Vor einem Jahr starb Jean Giraud alias Moebius, der einflussreichste europäische Comiczeichner der letzten vierzig Jahre. Noch kurze Zeit vor seinem Tod war kaum noch etwas von seinem riesigen Werk in Deutschland verfügbar – wenn man die Moebius-Hälfte seiner Künstlerexistenz heranzieht. Von Jean Giraud, der als Zeichner des Western-Comics „Blueberry“ firmierte, gab es dagegen sogar eine Gesamtausgabe, die der Ehapa-Verlag vorbildlich ausstattete. Moebius aber, der ästhetisch weitaus wichtiger war, schien vergessen.
Dann brachte der Splitter-Verlag seine berühmteste Serie neu auf deutsch heraus: „Der Incal“, das Science-Fiction-Epos um den Privatdetektiv John Difool. Und der Verlag Cross Cult gab sich an die zahlreichen Einzelbände, die in Frankreich all die Jahre lang lieferbar geblieben und nun in schönen Neuausgaben von Moebius selbst neu herausgebracht worden waren. Darunter Klassiker wie „Arzach“ oder „Die hermetische Garage“, aber auch die ganzen wegweisenden Science-Fiction- und Fantasy-Kurzgeschichten der siebziger Jahre, deren Erzähl- und Zeichenstil den Comic verändert haben.
Sieben solcher Bände sind es bei Cross Cult schon (eine Leseprobe im Netz existiert leiser nicht, aber hier kannman sich ansehen, was verlegt ist: https://www.cross-cult.de/news-details/items/moebius-collection.html), und die jüngsten beiden sind „The Long Tomorrow“ und „“Die blinde Zitadelle“, beide erst ganz kurz vor dem Tod von Moebius in Frankreich mit neuen Vorworten, in den sich der Zeichner an die Entstehung erinnert, herausgekommen. Ausgaben letzter Hand also, und darin einige der berühmtesten und verblüffendsten Arbeiten von Moebius. So die Titelgeschichte von „The Long Tomorow“, in der jenes Zukunftsbild erstmals gezeichnet wurde, das seitdem die urbane Science-Fiction in Comic und Film – bei Ridley Scott, bei Luc Besson, bei James Cameron, um nur wenige zu nennen – gleichermaßen prägt. Oder „Anflug auf Centauri“, wo Moebius seinen eigenen Stil mit dem des Freundes Philippe Druillet verschmolz.
Man kommt aus dem Staunen über diese Phantasien gar nicht wieder heraus. Und auch wenn etliches thematisch zeitgebunden wirkt (die oft spürbare Angst vor dem Atomkrieg etwa), so sind andere Geschichten gerade heute erst richtig aktuell geworden. Wenn Moebius etwa 1978 in „Albtraum in weiß“ von fremdenfeindlicher Gewalt erzählt (und auch von der Zivilcourage, die sie verhindern kann), so könnte das auch als direkter Kommentar zur gegenwärtigen französischen Zwangspolitik gegenüber den Roma entstanden sein.
Es gibt eine Lovecraft-Horrorhommage namens „Ktulu“, die ihren Stil auf der letzten der fünf Seiten drastisch wechselt und in jene malerische Ästhetik übergeht, die Moebius abseits seiner Comics kultiviert hat. Er konnte eben alles, aber er kombinierte auch alles, was jede noch so kurze Episode (die kürzeste umfasst gerade mal zwei Seiten) zu einem graphischen Abenteuer macht. Man weiß nie, was beim Umblättern wartet.
Und so sind die beiden Bände das schönste Gedenken, das sich ein Mann wie Moebius wünschen konnte. Die Neugier auf den nie auszurechnenden Zeichner bleibt wach. Selbstverständlich gibt es wie immer, wenn er selbst seine Szenarien schrieb, einiges an den Stoffen zu bemängeln – dieses Zeichengenie war kein großer Erzähler (oder nur sehr selten wie in „Mister Blueberry“), aber die Freiheit, die er in die Comics brachte, ist auch in der assoziativen Weise zu spüren, mit der er geschrieben hat. Einen wie ihn werden wir nie wieder haben. Wer macht in Deutschland nun endlich das wahre Opus magnum, die sechsbändige Autobiographieparodie „Inside Moebius“?