzählt Tatsumi seine eigene Geschichte als Mangaka und damit auch die Historie der japanischen Comics in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren, als erstmals Manga erschienen, die sich durch anspruchsvolle Stoffe an ein älteres Publikum richteten. Man darf hier keine Abenteuerhandlung erwarten, keine Liebesschnulzen oder Pop-Phänomene, also all das nicht, was das Phänomen Manga im Westen ausmacht, aber was Tatsumi bietet, ist eine sehr persönliche und unglaublich ehrliche Rekapitulation einer Epoche, die das geprägt hat, was wir heute unter Manga verstehen. (Carlsen Verlag)
17. David Small: „Stiche – Erinnerungen”
Ein heimlicher Favorit, denn der umfangreiche autobiographische Comic des Amerikaners David Small hat mit seiner deutschen Übersetzung kein großes Aufsehen erweckt, obwohl alle Leser dieses Buchs, die ich kenne (das sind leider nicht viele), davon begeistert sind. Small wuchs als schwerkrankes Kind auf, und von diesen Erfahrungen erzählt der ganz in Schwarzweiß gehaltene Band „Stiche”, dessen Titel nicht nur auf die ärztlichen Behandlungen des Jungen verweist. Dieser Einblick in eine Kindheit abseits der gewohnten Muster ist hochinteressant, und er stellt zudem ein graphisch wie inhaltlich sachlicheres Gegenstück zu David B.s Klassiker „Die heilige Krankheit” dar. Bei Small geht es nämlich nicht um psychisches, sondern physisches Leiden, und das verändert die Darstellung entscheidend. (Carlsen Verlag)
18. Golo & Dibou: „Chronik einer verschwundenen Stadt”
Die große Überraschung aus Frankreich ist dieser Comic des von mir zuvor wenig geschätzten Zeichnerveteranen Golo, den er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Dibou geschrieben hat. Beide haben sich in Ägypten kennengelernt, wo Golo in den neunziger Jahren lebte, und beide haben ihr Domizil in einem Dorf unmittelbar vor dem Eingang ins Tal der Könige gefunden. Dort aber hat die ägyptische Altertümerverwaltung in den letzten Jahren systematisch für eine Umsiedlung der Bewohner gesorgt, und dieses Sterben eines jahrhundertealten Dorfs ist das Grundthema der „Chronik”. Dazu aber tritt eine deprimierend ehrliche Schilderung der Hoffnungslosigkeit ägyptischer Zustände. Das hat dem Band den Vorwurf eines latenten Rassismus eingebracht, denn tatsächlich scheinen nur die beiden Franzosen etwas zu bewegen, während das Phlegma der eigentlichen Bewohner unüberwindbar ist. Solche Kritik verkennt indes, dass es hier um einen persönlichen Eindruck geht. Mag sein, dass der Titel mit der Genrebezeichnung als – meist sachlich verstandene – „Chronik” in die Irre führt; vom Lesen abhalten sollte das nicht, denn danach versteht man Ägypten und was dort passiert besser. (Avant Verlag)
19. Camille Jourdy: „Rosalie Blum”
Die drei Bände der kleinen Serie „Rosalie Blum” hatten mich schon bei Besuchen in französischen Buchhandlungen immer wieder bezaubert, aber mir schien das, was die junge Camille Jourdy erzählte, inhaltlich zu nahe an „Emma Bowery” von Posy Simmons oder vom Titel zu aufgesetzt an Leopold Bloom aus dem „Ulysses” von James Joyce erinnernd. Hätte ich es doch nur mal in Ruhe gelesen! Denn Jourdy hat etwas ganz Eigenes gemacht, und erfreulicherweise war die Zusammenfassung der drei Bände zu einem einzigen schönen deutschen Buch dann doch noch Anlass zur Lektüre. Das Geschehen um die schon etwas ältere einsame Rosalie Blum entfaltet ein ganzes Panorama von Figuren, die wechselseitig Beobachter und Beobachtete sind. Wie daraus ein subtiles Generationenporträt wird, das an die schönsten französischen Traditionen eines Baru anknüpft, das trägt federleicht durch den großen Umfang. (Reprodukt Verlag)
20. Felix Mertikat, Verena Klinke: „Steam Noir – Das Kupferherz 2″
Zum Abschluss ein deutscher Comic, der allein schon deshalb größte Beachtung verdient, weil er ein höchst ambitioniertes Projekt darstellt. 2011 kam der erste Teil von „Steam Noir” heraus, geschrieben von Benjamin Schreuder und gezeichnet von Felix Mertikat. Grundlage ist ein von Mertikat mitentwickeltes Computerspiel, aber dessen Steampunk-Welt ließ sich eindrucksvoll in den Comic übetragen. Dann schmiss Schreuder als Szenarist hin (nicht im Streit, sondern weil er neben den Broterwerbsarbeiten die nötige Zeit nicht mehr hatte), und ich war mir gewiss, dass damit das Aus für die Serie sicher wäre. Weit gefehlt! Mit Verena Klinke sprang eine junge Szenaristin ein, die das Niveau gehalten hat und die Geschichte nun konsequent weitertreibt. Immer noch geht es um eine staatliche Verschwörung gegen die Toten, der eine kleine Gruppe von Aufklärern auf der Spur ist. Mehr zu verraten wäre ungebührlich, denn neben allem anderen – Fantasy, Steampunk – ist „Das Kupferherz” auch ein Krimi. Dessen Abschluss noch aussteht, doch er soll nach Auskunft Mertikats noch im Jahr 2013 erfolgen. Und sonst warten wir gern auch etwas länger. (Cross Cult)